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Full text of "Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin"

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HARVARD  COLLEGE 
LIBRARY 


FROM  THB  BBQUBST  OP 

THOMAS  WREN  WARD 


Tmwnr  of  Hamnl  CoO^t 
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ABHANDLUNGEN 


DER 


KÖNIGLICH  PREUSSISCHEN 


AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 


1902. 


ABHANDLUNGEN 


DER 


KÖNIGLICH  PREUSSISCHEN 


AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN 


AUS  DEM  JAHRE 

1902. 


MIT  21  TAFELN. 


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BERLIN  1902. 


VERLAG  DER  KÖNIGLICHEN  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 


IN  COMMISSION  BEI  GEORG  REIMER. 


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Berlin,  gedruckt  in  der  Reichsdruckerei. 


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Inhalt. 


Öffentliche  Sitzungen S.  vii— viii. 

VerzeichDifs  der  im  Jahre  1902  gelesenen  Abhandlungen S.  ix— xviii. 

Bericht  über  den  Erfolg  der  Preisausschreibungen  für  1902  und  neue 

Preisausschreibungen S.  xviii— xxri. 

Verzeichnifs  der  im  Jahre  1902  erfolgten  besonderen  Geldbewilligungen 
aus  akademischen  Mitteln  zur  Ausfuhrung  wissenschaftlicher  Un- 
ternehmungen      S.  XXII— XXVI. 

Verzeichnifs  der  im  Jahre  1902  erschienenen  im  Auftrage  oder  mit 
UnterstrUzung  der  Akademie  bearbeiteten  oder  herausgegebenen 

Werke S.  xxvii— xxix. 

Veränderungen  im  Personalstande  der  Akademie  im  I^ufe  des  Jahres 

1902 S.  XXX— XXXI. 

Verzeichnifs  der  Mitglieder  der  Akademie  am  Schlüsse  des  Jahres  1902  S.  xxxii  — xli. 


Du  u  ML  er:    Gedächtnifsrede  auf  Paul  Scheffer -Boichorst Ged.  Red.  I.  S.  1— 16. 

Schmidt,  E. :    Gedächtnifsrede  auf  Karl  Weinhold »       »     IL  S.  1—15. 

Z  IHM  eh:    Gedächtnifsrede  auf  Johannes  Schmidt »       •   III.  S.  1—10. 


Abhandlungen. 
Physikalisch -mathematische  Classe. 

Physikalische  Abhandlungen. 

Branco:    Das  vulcanische  Vorries  und  seine  Beziehungen  zum  vulca- 

nischen  Riese  bei  Nördüngen.     (Mit  1  Tafel) Abb.  1.  S.  1-132. 

Philosophisch -historische  Classe. 
Conze:    Kleinfunde  aus  Pergamon.     (Mit  5  Tafeln) Abb.  1.  S.  1— 28. 


/ 


VI 

Anhang. 

Abhandlungen  nicht  zur  Akademie  gehöriger  Gelehrter. 

Physikalische  Abhandlungen. 

C  RuNGK  und  F.  Paschen:    Uher  die  Strahlung  des  Quecksilbers  im 

magnetischen  Felde.     (Mit  b  Tafeln) Abh.  I.     S.  I— 18. 

M.  Sabitrr  und   R.  Hetmons:     Die  Variationen    bei  Artemia  salina 

Leach.  und  ihre  Abhängigkeit  von  äufseren  Einiliissen  ....     Abh.  II.  S.  1—62. 

W.Krause:    Ossa  Leibnitii.     (Mit  I  Tafel) Abh.  III.  S.1-10. 

H.  ViRCHOw:    über  Tenon*schen  Raum  und  Tenon'sche  Kapsel.    (Mit 

2  Tafeln) Abh.  IV.  S.  1-48. 

N.  Gaidukov:    über    den   Einfliifs  farbigen   Lichts   auf  die  Färbung 

lebender  Oscillarien.     (Mit  4  Tafeln) Abh.  V.   S.  1-36. 

Philosophische  und  historische  Abhandlungen. 

H.  Schafer:    Ein  Bruchstück  altägyptischer  Annalen.    (Mit  2  Tafeln)     Abh.  I.    S.  1— 41. 
W.  Stieda:    Über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter  .     .     Abh.  II.  S.  1—58. 


Jahr  1902. 


Öffentliclie  Sitzungen. 


Sitzung  am  23.  Januar  zur  Feier  des  Geburtsfestes  Seiner 
Majestät   des   Kaisers   und   Königs   und   des   Jahrestages 

König  Friedrich's  11. 

Der  an  diesem  Tage  voi*sitzende  Secretar  Hr.  Di  eis  eröffnete 
die  Sitzung  mit  einer  Festrede  über  »Wissenschaft  und  Romantik«. 

Darauf  wurden  die  Jahresberichte  erstattet:  über  die  »Samm- 
lung der  griechischen  Inschriften«  —  über  die  »Sammlung  der 
lateinischen  Inschriften«  —  über  die  » Aristoteles -Commentare«  — 
über  die  »Prosopographie  der  römischen  Kaiserzeit«  —  über  die 
»Politische  Correspondenz  Friedrich's  des  Grofsen«  —  über  die 
»Griechischen  Münz  werke«  —  über  die  »Acta  Borussica«  —  über 
das  »Historische  Institut  in  Rom«  —  über  den  »Thesaurus  linguae 
latinae«  —  über  die  »Ausgabe  der  Werke  von  Weierstrafs«  — 
über  die  »Kant -Ausgabe«  —  über  die  »Ausgabe  des  Ibn  Saad«  — 
über  das  »Wörterbuch  der  aegyptischen  Sprache«  —  über  den 
»Index  rei  militaris  imperii  Romani«  —  über  die  »Ausgabe  des 
CJodex  Theodosianus «  —  über  die  »Geschichte  des  Fixsternhim- 
mels« —  über  das  »Thierreich«  —  über  das  »Pflanzenreich«  — 
über  die  »Ausgabe  der  Werke  Wilhelm  von  Humboldt's«  —  über 
die  »Humboldt-«,  die  »Savigny-«,  die  »Bopp-«  und  die  »Hermann 
imd  Elise  geb.  Heckmann  Wentzel«- Stiftung.  In  dem  Bericht  über 
die  zuletzt  genannte  Stiftung  waren  als  Bestandtheile  enthalten  die 
Berichte  über  die  »Ausgabe  der  griechischen  Kirchenväter«  und  über 


VIII 


das  »Wörterbuch  der  deutschen  Rechtssprache«,  sowie  ein  vor- 
läufiger Bericht  über  eine  im  Sommer  1901  ausgefiihite  Forschungs- 
reise im  westlichen  Kleinasien  von  Pro£  Dr.  A.  Philippson. 

Zum  Schlufs  belichtete  der  Vorsitzende  über  die  seit  dem  letzten 
Friedrichs -Tage  (24.  Januar  1901)  in  dem  Personalstande  der  Aka- 
demie eingetretenen  Veränderungen. 

Sitzung  am  3.  Juli  zur  Feier  des  Leibnizischen  Jahrestages. 

Hr.  Wald ey er,  als  Vorsitzender  Secretar,  eröffnete  die  Sitzung 
mit  einer  Ansprache,  welche  die  Entstehung  der  Internationalen 
Association  der  Akademien  zum  Gegenstand  hatte. 

Darauf  hielten  die  seit  dem  letzten  Leibniz-Tage  (4.  Juli  1901) 
neu  eingetretenen  Mitglieder  der  philosophisch  -  historischen  Classe 
HH.  Dressel  und  Burdach  ihre  Antrittsreden,  die  von  den  HH. 
Di  eis  und  Vahlen  als  Secretaren  der  Classe  beantwortet  wurden. 
Das  gleichfalls  seit  dem  letzten  Leibniz-Tage  neu  eingetretene  Mit- 
glied der  philosophisch -historischen  Classe  Hr.  Zimmer  war  durch 
Krankheit  verhindert,  der  Sitzung  beizuwohnen  und  seine  Antritts- 

« 

rede  zu  halten. 

Ferner  wurden  Gedächtnifsreden  auf  drei  der  in  den  letzten 
Jahren  veretorbenen  Mitglieder  der  Akademie  gehalten,  von  Hm. 
Zimmer  (verlesen  von  Hrn.  Diels)  auf  Johannes  Schmidt,  von 
Hm.  Erich  Schmidt  auf  Karl  Weinhold  und  von  Hrn.  Dumm  1er 
auf  Paul  Scheffer-Boichorst. 

Schliefslich  verkündete  der  Vorsitzende  das  Ergebnifs  der  Aus- 
schreibung des  akademischen  Preises  von  1898,  welcher  abgeändert 
für  1906,  und  der  Preisaufgabe  aus  dem  Cothenius'schen  Legat,  die 
unverändert  für  1905  erneuert  wurde,  eine  neue  akademische  Preis- 
aufgabe für  1905  und  einen  Beschlufs  der  philosophisch-historischen 
Classe  betreffend  die  Eduard  Gerhard -Stiftung. 


IX 


Verzeidmifs  der  im  Jahre  1902  gelesenen  Abhandlungen. 

Physik  und  Chemie. 

Lummer,  Prof.  0.,  und  Dr.  E.  Gehrcke,  über  den  Bau  der  Queck- 
silberlinien, ein  Beitrag  zur  Auflösung  feinster  Spectrallinien. 
Vorgelegt  von  Kohlrausch.     (Ol.  9.  Jan.;  N.  Ä) 

Fischer  und  H.  Leuchs,   über  Serin  und  Isoserin.     (Cl.  30.  Jan.; 

S.  B.) 
Runge,  Prof.  C,  und  Prof  F.  Paschen,   Ober  die  Strahlung  des 
Quecksilbers  im  magnetischen  Felde.     Vorgelegt  von  Planck. 
(G.S.  6.  Febr.;  AhL) 

Warburg,  über  den  Geschwindigkeitsverlust,  welchen  die  Katho- 
denstrahlen beim  Durchgang  durch  dünne  Metallschichten  er- 
leiden.    (CL  13.  März;  S.B.) 

Fischer  und  Dr.  F. Weigert,  Synthese  der  a,€-Diaminocapron- 
säure.     (Cl.  13.März;.S.ß.) 

van't  Hoff,  Prof  W.  Meyerhoffer  und  F.  G.  Cottrell,  Untersu- 
chuugen  über  die  Bildungsverhältnisse  der  oceanischen  Salz- 
ablagerungen, insbesondere  des  Stafsfurter  Salzlagers.     XXV. 

(CL  13.März;*S.iJ.) 

.. 
Landolt,  über  kleine  Änderungen  des  Gesammtgewichts  chemisch 

sich  umsetzender  Körper.     (G.S.  20.  März.) 

van't  Hoffund  A.  O'Farrelly,  Untersuchungen  über  die  Bildungs- 
verhältnisse der  oceanischen  Salzablagerungen,  insbesondere 
des  Stafsfmter  Salzlagers.    XXVL    (G.S.  10.  April;  .S.Ä) 

Runge,  Prof  C,  und  Prof  F.  Paschen,  über  die  Zerlegung  einander 
entsprechender  Serienlinien  im  magnetischen  Felde.  Vorge- 
legt von  Planck.     (G.S.  1 0. April;  iJ.ß.) 

b 


Kubierschky,  Dr.  K.,  über  ein  eigentliürnliches  Salzvorkommen  im 
sogenannten  Magdeburg  -  Halberstadter  Becken.  Vorgelegt 
von  van't  Hoff:    (Cl.  17.  April;  S.  B.) 

Planck,  zur  elektromagnetischen  Theorie  der  Dispersion  in  isotropen 
Nichtleitern.    (Cl.  1 .  Mai ;  N.  B) 

Kohlrausch,  über  die  Temperaturcoefficienten  der  Ionen  im  Wasser, 
insbesondere  über  ein  die  einwerthigen  Elemente  umfassen- 
des Gesetz.     (Cl.  29. Mai;  S.B.) 

Kohlrausch  und  Dr.  II.  von  Steinwehr,  weitere  Untersuchungen 
über  das  Leitvermögen  von  Elektrolyten  aus  einwerthigen 
Ionen  in  wässeriger  Lösung.     (Cl.  29.  Mai;  S.B) 

Kutscher,  Dr.  F.,  zur  Kenntnifs  der  Amidosäuren  der  Reihe 
C„Il2„  +  iN02.   Vorgelegt  von  Engelmann.     (Cl.  29.Mai;  S.B.) 

Fischer  und  M.  Slimmer,  über  asymmetrische  Synthese.  (G.S. 
5.  Juni;  S.B.) 

Runge,  Prof.  C,  und  Prof.  F.  Paschen,  über  die  Zerlegung  ein- 
ander entsprechender  Serienlinien  im  magnetischen  Felde. 
Zweite  Mittheilung.  Vorgelegt  von  Planck.  (Cl.  26.  Juni;  S.B) 

van't  Hoff  und  G.  Bruni,  Untersuchungen  über  die  Bildungsver- 
hältnisse der  oceanischen  Salzablagerungen,  hisbesondere  des 
Stafsfurter  Salzlagers.    XX VE.    (G.S.  10.  Juh;  Äl^.) 

Ilolborn,  Prof  L.,  und  Dr.  F.  Henning,  über  die  Zerstäubung 
und  die  Rekrystallisation  der  Platinmetalle.  Vorgelegt  von 
Kohlrausch.     (G.S.  24. Juli;  S.B.  31. Juli.) 

von  Hefner- Alteneck,  über  Verbesserungen  an  der  Lichteinheit 
und  an  einfachen  Photometern.     (G.S.  23.0ct.;  S.B) 

van't  Hoff,  Untersuchungen  über  die  Bildungs Verhältnisse  der 
oceanischen  Salzablagerungen,  insbesondere  des  Stafsfurter 
Salzlagers.     XXVHI.     (Cl.  30.  Oct.;  S.  B) 

War  bürg,  über  den  Einflufs  der  Temperatur  auf  die  Spitzenent- 
ladung.    (Cl.  27.Nov.;N./^.) 


XI 


Landolt,  Untersuchungen  über  die  Änderungen  des  Gesammtge- 
wiclite  bei  cliemischen  Flüssigkeitsreactionen.    (Cl.  ll.Dec.) 

van't  Hoff  und  Prof.  W.  Meyerh offer,  Untersuchungen  über  die 
Bildungsverhältnisse  der  oceanischen  Salzablagerungen.  XXIX. 
(CL  ll.Dec;  .S.Ä) 

Mineralogie  und  Geologie. 

Sachs,   Dr.  A.,   über  Anapait,   ein   neues   Kalkeisenphosphat  von 

Anapa  am  Schwarzen  Meere.     Vorgelegt  von  Kleui.     (Cl. 

9.  Jan.;  S.B.) 
Klein,  optische  Studien  IL     (C\.  13.  Febr.;  S.B.) 
Sachs,  Dr.  A.,  Beiträge  zur  Kenntnifs  der  Krystallform  des  Lang- 

beinits    und  zur  Auffassung  der  Tetartoedrie  im   regulären 

System.    Vorgelegt  von  Klem.     (G.S.  10.  April;  S.B.) 
Romberg,  Dr.  J.,  .geologisch -petrographische  Studien  im  (lebiete 

von  Predazzo.    I.     Vorgelegt  von  Klein.    (Cl.  29.  Mai;  S.B. 

1 2.  Juni.) 
Baumhauer,  Prof.  H.,  über  einen  neuen,  flächenreichen  Krystall 

von  Seligmannit.  Vorgelegt  von  Klein.  (G.S.  5.  Juni;  N. /i.) 
Klein,  Totalreflectometer  mit  Fernrohr-Mikroskop.  (Cl.  1 2.  Juni;  N.  B.) 
Romberg,  Dr.  J.,   geologisch -petrographische  Studien  im  Gebiete 

von  Predazzo.    IL    Vorgelegt  von  Klein.    (Cl.  12. Juni;  S.B. 

26.  Juni.) 
Tornquist,  Prof  A.,  Ergebnisse  einer  Bereisung  der  Insel  Sardinien, 

Vorgelegt  von  Branco.     (G.S.  lO.JuU;  »S. Ä.) 
Sachs,  Dr.  A.,  über  die  Krystallform  des  Rothnickelkieses.    Vor- 
gelegt von  Klein.     (Cl.  17.JuU;.S.Ä) 
Branco,  über  die  neueren  Ergebnisse  der  geologischen  Erforschung 

des  Ries  bei  Nördlingen.    (Cl.  3 I.Juli.) 
Klein,  über  die  am  7.  Mai  1902  vom  Vulcan  Soufriere   auf  St. 

Vincent  ausgeworfene  vulcanische  Asche.  (G.S.  23.0ct.;  S.B.) 

b* 


XII 


von  Wolff,  Di\F.,  Vorstudien  zu  einer  geologisch -petrographisclieii 
Untersuchung  des  Quarzporphyrs  der  Umgegend  von  Bozen 
(Südtirol).    Vorgelegt  von  Klein.    (G.S.  6, Nov.;  S.B.) 

Branco,  das  vulcanische  Vorries  und  seine  Beziehungen  zum  Riese 
bei  Nördlingen.    (G.S.  IS.Dec;  Äbh.) 

Botanik  und  Zoologie. 

Schulze,  über  die  Hexactinelliden  -  Gattung  i4pÄraea///sfes  J.K.Gray. 

(G.S.  16.  Jan.) 
Mob  ins,  über  die   Pantopoden  oder  Meerspinnen   der  Deutschen 

Tiefsee -Expedition.    (G.S.  20.  Febr.) 
Engler,  über  die  Vegetations Verhältnisse  des  im  Norden  des  Nyassa- 

Sees  gelegenen  Gebirgslandes.    (Cl.  27.  Febr.;  *S\  Ä) 
Iloltermann,  Prof.  C,  anatomisch-physiologische  Untersuchungen  in 

den  Tropen.   Vorgelegt  von  Schwendener.  (Cl.  12.  Juni;  S.  B.) 
Samter,  Dr.  M.,  und  Dr.  R.  Heymons,  die  Variationen  bei  Arteinia 

salina  Leach.  und  ihre  Abhängigkeit  von  äufseren  Einflüssen. 

Vorgelegt  von  Schulze.     (Cl.  17.  Juli;  Ahh.) 
Schw^endener,  über  den  Öffhungsmechanismus  der  Makrosporan- 

gien  von  Selaginella.     (G.S.  20.Nov.;  »S. /l) 

Anatomie  und  Physiologie. 

(),  Ilertvvig,  über  eine  neue  Vorrichtung  zum  Photographiren  der 
Ober-  und  Unterseite  wagerecht  liegender  kleiner  Objecte 
und  über  eine  mit  Hülfe  derselben  angestellte  Untersuchung 
von  einzelnen  Stadien  aus  der  Entwickelung  des  Froscheies. 
(G.S.  24. April;  &!?.) 

Munk,  über  den  Einflufs  der  Sensibihtät  auf  die  Motilität.  (G.S. 
5.  Juni.) 

Engelmann,  über  die  Verwendung  von  Gittern  statt  Prismen  bei 
Mikrospectralapparaten.     (Cl.  26.  Juni.) 


xni 


Siedentopf,  Dr.  H.,  über  ein  Mikrospectralpliotonieter  nacli  Engel- 
mann  mit  Gitterspectrum.  Vorgelegt  von  Engelmann.  (Gl. 
26.  Juni;  ÄÄ) 

Siedentopf,  Dr.  H.,  über  ein  Mikrospectralobjectiv  nach  Engel- 
maim  mit  ausklappbarcn  geradsichtigen  Gittern  nach  Thorp 
und  ausklappbarem  Polarisator.  Vorgelegt  von  Engelmann. 
(Gl.  26.  Juni;  S.  B.) 

Friedenthal,  Dr.  IL,  neue  Versuche  zur  Frage  nach  der  Stellung 
des  Menschen  im  zoologischen  System.  Vorgelegt  von  Engel- 
mann.    (G.S.  10.JuH;N.ß.) 

Hcnsen,  das  Verhalten  des  Resonanz -Apparates  im  menschlichen 
Ohr.     (Gl,  17.  Juli;  Ä  B.  24.  Juh.) 

Krause.  Prof.  W.,  Ossa  Leibnitii.  Vorgelegt  von  Waldeyer.  (G.S. 
24.  Juli;  ^6Ä.) 

Gaidukov,  Dr.  N.,  über  den  Einflufs  farbigen  Licht«  auf  die  Fär- 
bung lebender  Oscillarien.  Vorgelegt  von  Engelmann.  (Gl. 
31.JuH;  Ahh.) 

Virchow,  Prof  H.,  über  Tenon'schen  Raum  und  Tenon'sche  Kapsel. 
Vorgelegt  von  Waldeyer.    (Gl.  3  I.Juli;  Ahh.) 

9 

Kopsch,  Dr.  F.,  die  Darstellung  des  Binnennetzes  in  spinalen  Gan- 
glienzellen und  anderen  Körperzellen  mittels  Osmiumsäure. 
Vorgelegt  von  Waldeyer.     (Gl.  31.  Juli;  S.B.) 

Waldeyer,  über  den  feinern  Bau  des  menschlichen  Eies.  (G.S. 
1 8.  Dec.) 


Astronomie,  Geographie  und  Geophysik. 

Helmert,  Dr.  Hecker's  Bestimmung  der  Schwerkraft  auf  dem  At- 
lantischen Ocean.    (Gl.  13.  Febr.;  S.B) 

Hartmann,  Prof  J.,  spectrographische  Geschwindigkeitsmessungen 
an  Gasnebeln.    Vorgelegt  von  Vogel.    (Gl.  27. Febr.;  ^\/?.) 


XIV 


Furtwängler,  Dr.  Ph.,  über  die  Schwingungen  zweier  Pendel  mit 
annähernd  gleicher  Seh wingungsdauer  auf  gemehisamer  Unter- 
lage.   Vorgelegt  von  Ilelmert,    (Cl.  27.Kebr.;  .S.  ii.) 

Vogel,  über  die  Bewegung  des  Orionnebels  im  Visionsradius.    (Cl. 

A  SS  mann,  Prof.  R.,  über  die  Existenz  eines  wärmeren  Luftstromes 
in  der  Höhe  von  10  bis  15  km.  Vorgelegt  von  v.  Bezold.  (Cl. 
l.Mai;.S.Ä) 

von  Bezold,  zur  Thermodynamik  der  Atmosphäre.  VI.  Mittheilung. 
(Cl.  12.  Juni.) 

von  Richthofen,  geomorphologische  Studien  aus  Ostasien.  HI. 
(G.S.  10.Juli;.S.Ä  31.Juh.) 

Helmert,  über  die  Reduction  der  auf  der  physischen  Erdoberfläche 
beobachteten  Schwerebeschleunigungen  auf  ein  gemeinsames 
Niveau.    Ei-ste  Mittheihmg.    (Cl.  17.  Juh;  .S.Ä) 

Auwers,  Ergebnisse  aus  Vergleich ungen  der  Zonencataloge  der 
iVstronomischen  Gesellschaft  unter  einander  und  mit  dem 
Romberg'schen  Catalog  fiir  1875.    (Cl.  13. Nov.) 

Auwers,  Ergebnisse  einer  Vergleichung  des  Toulouser  Sterncatalogs 
fiir  die  Zone -4-4®  bis -f- 11®  mit  gleichzeitigen  Bonner  Beob- 
achtungen.   (G.S.  20. Nov.) 

Vogel,  eAurigae,  ein  spectroskopischer  Doppelstem.  (Cl.  27. Nov.; 
.S.  B.) 

Vogel,  der  spectroskopische  Doppelstern  o  Persei,  (G.S.  18.  Dec; 
S.  B.) 

Mathematik  und  Mechanik. 

Fuchs,  über  Grenzen,  hiiierhalb  deren  gewisse  bestimmte  Integrale 
vorgeschriebene  Vorzeichen  behalten.    (Cl.  O.Jan.;  S.B) 

Schur,  Dr.  J.,  über  einen  Satz  aus  der  Theorie  der  vertauschbaren 
Matrizen.    Vorgelegt  von  Frobenius.    (Cl.  13.Febr.;  iS.Ä) 


XV 


Schlesinger,  Prof.  L.,  über  das  Riemann'sche  Problem  der  Theorie 
der  linearen  Differentialgleichungen.  Vorgelegt  von  Fuchs. 
(Cl.  27.  Febr.;  S.A.  13.  März.) 

Schwarz,  Fortsetzung  seiner  Untersuchung,  betreffend  die  confonne 
Abbildung  der  Oberflächen  specieller  Tetraeder  auf  die  Kugel- 
fläche, welche  durch  mehrdeutige  elliptische  Functionen  ver- 
mittelt wird.     (Cl.  S.April.) 

Frobenius,  über  Gruppen  des  Grades  p  oder  />-hl.  (G.S.  10.  April; 
S.  B.) 

Frobenius,  über  primitive  Gruppen  des  Grades  n  und  der  Classe 
n-\.     (G.S.  24.  April;  .S.J5.) 

Müller-Breslau,  über  den  Druck  sandformiger  Massen  auf  stand- 
feste Mauern.     (Cl.  30.Oct.) 

Schur,  Dr.  J.,  neuer  Beweis  eines  Satzes  über  endliche  Gruppen. 
Vorgelegt  von  Frobenius.     (Cl.  30.Oct.;  S.B) 


Philosophie. 

Dilthey,  über  die  Aesthetik  Schleiermach er's  und  ihr  Verhältnifs  zu 
den  Kunstlehren  der  Vorgänger  und  der  Zeitgenossen.  ((^1. 
30.  Jan.) 

Stumpf,  über  Abstraction  und  Genera lisation.     (Gl.  29.  Mai.) 


Geschichte. 

Hirschfeld,   über  den  Grundbesitz   der  römischen  Kaiser  in  den 

eisten  drei  Jahrhunderten.     (G.  S.  6.  März.) 
Sachau,  über  den  zweiten  Chalifen  Omar.     (Cl.  1 3.  März;  Ä  2?.) 
Lietzmann,  Lic.  H.,  der  Psalmencommentar  Theodor's  von  Mop- 

suestia.    Vorgelegt  von  Harnack.     (Cl.  3.  April;  S.B.) 
Dümmler,  eine  Streitschrift  für  die  Priesterehe.  (Cl.  17.  April;  S.B.) 


XVI 


Kos  er,  über  eine  Sammlung  von  Leibniz- Handschriften  im  Staats- 
archiv zu  Hannover.     (Cl.  1.  Mai;  Ä  ß.  15.  Mai.) 

Harnack,  der  Brief  des  Ptolemäus  an  die  Flora.  (G.  S.  1 5.  Mai;  S.  B.) 

Harnack,  die  alten  Bezeiclniungen  der  Christen.    (CI.  26.  Juni.) 

Loofs,  Prof.  F.,  die  Trinitätslehre  MarceU's  von  Ancyra  und  ilir 
Verhältnifs  zur  älteren  Tradition.  Vorgelegt  von  Harnack. 
(Cl.  26.Juni;ÄJ5.) 

Mommsen,  Weihe -Inschrift  für  Valerius  Dalmatius.  (Cl.  26.  Juni; 
S.B.  10.  Juli.) 

Lenz,  ein  neuer  Beitrag  zur  Kritik  der  Gedanken  und  Erinnerungen 
des  Fürsten  Bismarck.     (CL  17.  Juli.) 

von  Wilamowitz-Moellendorff,  Alexandrinische  Inschriften.  (Cl. 
27.  Nov.;  S.  B.) 


Rechts-  und  Staatsvvissenschaft. 

Schmoller,  die  historische  Lohnbewegung  von  1300 — 1900  und 
ihre  Ursachen.    (Cl.  13.  Febr.;  S.B.) 

Brunner,  Todfall  und  Todtentheil.     (CL  27.  Febr.) 

Schmoller,  Entstehung,  Wesen  und  Bedeutung  der  neueren  Armen- 
pflege.    (Cl.  31.JuU;Ä./J.) 

Stieda,  Prof  W.,  über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittel- 
alter.   Vorgelegt  von  Schmoller.     (Cl.  30.  Oct;  Abh.) 

Brunner,  Capitulare  Saxonicum  c.  3.    (Cl.  ll.Dec.) 


Allgemeine,  deutsche  und  andere  neuere  Philologie. 

Tobler,  Etymologisches.     (G.S.  6. Febr.;  S.B.) 
Schmidt,  die  Weiber  von  Weinsberg.     (Cl.  12.  Juni;  S.B.) 
Burdach,  zum  zweiten  Reichsspruch  Walther's  von  der  Vogelweide. 
(G.S.  2i.Ju\i;  S.B.) 


XVI 1 


Tobler,  vermischte  Beiträge  zur  fran;5ösisclien  Grammatik.  (CL 
27.  Nov.;  S.B.) 

Classische  Philologie. 

Vahlen,  über  einige  Citate  in  Aristoteles'  Rhetorik.  (Cl.  9.  Jan.; 
S.  B.  20,  Febr.) 

de  Boor,  Prof.  C,  zweiter  Bericht  über  eine  Studienreise  nach 
Italien  zum  Zwecke  handschrifllicher  Studien  über  byzanti- 
nische Chronisten.  Vorgelegt  von  Diels.   (Cl.  13.  Febr.;  S.  B.) 

Schubart,  Dr.  W.,  neue  Bruchstücke  der  Sappho  und  des  Alkaios. 
Vorgelegt  von  v.  Wilamowitz-MoellendorfF.  (G.S.  20.  Febr.; 
S.  B.) 

Diels,  über  den  Papyrus  Nr.  9780  der  Königlichen  Museen  zu 
Berlin.     (Cl.  3.  April.) 

Schöne,  Dr.  H.,  ein  Palimpsestblatt  des  Galen  aus  Bobbio.  Vor- 
gelegt von  Diels.     (Cl.  3.  April;  S.B.  17.  April.) 

von  Wilamowitz-Moellendorff,  choriambische  Dimeter,  (G.S. 
24.Juli;.S.Ä) 

von  Wilamowitz-Moellendorff,  über  einen  Papyrus  des  4.  Jahr- 
hunderts V.  Chr.,  der  die  Perser  des  Timotheos  enthält.    (G.  S. 
24.  Juli.) 
Vahlen,  über  CatuU's  Elegie  an  M'Allius.  (G.S.  6. Nov.;  Ä  Ä) 
Diels,  über  die  auf  den  Namen  des  Demokritos  gefälschten  Schrif- 
ten.   (G.S.  4.Dec.) 

Archaeologie. 

Conze,  über  die  älteste  Periode  der  Stadtgeschichte  von  Pergamon. 

(G.S.  10.  April.) 
Kekule  von  Stradonitz,   über   einen    statuarischen   Typus    des 

Hypnos.    (Cl.  30.Oct.) 
Conze,  Kleinfunde  aus  Pergamon.     (Cl.  13. Nov.;  Ahh.) 


XVIII 


Orientalische  Philologie. 

Schäfer,  Dr.  H.,  ein  Bruchstück  altägyptischer  Annalen.  Vorge- 
legt von  Erman.    (G.  S.  6.  März;  Ahh.) 

Erman,  über  die  religiöse  Poesie  Aegyptens  in  der  Zeit  des  neuen 
Reiches.    (G.S.  19.  Juni.) 


Bericht  über  den  Erfolg  der  Preisausschreibungen  für  1902  und 

neue  Preisausschreibungen. 

Akademische  Preisaufgabe  für*  1902, 

erneuert  ßlr  190(i, 

Nachdem  die  in  der  Leibniz- Sitzung  des  Jahres  1894  gestellte 
akademische  Preisaufgabe  keinen  Bewerber  gefunden  hatte,  war 
sie  in  der  Leibniz- Sitzung  des  Jahres  1898  in  etwas  abgeänderter 
Weise  folgendermafsen  von  neuem  gestellt  worden: 

»Sei  fi{z)^  fii^)^  . .  -/U-)  ^i^  Fundamentalsystem  von 
Integralen  einer  linearen  homogenen  Differentialgleichung 
mit  algebraischen  Coefficienten. 

Es  soll  die  Function  z  der  Variablen  — ,  ~ 


.  *  • 


welche  durch  die  Gleichung 

'^f/i(^)  +  ^hf2{z)  -f-  . . .  -f-  ujn{z)  =  ^ 

definirt  ist,  einer  eingehenden  Untersuchung  unterworfen 
werden.  Insbesondere  ist  für  den  Fall,  dafs  z  eine  end- 
lichwerthige  Function  wird,  eine  Darstellung  dei'selben  zu 
ermitteln.  Hieran  ist  die  Erörterung  der  Frage  anzuschliefsen, 
inwieweit  diese  besonderen  Functionen  fiir  die  Integration 
der  linearen  Differentialgleichungen  n^^  Ordnung  verwerthet 
werden  können.« 


XIX 


Auch  in  dieser  Fassung  hat  die  Aufgabe  einen  Bewerber  nicht 
gefunden,  und  die  Akademie  wiederhoh.  sie  nunmehr  m  folgender, 
weniger  eingeschränkten  Form: 

»Die  Akademie  wünscht,  dafs  die  Theorie  der  Func- 
tionen mehrerer  VeränderUchen,  w^elche  hneare  Substitu- 
tionen zulassen,  in  ihren  wesentlichen  Theilen  durch  be- 
deutsame Fortschritte  gefördert  werde.« 

Der  ausgesetzte  Preis  beträgt  5000  Mark. 

Die  Bewerbungsschriften  können  in  deutscher,  lateinischer, 
französischer,  englischer  oder  itahänischer  Sprache  abgefafst  sein. 
Schriften,  die  in  störender  Weise  unleserlich  geschrieben  snid,  können 
durch  Beschlufs  der  zuständigen  Classe  von  der  Bewerbung  aus- 
geschlossen werden. 

Jede  Bewerbungsschrift  ist  mit  einem  Spruch  wort  zu  bezeich- 
nen, und  dieses  auf  einem  beizufügenden  versiegelten,  innerlich 
den  Namen  und  die  Adresse  des  Verfassers  angebenden  Zettel 
äufserlich  zu  wiederholen.  Schriften,  welche  den  Namen  des  Ver- 
fassers nennen  oder  deutlich  ergeben,  werden  von  der  Bewerbung 
ausgeschlossen.  Zurückziehung  einer  eingelieferten  Preisschrift  ist 
nicht  gestattet. 

Die  Bewerbungsschriften  sind  bis  zum  31.  December  1905  im 
Bureau  der  Akademie,  Berlin  NW.  7,  Universitätestr.  8,  einzuliefern. 
Die  Verkündigung  des  Urtheils  erfolgt  in  der  Leilmiz- Sitzung  des 
Jahres  1906. 

Sämmtliche  bei  der  Akademie  zum  Behuf  der  Preisbewerbung 
eingegangene  Arbeiten  nebst  den  dazu  gehörigen  Zetteln  werden 
ein  Jahr  lang  von  dem  Tage  der  Uitheilsverkündigimg  ab  von  der 
Akademie  für  die  Verfasser  aufbewahrt.  Nach  Ablauf  der  bezeich- 
neten Frist  steht  es  der  Akademie  frei,  die  nicht  abgeforderten 
Schriften  und  Zettel  zu  vernichten. 


c* 


XX 


Preisaujfjahe  aus  dein  Cothenius  sehen  Legat. 

In  der  Leibniz- Sitzung  des  Jahres  1899  hat  die  Akademie  aus 
der  Cothenius- Stiftung  wiederholt  die  folgende  Preisaufgabe  aus- 
geschrieben: 

»Die  Königliche  Akademie  der  Wissenschaften  wünscht 
eine  auf  eigenen  Versuchen  und  Beobachtungen  beruhende 
Abhandlung  über  die  Entstehung  und  das  Verhalten  neuer 
Getreide  Varietäten  im  Laufe  der  letzten  20  Jahre.« 

Bewerbungsschriften,  welche  bis  zum  Sl.December  1901  er- 
wartet wurden,  sind  auch  diesmal  nicht  eingegangen. 

Auf  Vorschlag  der  physikalisch  -  mathematischen  Classe  stellt 
indefs  die  Akademie  die  Preisfrage  unverändert  zum  di'itten  Male. 
Bewerbungsschriften  sind  spätestens  am  31.  December  1904  im 
Bureau  der  Akademie,  Berlin  NW.  7,  Universitätsstrafse  8,  ehizu- 
reichen.  Dieselben  können  in  deutscher,  lateinischer,  französischer, 
englischer  oder  italiänischer  Sprache  abgefafst  sein. 

Jede  Bewerbungsschrift  ist  mit  einem  Spruchwort  zu  bezeich- 
nen, welches  auf  einem  beizufügenden  versiegelten,  innerlich  den 
Namen  und  die  Adresse  des  Verfassers  angebenden  Zettel  äufserlich 
wiederholt  ist.  Schriften,  welche  den  Namen  des  Verfassers  nennen 
oder  dcuthch  ergeben,  werden  von  der  Bewerbung  ausgeschlossen. 
Ebenso  können  Schriften,  welche  in  störender  Weise  unleserlich 
geschrieben  sind,  durch  Beschlufs  der  Classe  von  der  Bewerbung 
ausgeschlossen  werden. 

Die  Verkündung  des  Urtheils  erfolgt  in  der  Leibniz  -  Sitzung  des 
Jahres  1905. 

Der  ausgesetzte  Preis  beträgt  2000  Mark.  Aufserdem  über- 
nimmt die  Akademie,  wenn  der  Preis  ertheilt  wird  und  der  Ver- 
fasser die  gekrönte  Preisschrift  in  Druck  zu  geben  beabsichtigt, 
die  Drucklegung  oder  die  Kosten  derselben  in  der  nach  ihrem  Er- 
messen geeigneten  Form. 


XXI 


Sämmtliche  Bewerbungsschriften  nebst  den  zugehörigen  Zettehi 
werden  ein  Jahr  lang  vom  Tage  der  Urtheilsverkündung  ab  fiir  den 
Verfasser  aufbewahrt,  und  einem  jeden  Verfasser,  welcher  sich  als 
solcher  nach  dem  Urtheil  des  Vorsitzenden  Secretars  genügend  legi- 
timirt,  die  seinige  gegen  Empfangsbescheinigung  ausgehändigt  Ist 
die  Arbeit  als  preisfahig  anerkannt,  aber  nicht  prämiirt,  so  kann 
der  Verfasser  innerhalb  dieser  Frist  verlangen,  dafs  sein  Name  durch 
die  Schriften  der  Akademie  zur  öfFentlichen  Kenntnifs  gebracht 
werde.  Nach  Ablauf  der  bezeichneten  Frist  steht  es  der  Akademie 
frei,   die  nicht  abgefoi^derten  Schriften  und  Zettel  zu  vernichten. 


Akademische  Preisaufgahe  für  1905. 

Die  Akademie  stellt  für  das  Jahr  1905  folgende  Preisaufgabe: 

»Nach  dem  übereinstimmenden  Ergebnifs  neuerer  For- 
schungen betrachtet  man  die  Kathodenstrahlen  und  ebenso 
die  Becquerel- Strahlen  als  Schwärme  äufserst  schnell  be- 
wegter elektrisch  geladener  Partikel.  Es  ist  weiter  wahr- 
scheinlich gemacht  worden,  dafs  die  nämlichen  Partikel 
auch  bei  der  gewöhnlichen  Elektricitätsleitung  in  Gasen  und 
in  Metallen,  sowie  auch  bei  der  Emission  und  Absorption 
des  Lichts  die  Hauptrolle  spielen.  Gewünscht  werden  neue, 
mit  theoretischer  Discussion  verknüpfte  Messungen,  durch 
welche  unsere  Kenntnisse  von  den  Eigenschaften  jener  Par- 
tikel in  wesentlichen  Punkten  erweitert  werden.« 

Der  ausgesetzte  Preis  beträgt  5000  Mark. 

Die  Bewerbungsschriften  können  in  deutscher,  lateinischer,  fran- 
zösischer, englischer  oder  italiänischer  Sprache  abgefafst  sein.  Schrif- 
ten, die  in  störender  Weise  unleserlich  geschrieben  sind,  können 
durch  Beschlufs  der  zuständigen  Classe  von  der  Bewerbung  aus- 
geschlossen werden. 


XXII 


Jede  Bevverbungsschrifl  ist  mit  einem  Spruchwort  zu  bezeich- 
nen, und  dieses  auf  einem  beizufügenden  versiegelten,  innerlich  den 
Namen  und  die  Adresse  des  Verfassers  angebenden  Zettel  äufser- 
lich  zu  wiederholen.  Schriften,  welche  den  Namen  des  Verfassers 
nennen  oder  deutlich  ergeben,  werden  von  der  Bewerbung  ausge- 
schlossen. 
Zurückziehung  einer  ehigelieferten  Preisschrift  ist  nicht  gestattet. 

Die  Bewerbungsschriften  sind  bis  zum  31.  December  1904  im 
Bureau  der  Akademie,  Berlin  NW.  7,  Universitätsstr.  8,  einzuliefern. 
Die  Verkündigung  des  Urtheils  erfolgt  in  der  Leibniz- Sitzung  des 
Jahres  1905. 

Sämmthche  bei  der  Akademie  zum  Behuf  der  Preisbewerbung 
ehigegangene  Arbeiten  nebst  den  dazu  gehörigen  Zetteln  werden 
ein  Jahr  lang  von  dem  Tage  der  Urtheilsverkündigung  ab  von  der 
Akademie  fiir  die  Verfasser  aufbewahrt.  Nach  Ablauf  der  bezeich- 
neten Frist  steht  es  der  Akademie  frei,  die  nicht  abgeforderten 
Schrift;en  und  Zettel  zu  vernichten. 


Verzeichnifs  der  im  Jahre  1902  erfolgten  besonderen  Greldbe- 
willigungen  aus  akademischen  Mitteln  zur  Ausfiihrung  wissen- 
schaftlicher Unternehmungen. 

Es  w^urden  im  Laufe  des  Jahres  1902  bewilligt: 

2300  Mark  dem  Mitgliede  der  Akademie  Hrn.  Engler  zur  Fort- 
führung der  Herausgabe  des   »Pflanzenreich«. 

4000  »  dem  Mitgliede  der  Akademie  Hrn.  Di  eis  zur  Fortfüh- 
rung der  Arbeiten  an  einem  Katalog  der  Handschriften 
der  antiken  Medicin. 


XXIll 


3300  Mark  dem  Mitgliede  der  Akademie  Hm.  Kirchhoff  zur  Fort- 
fuhrung der  Sammlung  der  griechischen  Inschriften. 

6000  »  dem  MitgUede  der  Akademie  Hm.  Koser  zur  Fort- 
fuhrung der  Herausgabe  der  Politisclien  Con'espondenz 
Friedrich's  des  Grofsen. 

1000      »      zur  Förderang  des  Unternehmens  des  Thesaurus  Hnguae 

latinae  über  den  etatsmäfsigen  Beitrag  von  5000  Mark 
hinaus. 

4500  »  dem  Mitgliede  der  Akademie  Hrn.  Landolt  zur  Be- 
schaffung einer  Präcisionsvvage  zum  Zweck  von  Unter- 
suchungen  über  Änderungen  des  Gesammtgewichts 
chemisch  sich  umsetzender  Köi-per. 

2000      »      Demselben  zu  einer  neuen  Ausgabe  seiner  »Physika- 

Usch-chemischen  Tabellen«. 

3000  »  dem  Mitgliede  der  Akademie  Ihn.  Conze  zur  Über- 
arbeitung einer  im  Jahre  1886  von  Hrn.  von  Diest  auf- 
genommenen Karte  des  pergamenischen  Gebietes  durch 
Hrn.  Hauptmann  Beriet. 

1500      »      dem  Mitgliede  der  Akademie  Hrn.  von  Wilamowitz- 

Moellendorff  zur  Aufnahme  von  Graffiti  in  Aegypten. 

2250      »      Hrn.  Dr.  Emil  Abderhalden  in  Berlin  zur  Herausgabe 

einer  Bibliographie  der  wissenschafUichen  Litteratur  über 
Alkohol  und  Alkoholismus. 

1200      »      Hm.  Prof.  Dr.  Max  Bauer  in  Marburg  zur  Fortführung 

seiner  Untersuchung  des  niederhessischen  Basaltgebietes. 
700  »  Hrn.  Prof.  Dr.  Theodor  Boveri  in  Würzburg  zur  Fort- 
setzung seiner  Untersuchungen  über  die  erete  Entvvicke- 
lung  des  tliierischen  Eies. 

1200      »      Hrn.  Prof.  Dr.  Reinhard  Brauns  in  Giefsen  zu  einer 

Untersuchung  der  zur  Diabasgruppe  gehörenden  Cie- 
steine  des  rheinischen  Schiefergebirges. 


XXIV 


600  Mark  Hm.  Dr.  Ernst  Rresslau  in  Strafsburg  zu  Untersuchun- 
gen über  die  rhabdocoelen  Turbellarien  und  die  mai'inen 
Nematoden  Helgolands. 

700      »      Hm.  Privatdocenten  Dr.  Otto  Cohnheim  in  Heidelberg 

zur  Fortsetzung  seiner  Untereuchungen   über  die  Re- 
sorption bei  Wirbellosen. 

1000      »      Hrn.  Prof.  Dr.  Arthur  Dannenberg  in  Aachen  zu  einer 

geologischen  Untersuchung  von  Vulcangebieten  auf  der 
Insel  Sardinien. 

700      »      Hrn.  Privatdocenten  Dr.  Karl  Escherich  in  Strafsburg 

als  Zuschufs  zu  einer  Reise  nach  Nordafrica  zum  Zweck 
des  Abschlusses  einer  Arbeit  über  die  gesetzmäfsigen 
Gesellschafter  der  Ameisen. 

400      »      Hrn.  Dr.  Friedrich  Franz  Friedmann   in  Berlin  zu 

Untersuchungen  über  Vererbung  von  Tuberculose. 

2400  »  Hrn.  Prof  Dr.  Eugen  Gold  stein  in  Berlin  zur  Fort- 
setzung sehier  Untersuchungen  über  Kathodenstrahlun- 
gen, insbesondere  über  Canalstrahlen. 

1800      »      Hrn.  Prof  Dr.  Paul  von  Groth  in  München  als  Beihülfe 

für   die   von  ihm   vorbereitete   »Chemische  Krystallo- 
graphie«. 

1000      »      Hrn.  Prof.  Dr.  Wilhelm  Halbfafs  in  Neuhaldensleben 

zur  Fortsetzung  seiner  Seichesbeobachtungen  am  Madue- 

See  in  Pommern. 
1500      »      Hrn.  Prof  Dr.  Clemens  Hartlaub  auf  Helgoland  zu 

Reisen  für  die  Herausgabe  eines  Werkes  über  craspedote 

Medusen. 

300  »  Hrn.  Prof.  Dr.  Richard  Hesse  in  Tübingen  zu  Unter- 
suchungen über  die  Sehorgane  der  Thiere,  speciell  der 
Retina  der  Wirbelthiere. 


XXV 


600  Mark  Hrn.  Prof.  Dr.  Karl  Hiirthle  in  Breslau  zur  Fortsetzung 

seiner  Untersuchungen  über  die  Structur  der  thätigen 
Muskelfaser. 
800      »      Hrn.  Prof.  Dr.  Rudolf  K ober t  in  Rostock  zu  biologi- 
schen Versuchen  an  Seethieren  mit  pharmakologischen 
Agentien. 
800      »      Hrn.  Privatdocenten  Dr.  Hans  Lohmann  in  Kiel  zur 

Erforschung  von  oceanischen  Grundproben. 

1500  »  Hm.  Prof  Dr.  Willy  Marckvvald  in  Berlin  zu  Unter- 
suchungen über  das  radioactive  Wismuth. 

1500  »  Hm.  Prof  Paul  Matschie  in  Berlin  zu  einer  Reise  be- 
hufs Vollendung  einer  Monographie  der  Fledermäuse. 

1000  »  Hrn.  Dr.  Wilhelm  Michaelsen  in  Hamburg  zur  Heraus- 
gabe eines  Werkes  über  die  geographische  Verbreitung 
der  Oligochaeten. 

1000      »      Hrn.  Privatdocenten  Dr.  Max  Rothmann  in  Berlin  zur 

Untei-suchung  anthropomorpher  Affen  hinsichtlich  der 
Function  der  Pyramidenbahn. 

1500      »      Hrn.  Prof  Dr.  Adolf  Schmidt  in  Potsdam  (früher  in 

Gotha)  zur  Fortsetzung  seiner  Bearbeitung  erdmagne- 
tischer Beobachtungen. 

1200      »      Hrn.  Prof  Dr.  Heinrich  Simroth  in  Leipzig  zu  einer 

Reise  in  das  Alpengebiet  zum  Zweck  des  Studiums  der 
palaearktischen  Nacktschneckenfauna. 

1000  »  Hrn.  Prof  Dr.  Arnold  Spuler  in  Erlangen  zu  syste- 
matisch -  lepidopterologischcn  Studien. 

1500      »      Hm.  Prof  Dr.  Alexander  Tornquist  in  Strafsburg  zu 

geologischen  Untersuchungen  auf  der  Insel  Sardinien. 
500      »      Hm.  Privatdocenten  Dr.  Armin  Tschermak  in  Halle 

zu  einer  Arbeit  über  das  Bmocularsehen  der  Wirbel- 
thiere. 


XXVI 


1000  Mark  Hm.  Privatdocenten  Dr.  Theodor  Weyl  in  Cliarlotten- 

burg  zu  Untersuchungen  über  das   elektrische  Organ 
von  Torpedo  auf  der  zoologischen  Station  zu  Neapel. 

1000      »      Hm.  Prof.  Dr.  Olof  August  Danielsson  in  Upsala  zu 

einer  Reise  nach  Italien  für  die  Zwecke  des  Corpus 
inscriptionum  etruscarum. 
400      »      Hm.  Dr.  J.  Halpern  in  Berlin  zur  Herausgabe  der  Dia- 
lektik Schleiermacher's. 
500      »      Hm.  Privatdocenten  Dr.  Josef  Horovitz  in  Berhn  zur 

Herausgabe  der  Gedichte  des  arabischen  Dichters  Kumait. 

3500      »      Hm.  Dr.  Josef  Karst  in  Strafsburg  zur  Drucklegung 

seiner  Ausgabe  des  Mittelarmenischen  Rechtsbuches. 

3000      »      Hrn.  Bibliothekar  Dr.  Oskar  Mann  in  Berlin  als  zweite 

Rate  fiir  seine  Reise  nach  Vorderasien  zum  Studium  der 
kurdisch  -  neupersischen  Dialekte. 

17322  »  Hrn.  Dr.  Jos.  Marquart  in  Leiden  zur  Vollendung  sei- 
nes Werkes  »Ostasiatische  und  osteuropäische  Streif- 
züge « . 

1200      »      Hrn.  Prof.  Dr.  Eduard  Scheer  in  Saarbrücken  zu  einer 

Reise  nach  Italien  und  Frankreich  behufs  Ergänzung 
der  Vorarbeiten  zu  seiner  Ausgabe  der  SchoUen  zu 
Lykophron's  Alexandra. 

1500  »  Hrn.  Museumsdirector  Dr.  Karl  Schuchhardt  in  Han- 
nover zu  einer  Reise  nach  England  zum  Zwecke  näherer 
Erforschung  und  Aufnahme  sächsischer  Befestigungen. 
800  »  Hm.  Prof  Dr.  Ferdinand  Tönnies  in  Eutin  zur  Aus- 
fuhrung moralstatistischer  Untersuchungen. 
600  »  Hm.  PfarrerW.Tümpel  in  Unten'enthendorf  zur  Heraus- 
gabe des  I.Bandes  eines  Werkes  »Das  deutsche  evan- 
gelische Kirchenlied  des  17.  Jahrhunderts«. 


XXVII 


Verzeichnifs  der  im  Jahre  1902  erschienenen  im  Auftrage 
oder  mit  Unterstützung  der  Akademie  hearheiteten  oder 

herausgegehenen  Werke. 

Das  Pflanzenreich.  Regni  vegetabilis  conspectus.  Im  Auftrage  der 
Königl.Preufs.  Akademie  der  Wissenschaften  hrsg.  von  A.  Eng- 
ler.    Heft  8-1 L     Leipzig  1902. 

Das  Tierreich.  Eine  Zusammenstellung  und  Kennzeichnung  der 
rezenten  Tierforraen.  In  Verbindung  mit  der  Deutschen  Zoo- 
logischen Gesellschaft  hrsg.  von  der  Könighch  Preufsischen 
Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berün.  Lief.  16.  17.  Ber- 
lin 1902. 

Weierstrafs,  KarL  Mathematische  Werke.  Hrsg.  unter  Mitwir- 
kung einer  von  der  Königlich  Preufsischen  Akademie  der 
Wissenschaften  eingesetzten  Commission.  Bd.  4.  Vorlesungen 
über  die  Theorie  der  Abelschen  Transcendenten.  Bearb.  von 
G.  Ilettner  und  J.  Knoblauch.    Berlin  1902.  4. 

Acta  Borussica.  Denkmäler  der  Preufsischen  Staatsverwaltung  im 
18.  Jahrhundert.  Hrsg.  von  der  Königlichen  Akademie  der 
Wissenschaften.  Die  einzelnen  Gebiete  der  Verwaltung. 
Münzwesen.    Beschreibender  Theil.    Heft  1.   Berlin  1902.  4. 

Commentaria  in  Aristotelem  graeca  edita  consiUo  et  auctoritate 
Academiae  Litterarum  Regiae  Borussicae.  Vol.  5.  Pars  4. 
Themistii  in  libros  Aristotelis  de  caelo  paraphrasis  hebraice 
et  latine  ed.  Samuel  Landauer.  — Vol. 6.  Pars  1.  Syriani 
in  metaphysica  commentaria  ed.  Guilelmus  Kroll.  — Vol.  12. 
Pars  1.  Olympiodori  prolegomena  et  in  categorias  commen- 
tarium  ed.  Adolf us  Busse.     Berolini  1902. 

Corpus  inscriptionum  graecarum  Peloponnesi  et  insularum  vicinarum 
consilio  et  auctoritate  Academiae  Litterarum  Regiae  Borussica^^ 


XXVIIl 

editum.  Vol.  1.  •  Inscriptiones  graecae  Aeginae  Pityonesi  Ce- 
cryphaliae  Argolidis  ed.  Maximilianus  Fraenkel.  Berolini 
1902.  2. 

Corpus  inscriptionuni  latinarum  consilio  et  auctoritate  Academiae 
Litterarum  Regiae  Borussicae  editum.  Vols.  3  Suppl.  In- 
scriptionum  Orientis  et  Illyrici  latinarum  supplementum  ed. 
Theodorus  Mommsen  Otto  Hirschfeld  Alfredus  Do- 
maszewski.  Pars  2.  —  Vol.  6.  Inscriptiones  urbis  Romae 
latinae.  Pars  4.  Fase.  2.  Additamenta  coli,  et  ed.  Christianus 
Huelsen.    Berolini  1902.  2. 

Politische  Correspondcnz  Friedrich's  des  Grofsen.  Bd.  27.  Berlin  1902. 

Kant's  gesammelte  Schriften.  Hrsg.  von  der  Königlich  Preufsischen 
Akademie  der  Wissenschaften.  Bd.l.  Abth.  1 :  Werke.  Bd.  1. 
Bd.  1 2.  Abt.  2 :  Briefwechsel.  Bd.  3.    Berlin  1902. 

Thesaurus  Knguae  latinae  editus  auctoritate  et  consiho  Academia- 
rum  quinque  Germanicarum  BeroUnensis  Gottingensis  Lip- 
siensis  Monacensis  Vindobonensis.  Vol.  1.  Fase.  4.  5.  Vol.  2. 
Fase.  3.     Lipsiae  1902.  4. 

Die  griechischen  christlichen  Schriftsteller  der  ersten  drei  Jahr- 
hunderte hrsg.  von  der  Ku'chenväter-Commission  der  Königl. 
Preufsischen  Akademie  der  Wissenschaften.  Eusebius  Werke. 
Bd.l.  Hrsg.  von  Ivar  A.  Heikel.  —  Die  Oracula  Sibyllina 
bearb.  von  Joh.  Geffcken.    Leipzig  1902. 

Engler,  A.  Vegetationsansichten  aus  Deutschostafrika  nach  64  von 
Walther  Goetze  auf  der  Nyassa-See-  und  Kinga-Gebirgs- 
Expedition  der  Hermann  und  Elise  geb.  Heckmann  Wentzel- 
Stiftung  hergestellten  photographischen  Aufnahmen  zur  Er- 
läuterung der  ostafrikanischen  Vegetationsformationen  zu- 
sammengestellt und  besprochen.    Leipzig  1902. 

Fülleborn,  Friedrich.  Beiträge  zur  physischen  Anthropologie  der 
Nord-Nyassaländer.  Anthropologische  Ergebnisse  der  Nyassa- 


XXIX 


und  Kingagebirgs- Expedition  der  Hermann  und  Elise  geb. 
Heckmann  Wentzel- Stiftung.    Berlin  1902.  2. 

Ahlwardt,  W.  Sammlungen  alter  arabischer  Dichter.  I.  Elacmaijjät 
nebst  einigen  Sprachqagiden.    Berlin  1902. 

Ascherson,  Paul,  und  Graebner,  Paul.  Synopsis  der  mittel- 
europäischen Flora.    Lief.  14— 21.    Leipzig  1901.  02. 

Ibrahim  Ibn  Muhammad  al-Baihaqi,  Kitäb  al-Mahäsin  val-Masävi 
hrsg.  von  Friedrich  Schwally.    Giefsen  1902. 

Corpus  inscriptionum  etruscarum.  ed.  Carolus  Pauli,  Fase.  1 0.  Lip- 
siae  1902.  4. 

Kraenzlin,  Fritz.  Orchidacearum  genera  et  species.  Voll.  Berlin 
1901. 

Philonis  Alexandrini  opera  quae  supersunt  ed.  Leopoldus  Cohn  et 
Paulus  Wendland.    Vol.  4.    Berolini  1902. 

Reichenow,  Anton.    Die  Vögel  Afrikas.   Atlas.    Neudamm  1902. 

Schäfer,  Ernst.  Beiträge  zur  Geschichte  des  spanischen  Protestan- 
tismus und  der  Inquisition  im  16.  Jahrhundert.  Bd.  1—3. 
Gütersloh  1902. 

Schiemann,  Theodor.  Die  Ermordung  Pauls  und  die  Thron- 
besteigung Nikolaus  I.    Neue  Materialien.    Berlin  1902. 

Schweinfurth,  Georg.  Aufnahmen  in  der  östlichen  Wüste  von 
Aegypten.    Blatt  6.   10  a.  106.    Berlin. 

Taschen berg,  0.  Bibliotheca  zoologica  II.  Verzeichnifs  der  Schrif- 
ten über  Zoologie,  welche  in  den  periodischen  Werken  ent- 
halten und  vom  Jahre  1861—1880  selbständig  erschienen 
sind.    Lief  16.    Leipzig  1902. 

Zettersteen,  K.V.  Beiträge  zur  Kenntnis  der  religiösen  Dichtung 
Balai's.    Leipzig  1902.  4. 


XXX 


Veränderungen  im  Fersonalstande  der  Akademie  im  Laufe  des 

Jahres  1902. 

Es  wurden  gewählt: 

zu  ordentlichen  Mitgliedern  der  philosophisch  -historischen  Classe: 

Hr.  Heinrich  Zimmer,  bestätigt  durch  K.  Cahinetsordre  vom  13.  Ja- 
nuar 1902, 

»  Heinrich  Dressel,  bestätigt  durch  K.  Cahinetsordre  vom  9.  Mai 
1902, 

»  Konrad  Burdach,  bestätigt  durch  K.  Cahinetsordre  vom  9.  Mai 
1902, 

»  Richard  Pischel,  bestätigt  durch  K. Cahinetsordre  vom  13.  Juli 
1902; 

zum  auswärtigen  Mitgliede  der  philosophisch -historischen  Classe: 

Hr.  Leopold  Delisle  in  Paris,  bisher  correspondirendes  Mitglied, 
bestätigt  durch  K.  Cahinetsordre  vom   16.  November  1902; 

zum  correspondirenden  Mitgliede  der  philosophisch-historischen 
Classe: 

Hr.  Eugen  Bormann  in  Wien  am  24.  JuH  1902. 


Gestorben  sind: 

die   ordentlichen   Mitglieder   der  physikalisch -mathematischen 
Classe: 

Hr.  Lazarus  Fuchs  am  26.  April  1902, 
»    Rudolf  Virchow  am  5.  September  1902; 


XXXI 


die  ordentlichen  Mitglieder  der  plülosophisch-historischen  Classe: 

Hr.  Paul  Scheffer-Boichorst  am  17.  Januar  1902; 
»    Ernst  Dümmler  am  11.  September  1902; 

das  Ehren -Mitglied: 
Hr.  Gustav  von  Gofsler  in  Danzig  am  29.  September  1902; 

die   con'espondirenden   Mitglieder   der  physikalisch -mathema- 
tischen Classe: 

Ilr.  Heinrich  Wild  in  Zürich  am  5.  September  1902, 
»    Alfonso  Cossa  in  Turin  am  23.  October  1902, 
»    Johannes  Wislicenus  in  Leipzig  am  5.  December  1902, 
»    Karl  von  Kupffer  in  München  am  16.  December  1902; 

die  correspondirenden  Mitglieder  der  philosophisch -historischen 
Classe: 

Hr.  Sigismund  Wilhelm  Kölle  in  London  am  18.  Februar  1902, 
»    Karl  Zangemeister  in  Heidelberg  am  8.  Juni  1902, 
»    Julius  Ficker  Ritter  von  Feldhaus  in  Innsbruck  am  10.  Juli 

1902, 
»    Konrad  von  Maurer  in  München  am  16.  September  1902. 


XXXII 


Verzeichnifs  der  Mitglieder  der  Akademie  am  Schlüsse 

des  Jahres  1902. 

L    Beständige  Secretare. 

Gewählt  von  der  '''^^^^'' 

Hr.  Auwers phys.-math.  Classe 1878  April  10. 

-  ValJen phil.-hist.           -        1893  April    5. 

-  Diek phil.-hist.           -        1895  Nov.  27. 

-  Waldeyer phy8.-math.       -        1896  Jan.    20. 


II.    Ordentliche  Mitglieder 

der  phyrikaliMh-makhemaliacben  Clasae  der  philoeophiMh-biatorieehen  CIamc  Datam^toj^K uniglichen 

Hr.  Tlieodor  Motninsen  ....  1858  April  27. 

.     Adolf  KircIJioff 1860  März     7. 

Hr.  Arthur  Auwers 1866  Aug.    18. 

-  Jolumnes  Vahlen 1874  Dec.    16. 

-  Eberluxrd  Schröder  ....  1875  Juni    14. 

-  Alexander  Conze     ....  1877  April  23. 

-  Simon  Schwendener 1879  Juli     13. 

-  Hermann  Munk 1880  März  10. 

-  Adolf  Tobler 1881  Aug.    15. 

-  Hermann  Diels 1881  Aug.    15. 

-  Hans  LandoÜ 1881  Aug.    15. 

.     Wüliehn  Waldeyer 1884  Febr.  18. 

-  Heinrich  Brunner    ....  1884  April     9. 

-  Franz  Eil/usrd  Schulze 1884  Juni    21. 

-  Otto  Hirschfeld 1885  März     9. 

Wilhelm  von  Bezold 1886  April     5. 

-  Eduard  Sachau 1887  Jan.    24. 

-  Gusiao  SchmoU^r     ....  1887  Jan.     24. 

-  WWwim   imhey 1887  Jan.     24. 


xxxin 


d«r  physikAliMli.aiakhcauUiMhen  CImm  d«r  phttoMphiMh-hiitoriMilm  CImm  ^^^'u^Unnc^''''^" 


Bcstltigung 


^>m 


Hr.  Karl  Klein 1887  April    6. 

-  Karl  Möbius 1888  April  30. 

Hr.  Ulrich  Kohler 1888  Dec.    19. 

-  Ado^  Engler 1890  Jan.    29. 

-  Adolf  Hamaek 1890  Febr.  10. 

-  Hermann  Karl  Vogel 1892  März  30. 

-  Hermann  Amandus  Sc/twarz 1892  Dec    19. 

-  Georg  Frobenius 1893  Jan.    14. 

-  EmU  Bseher 1893  Febr.    6. 

-  Oskar  Hertwig 1893  April  17. 

-  Max  flüwdfc 1894  Juni    11. 

-  Karl  Stumpf 1895  Febr.  18. 

.     Eridt  Sdamdt 1895  Febr.  18. 

-  Adolf  Erman 1895  Febr.  18. 

-  Vriedridi  Kohlrausch 1895  Aug.   13. 

-  Emil  Warburg 1895  Aug.   13. 

-  Jakob  Heinric/i  vant  Hoff 1896  Febr.  26. 

■  Reinhold  Koter 1896  Juli     12. 

-  Max  Lenz 1896  Dec.    14. 

-  Theodor  Wilhelm  Engelmann 1898  Febr.  14. 

-  Reinhard  Kekule  von  Stradonitz  1898  Juni      9. 
Ferdinand  Frhr.  von  Richthofen 1899  Mai       3. 

-  Ulrich  von  WHamowitz- 

MoeUendotff 1899  Aug.     2. 

Hr.   Wilhdm  Branco 1899  Dec.    18. 

-  Robert  Hehnert 1900  Jan.    31. 

-  Friedrich  von  Ilefner-AUeneck 1901   Jan.    14. 

-  Heinrich  Müller-Breslau 1901    Jan.    14. 

-  Heinrich  Zimmer    ....  1902  Jan.    13. 

-  //«wricÄ  Dressel      ....  1902   Mai      9. 

-  Konrad  Burdach     ....  1902  Mai      9. 

■  Richard  Pisehd 1902  Juli     13. 


XXXIV 


ni.    Auswärtige  Mitglieder 


der  physikalisch  •maihenuUiaobai  Classe 


der  philoBophiseh-historisohen  Classe 


Datum  der  Königlichen 
Bestfttigaag 


1892  März  16. 
1895  Jan.  14. 
1899  Mai     22. 


Hr.  Oito  von  Böhtlingk  in  Leipzig     1885   Nov.    30. 
Hr.  AWeri  von  Koeliiker  in  Würz- 
burg     

-  Eduard  Zeüer  in  Stuttgart 
Sir  George  Gabriel  Stokes  in  Cambridge 

Hr.  nieodorNöldekeinütrvihhvirg 

-  Friedrich   Imhoof-Blumer   in 

Winterthur 

-  Theodor  von  Sickel  in  Meran 
Gaston  Paris  in  Paris     .     . 

-  Pasquale  Villari  in  Florenz  . 

-  Franz  BOcheler  in  Bonn.     . 

Hr.   WU/iehn  Hittorf  in  Münster  i.W 

Lord  Kelvin  in  Netherhall,  Largs 

Hr.  Marcelin  Berthelot  in  Paris 

-  Eduard  Suess  in  Wien 

-  Karl  Gegenbaur  in  Heidelberg 

-  Eduard  Pßüger  in  Bonn 

Rochus   Frhr.   von  Liliencron   in 

Schleswig 

Hr.  Liopold  Delisle  in  Paris .     . 


1900  März     5. 


1901  Jan.     14. 

1902  Nov.    16. 


^  *  Datum  der  Königlichen 

Bestitigung 

Eari  of  Crawford  and  Balcarres  in  Haigh  Hall,  Wigan     ....  1883 

Hr.  Max  Lehmami  in  Göttingen 1887 

-  Ludwig  BoUzmann  in  Wien 1888 

Se.  Majestät  Oskar  IL,  König  von  Schweden  und  Norwegen  .     .  1897 

Hugo  Graf  von  und  zu  Lerchenfeld  in  Beriin 1900 

Hr.  Friedrich  Althoff  in  Beriin 1900 

-  Richard  SchGne  in  Beriin 1900 

Frau  Elise  Wentzel  geb.  Hechnann  in  Beriin 1900 

Hr.  Konrad  Siudt  in  Beriin 1900 

-  Andrew  Dickson  White  in  Ithaca,  N.  Y 1900 


Juli 

30. 

Jan. 

24. 

Juni 

29. 

Sept. 

14. 

März 

5. 

März 

5. 

März 

5. 

März 

5. 

März 

17. 

Dec. 

12. 

XXXV 


V.    Correspondirende  Mitglieder. 

Physikalisch  -mathematische   Classe. 


Datum  der  Wahl 


Hr.  Ernst  Abbe  in  Jena 1896  Oct.    29. 

-  Alexander  Agassiz  in  Cambridge,  Mass 1895  Juli     18. 

-  Adolf  von  Baeyer  in  München 1884  Jan.    17. 

-  Friedrich  Beilstein  in  St.  Petersburg 1888   Dec.      6. 

-  Ernst  Wilhelm  Benecke  in  Strafsburg 1900  Febr.    8. 

-  Educard  van  Beneden  in  T^üttich 1887   Nov.     3. 

.     Oskar  Brefeld  in  Breslau 1899  Jan.    19. 

-  Otto  BütsclJi  in  Heidelberg 1897  März  11. 

Sir  John  Burdon- Sanderson  in  Oxford 1900  Febr.  22. 

Hr.  Stanislao  Cannizzaro  in  Rom 1888  Dec.     6. 

-  Karl  Chun  in  Leipzig 1900  Jan.    18. 

*     lAugi  Cremona  in  Rom .  1886  Juli     15. 

-  Gasion  Darboux  in  Paris 1897  Febr.  11. 

-  Riduxrd  Dedekind  in  Braunschvveig 1880  März  11. 

-  Nils  Christof  er  Duner  in  Upsala 1900  Febr.  22. 

.     Ernst  Ehlers  in  Göttingen 1897  Jan.    21. 

-  Rudolf  Fitiig  in  Strafsburg 1896  Oct.    29. 

Walter  fUmming  in  Kiel 1893  Juni      1. 

-  Max  FOrbringer  in  Heidelbei^ 1900  Febr.  22. 

-  Albert  Gaudry  in  Paris 1900  Febr.    8. 

Sir  Archibald  Geikie  in  London 1889  Febr.  21. 

Hr.  Josiah  Willard  Gibbs  in  New  Haven,  Conn 1900  Febr.  22. 

-  Wokott  Gibbs  in  Newport,  R.  1 1885  Jan.    29. 

Sir  Damd  GiU,  Königl.  Sternwarte  am  Cap  der  Guten   Hoffnung.  1890  Juni      5. 

Hr.  Rnd  Gordan  in  Eriangen .1900  Febr.  22. 

-  Ludwig  von  Graff  in  Graz 1900  Febr.    8. 

-  GotOeb  Haberlandt  in  Graz 1899  Juni      8. 

-  Julius  Hann  in  Wien 1889  Febr.  21. 

-  Victor  Hensen  in  Kiel 1898  Febr.  24. 

.     Richard  Hertwig  in  München 1898  April  28. 

-  WUfiehn  His  in  Leipzig 1893  Juni      1. 

Sir  Joseph  Dalton  Hooker  in  Sunningdale 1854  Juni      1. 

William  Huggins  in  London 1895   Dec.    12. 

Hr.  Leo  Koenigsberger  in  Heidelbei^ 1893  Mai       4. 

-  Michel  Livy  in  Paris 1898  Juli     28. 

-  Franz  von  Leydig  in  Rothenburg  o.  d.  T 1887   Jan.    20. 


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1 


XXXVl 

Datum  der  Walil 


^ 


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Hr.  Gabriel  Lippmann  in  Paris 1900  Febr.  22. 

-  Rudolf  LipsckUz  in  Bonn 1872  April  18. 

-  Moritz  Loewy  in  Paris 1895  Dec.    12. 

-  Hubert  Ludwig  in  Bonn 1898  Juli     14. 

-  Eleutkere  Mascart  in  Paris 1895  Juli     18. 

-  Thnitrij  Mendelejew  in  St.  Petersburg 1900  Febr.    8. 

-  Franz  Mertens  m  yfien 1900  Febr.  22. 

-  Henrik  Mohn  in  Christiania 1900  Febr.  22. 

-  Alfred  Gabriel  NaChorst  in  Stockholm 1900  Febr.    8. 

-  Karl  Neumann  in  Leipzig 1893  Mai       4. 

-  Georg  von  Neumager  in  Hambui^ 1896  Febr.  27. 

-  Simon  Newcowb  in  Washington 1883  Juni      7. 

-  Mas  Noet/ier  in  Erlangen 1896  Jan.    30. 

.     WU/uilm  Pfeffer  in  Leipzig 1889  Dec.    19. 

-  Ernst  Pßtzer  in  Heidelberg 1899  Jan.    19. 

-  Emüe  Bcard  in  Paris 1898  Febr.  24. 

-  Henri  Poincari  in  Paris 1896  Jan.    30. 

-  Georg  Quincke  in  Heidelberg 1879  März  13. 

.     LuAvig  Badlko/er  in  München 1900  Febr.    8. 

-  William  Ramsag  in  London 1896  Oct.    29. 

Lord  Rayleigh  in  Witham,  Essex 1896  Oct.    29. 

Hr.  Friedrich  von  Recklinghausen  in  Strafsburg 1885  Febr.  26. 

-  Gustaf  Retzius  in  Stockholm 1893  Juni       1. 

-  Wilhelm  Konrad  Röntgen  in  München 1896  März  12. 

-  '  Heinridi  Rosenbusch  in  Heidelberg 1887  Oct.    20. 

-  George  Salmon  in  Dublin 1873  Juni    12. 

-  Georg  Ossian  Sars  in  Christiania 1898  Febr.  24. 

-  Giovanni  Virginio  Schiaparelli  in  Mailand 1879  Oct.     23. 

-  IViedrich  Schmidt  in  St  FeteTshnrg 1900  Febr.     8. 

.     Friedrich  Sciiottkg  in  Berlin 1900  Febr.  22. 

Hermann  Graf  zu  Sohns -Laubach  in  Strafsburg 1899  Juni       8. 

Hr.  Johann  Wilhelm  Spengel  in  Giefsen 1900  Jan.     18. 

-  Eduard  Strasburger  in  Bonn 1889  Dec.     19. 

-  Johannes  Strüoer  in  Rom 1900  Febr.     8. 

-  Otto  von  Struve  in  Karlsruhe 1868  April     2. 

-  Julius  Thomsen  in  Kopenhagen 1900  Febr.     8. 

-  August  Toepler  in  Dresden 1879  März  13. 

-  Melchior  Treub  in  Buitenzorg 1900  Febr.     8. 

-  Gustav  Tscliermak  in  Wien 1881  März     3. 

Sir  WiUiam  Turner  in  Edinburg 1898  März  10. 

Hr.  Woldemar  Voigt  in  Göttiugen 1900  März     8. 


XXXVII 


Datum  der  Wahl 


Hr.  Karl  von  Voü  in  München 1898  Febr.  24. 

-  Johannes  Diderik  van  der  Waah  in  Amsterdam 1900  Febr.  22. 

-  Eftgenius  Warming  in  Kopenhagen 1899  Jan.    19. 

.     Heinrich  Weber  in  Strafsburg 1896  Jan.    30. 

-  August  Weismann  in  Freiburg  i.  B 1897  März  11. 

-  Julius  Wiesner  in  Wien 1899  Juni      8. 

-  Alexander  WiUiam  WUliamson  in  High  Pitfold,  Haslemere    .     .  1875  Nov.   18. 
.     Clemens  Winkler  in  Dresden 1900  Febr.    8. 

-  Adolf  WüUner  in  Aachen 1889  März    7. 

.     Ferdinand  Zirkel  in  Leipzig 1887  Oct.    20. 

-  Karl  Alfred  von  2üUel  in  München 1895  Juni    13. 

Philosophisch -historische  C  lasse. 

Hr.  WiUufhn  Ahlwardi  in  Greifswald 1888  Febr.    2. 

-  Karl  von  Amira  in  München 1900  Jan.    18. 

-  Graziadio  Isaia  AscoU  in  Mailand 1887  März  10. 

-  Theodor  Aufrecht  in  Bonn 1864  Febr.  11. 

-  Ernst  Immanuel  Bekker  in  Heidelberg 1897  Juli     29. 

.     Otto  Benndorf  in  Wien 1893  Nov.  30. 

-  Friedrieh  Bloss  in  HaUe  a.  kS 1900  Jan.     18. 

Eugen  Bormann  in  Wien 1902  Juli     24. 

Ingram  Bywater  in  Oxford 1887  Nov.   17. 

-  AfUonio  Maria  Ceriani  in  Mailand 1869  Nov.     4. 

-  Karl  Adolf  von  Cornelius  in  München 1897  Oct.    28. 

'     Edward  ByUs  CoweU  in  Cambridge 1893  April  20. 

.     Heinrich  Deni/le  in  Rom 1890  Dec.    18. 

-  Wilhelm  Dittenberger  in  Halle  a.  8 1882  Juni    15. 

-  Louis  Duc/iesne  in  Rom 1893  Juli    20. 

-  Kuno  Fischer  in  Heidelberg 1885  Jan.    29. 

.     Poid  Foucart  in  Paris 1884  Juli     17. 

-  Ludwig  Friedländer  in  Strafsburg 1900  Jan.     18. 

Theodor  Gomperz  in  Wien 1893  Oct.    19. 

Francis  Llewelh/n  GriffUh  in  Ashton  under  Lyne 1900  Jan.     18. 

-  Gustav  Gröber  in  Strafsburg 1900  Jan.    18. 

-  WUluslm  von  Hartel  in  Wien 1893  Oct.     19. 

Georgios  N.  Hatzidakis  in  Athen 1900  Jan.    18. 

-  Albert  HaitAck  in  Leipzig 1900  Jan.    18. 

-  Johan  Ludvig  Heiberg  in  Kopenhagen 1896  März  12. 

Max  Heime  in  Leipzig 1900  Jan.    18. 

-  Ridiard  Heimel  in  Wien 1900  Jan.    18. 


XXXVIII 

Datum  der  Wahl 


^>a 


Hr.  Afitaine  Hiron  de  ViUefosse  in  Paris 1893  Febr.  2. 

-  Lion  Heuzey  in  Paris 1900  Jan.  18. 

-  Hermann  von  Holst  in  Chicago 1889  Juli  25. 

.  ThiophUe  HofnoUe  in  Athen 1887  Nov.  17. 

-  Vairoslav  Jagii  in  Wien 1880  Dec.  16. 

•  WiUiam  James  in  Cambridge,  Mass 1900  Jan.  18. 

-  Karl  Tlieodor  von  Inamü" Stemegg  in  Wien 1900  Jan.  18. 

-  Ferdinand  Justi  in  Marburg 1898  Juli  14. 

•  Karl  Justi  in  Bonn 1893  Nov.  30. 

.  Panagiotis  Kabbadias  in  Athen 1887  Nov.  17. 

-  Frederic  George  Kenyon  in  London 1900  Jan.  18. 

-  Franz  Kielhorn  in  Göttingen 1880  Dec.  16. 

-  Georg  Friedridi  Knapp  in  Strafsburg 1893  Dec.  14. 

-  BaM  Latyscliew  in  St.  Petersburg 1891  Juni  4. 

«  August  Leskien  in  Leipzig 1900  Jan.  18. 

-  Emile  Levasseur  in  Paris 1900  Jan.  18. 

-  Giacomo  Lumbroso  in  Frascati 1874  Nov.  12. 

-  John  PenOand  Mahaffy  in  Dublin 1900  Jan.  18. 

•  Frederic  William  Maitland  in  Cambridge 1900  Jan.  18. 

-  Gaston  Maspero  in  Paris 1897  Juli  15. 

-  Adolf  Michaelis  in  Strafsburg 1888  Juni  21. 

-  Alexander  Stuart  Murray  in  London 1900  Jan.  18. 

.  Adolf  Mussafia  in  Wien 1900  Jan.  18. 

-  Heinrich  Nissen  in  Bonn 1900  Jan.  18. 

-  Julius  Oppert  in  Paris 1862  März  13. 

-  Georges  Perrot  in  Paris 1884  Juli  17. 

-  Wilhelm  Radioff  in  St.  Petersburg 1895  Jan.  10. 

-  Victor  Baron  Rosen  in  St.  Petersburg 1900  Jan.  18. 

-  Richard  Sdiroeder  in  Heidelberg 1900  Jan.  18. 

-  Emü  Schürer  in  Göttingen 1893  Juli  20. 

-  Emile  Senart  in  Paris 1900  Jan.  18. 

-  Eduard  Sievers  in  Leipzig 1900  Jan.  18. 

-  Christoph  von  Sigwart  in  Tübingen 1885  Jan.  29. 

.  Albert  Sorel  in  Paris 1900  Jan.  18. 

-  Friedrich  von  Spiegel  in  München 1862  März  13. 

-  Henry  Sweet  in  Oxford 1901  Juni  6. 

Sir  Edward  Maunde  Thompson  in  London 1895  Mai  2. 

Hr.  Vilhdm  Thomsen  in  Kopenhagen 1900  Jan.  18. 

-  Hermann  Usener  in  Bonn 1891  Juni  4. 

-  Girolamo  ViteUi  in  Florenz 1897  Juli  15. 

-  Kurt  Wachsmuth  in  Leipzig 1891  Juni  4. 


Datttin  d«r  Wahl 


^^ 


Hr.  Heinrich  WeU  in  Paris 1896  März  12. 

-  Jidius  WeU/iausen  in  Göttingen 1900  Jan.    18. 

-  Ltidoig  Wimmer  in  Kopenhagen 1891  Juni      4. 

.     WUlielm  Wundi  in  Leipzig 1900  Jan.    18. 


Beamte  der  Akademie. 

Bibliothekar  und  Archivar:    Dr.  Köhnke. 

Wissenschaftliche  Beamte:    Dr.  Dessau^  Prof.   —  Dr.  Ristenpart.  —  Dr.  Harms.  — 
Dr.  Czesciüca  Edler  von  Maehrenthal^  Prof.  —  Dr.  von  Fritze.  —  Dr.  Karl  Schmidt. 


Gedächtnisrede  auf  Paul  Scheffer- Boichorst 


Von 


H^  E.  DÜMMLER. 


OedOchtni/sreden.  1902.   I. 


Gehalten  in  der  öffentlichen  Sitzung  am  3.  Juli  1902 
[Sitzungsberichte  St.  XXXIV.  S.  799]. 

Zum  Druck  eingereicht  am  gleichen  Tage,  ausgegeben  am  9.  Juli  1902. 


Der  3.  Juli,  der  Tag  von  Königgrätz,  der  einst  alle  preuTsischen  Herzen 
höher  schlagen  liefs,  bildet  einen  passenden  Hintergrund  zu  dem  Gedächt- 
niSs  eines  Mannes,  zu  dessen  wärmsten  Empfindungen  die  Vaterlandsliebe 
gehörte,  wie  er  denn  seine  ganze  Kraft  der  Erforschung  der  vaterländischen 
Geschichte  gewidmet  hat. 

Paul  Scheffer-Boichorst  wurde  am  25.  Mai  1843  ^  Elberfeld  als 
Spröisling  einer  hochangesehenen,  einst  auch  sehr  begüterten,  Münster- 
schen  Familie  geboren.  Durch  den  Bankerott  des  Vaters,  Bernhard 
Scheffer-Boichorst,  der  eine  Knopffabrik  besafs  und  nunmehr  als  Hand- 
lungsreisender sein  Brot  sauer  verdienen  mufste,  wurde  das  Familienleben 
früh  zerstört,  zumal  da  die  Mutter  in  jungen  Jahren  gestorben  war.  Eine 
Tante,  Frau  Zumloh,  des  Vaters  Schwester,  nahm  den  Knaben  zu  sich; 
später  unterstützte  ihn  besonders  ein  Vetter  des  Vaters,  Anton  Scheffer- 
Boichorst,  ein  wohlhabender  Gutsbesitzer,  und  bestritt  reichlich  die 
Kosten  des  Universitätsstudiums.  Diese  Verwandten  lebten  in  dem  Städt- 
chen Warendorf  an  der  Ems,  das  gegen  5000  Einwohner  zählte.  So 
wurde  ein  Ort  mit  reizender,  idyllisch  ländlicher  Umgebung,  die  den  Natur- 
sinn zu  wecken  wohl  geeignet  war,  die  wahre  Heimat  unseres  Freundes. 
Hier  besuchte  er  seit  1853  das  Gymnasium,  schüchtern  und  kränklich, 
nicht  eben  hervorragend  in  seinen  Leistungen,  doch  befriedigend,  mit  Aus- 
nahme der  Mathematik  und  Physik,  die  seiner  Geistesrichtung  allzufern 
lagen.  Noch  ahnte  man  den  künftigen  Historiker  in  ihm  nicht,  hielt  den 
Abgehenden  vielmehr  für  einen  Philologen.  Auch  zeichnete  die  gute 
philologische  Vorbildung  seine  Arbeiten  später  sehr  vortheilhaft  aus,  wenn 
er  gleich  gelegentlieh  über  die  Buchstabenphilologen  spottete. 

Scheffer  war  in  einem  streng  katholischen  Kreise  aufgewachsen  — 
die  evangelische  Mutter  hatte  er  kaum  gekannt  — ,  doch  schon  als  Abiturient 

1* 


4  £.  Dümmler: 

fing  er  an  von  diesem  Glauben  abzuweichen,  und  mit  Schmerz  erblickten 
seine  Verwandten  in  ihm  einen  Freigeist.  Es  war  sein  unbestechlicher 
Wahrheitssinn,  die  stärkste  Regung  seiner  Seele,  die  ihn  früh  mit  der 
überlieferten  Kirche  in  Widerstreit  brachte.  Nicht  als  ob  er  damals  oder 
später  nach  einer  anderen  Seite,  nach  der  evangelischen  oder  etwa  altka- 
tholischen geneigt  hätte:  der  ersteren  zumal  stand  er  schroff  ablehnend 
gegenüber.  Er  begnügte  sich  mit  seinem  katholischen  Taufschein  und  einer 
pietätvollen  Erinnerung  an  die  Kirche  seiner  Jugend,  anscheinend  ohne  ein 
tieferes  religiöses  Bedürfiüfs  zu  fiihlen.  Die  Freiheit  von  allen  Familien- 
banden in  seinem  späteren  Leben  mochte  ihn  hierin  bestärken,  und  dem 
Forscher  kam  zu  gute,  was  der  Mensch  entbehrte. 

Seine  Studien  begann  Scheffer  im  Herbst  1862  auf  der  Innsbrucker 
Hochschule,  wo  Julius  Ficker,  nicht  nur  sein  Landsmann  aus  dem  Münster- 
lande, sondern  auch  entfernt  mit  ihm  verwandt,  sein  Leitstern  wurde.    Da- 
neben der  liebenswürdige   und  rastlose  Stumpf-Brentano.     Die  Spuren 
dieser  Lehrer,  zumal  des  ersteren,  als  eines  imserer  gröfsten  rechtsgeschicht- 
lichen Forscher,   sind  in  Scheffer's   ganzer   weiterer  Thätigkeit  sichtbar, 
wenn   er   auch   nicht    ihre   kirchlichen   und  politischen  Ansichten   theilte. 
Die  Vorliebe  fär  die  staufische  Zeit  geht  auf  F  ick  er   zurück,    der   uner- 
müdliche Spüreifer  nach  ungedruckten  Urkunden,   zumal  in  den  späteren 
Jahren,  erinnert  an  Stumpf,   und  so  ist  der  Schlufs  gerechtfertigt,    dafs 
er,  wie  er  denn  eine  durchaus  klare  und  zielbewufste  Natur  war,  die  be- 
stimmende  Richtung   für    das   Leben    schon    in    jenen   ersten   Innsbrucker 
Semestern    erhalten  hat.     Jedenfalls   übten    die   beiden  folgenden   Univer- 
sitäten,  die  er  alsdann   noch   besuchte,   Göttingen  und  Berlin,  einen   viel 
geringeren  Einflufs  auf  ihn  aus,  der  so  früh  fertig  war.    In  dem  gefeierten 
Seminar  von  Waitz  trat  er  wenig  hervor  und  betrachtete  sich  nie  eigentlich 
als  dessen  Schüler.    In  Berlin  hörte  er  (zugleich  mit  dem  ihm  befreundeten 
Th.  Lindner),  wiewohl  nicht  sehr  eifrig,  Ranke,  Köpke  und  Jaffe,   und 
knüpfte  besonders  mit  dem  Letzteren  persönliche  Beziehungen  an. 

Kurze  Zeit  nach  Abschlufs  seiner  Studienjahre  trat  Scheffer  1866 
mit  seiner  ersten  gröfseren  litterarischen  Leistung  hervor,  die  er  seinem 
Meister  Ficker  zueignete.  Unter  dem  Titel  »Friedrich's  I.  letzter  Streit 
mit  der  Kurie «  behandelte  sie  die  Beziehungen  Rothbarts  zu  den  Päpsten 
nach  dem  Frieden  von  Venedig,  mit  welchem  Abschlufs  sonst  wohl  das 
Interesse  an  diesem  gewaltigen  Drama   zu    erlöschen  pflegt.     Dieses    Buch 


Gedächtnifsrede  auf  Paaid  Scheffer-Bokhorst.  5 

zeugt  von  voller  Beherrschung  des  Quellenstoffes,  der  mit  durchaus  selb- 
ständiger Kritik  geprüft  wird  und  von  ungewöhnlicher  Reife  der  Auffiissung. 
Die  Beilagen  beschäftigen  sich  mit  einzelnen  wichtigen  Fragen,  wie  über 
die  Schenkung  der  gro&en  Gräfin  Mathilde  an  den  Papst,  auf  welche  er 
später  noch  öfter  zurückkam,  und  über  das  Spolien-  und  Regalienrecht 
unserer  Kaiser.  Es  ist  bezeichnend  für  den  jugendlichen  Verfasser,  dafe 
er  seine  Forschungen  gerade  mit  einem  Kampfe  gegen  die  Curie  eröffnete, 
und  zwar  vom  ghibellinischen,  deutsch •  patriotischen  Standpimkte  aus,  der 
ihm  vollkommen  selbstverständlich  erschien,  denn,  wie  er  später  einmal 
sagt ,  Jeder,  der  einen  offenen  Kopf  und  ein  empfängliches  Herz  hat,  mufste 
durch  tieferes  Eindringen  in  die  staufisehe  Zeit  in  der  ghibellinischen  Auf- 
fassung nur  befestigt  werden.  Wie  in  allen  seinen  späteren  Arbeiten ,  so  ist 
auch  schon  in  dieser  die  Sprache  mit  Sorgfalt  und  Geschmack  gehandhabt. 
Als  Lehmann  ihm  in  der  Rezension  einer  anderen  Schrift  einmal  vorwarf, 
dass  sein  Stil  etwas  Manierirtes  habe  und  den  Periodeubau  vermeide,  nahm 
Scheffer  sich  zwar  seine  sachlichen  Einwendungen  wenig  zu  Herzen,  wohl 
aber  diesen  Tadel  seines  Stils,  den  er  verbessern  zu  wollen  erklärte.  War 
er  doch  ein  grofser  Verehrer  Groethe's  und  auch  Verse  entströmten  bis- 
weilen seiner  Feder.  Gleichsam  als  eine  Ergänzung  jenes  Buches  erschien  im 
8.  Bande  der  Forschungen  zur  deutschen  Geschichte  (1868)  die  schon  auf 
der  Universität  begonnene,  ursprünglich  zur  Dissertation  bestimmte  Arbeit 
» Deutschland  und  Philipp  II.  August  von  Frankreich  in  den  Jahren  1 1 80 
bis  1224«,  nicht  minder  von  dem  patriotischen  Gesichtspunkte  beherrscht. 
Dafs  der  noch  ganz  unbekannte  Verfasser  für  sein  erstes  Buch  einen 
angesehenen  Verleger  fand,  hatte  er  der  Empfehlung  Ficker's,  der  ihm 
eine  bei  Anfängern  ungewöhnliche  Gründlichkeit  und  Sauberkeit  der  Arbeit 
nachrühmte,  zu  verdanken.  Durch  ihn  kam  er  zu  dem  in  seinen  Studien 
ihm  nahestehenden  Dr.  Töche-Mittler,  bald  seinem  Freunde.  Doch  noch 
auf  andere  Weise  sorgte  Ficker  als  väterlicher  Freund  für  ihn  und  bethä- 
tigte  ihm  sein  Vertrauen  gerade  in  dem  Augenblick,  als  jener  Onkel  ge- 
nöthigt  war,  ihm  seine  Unterstützung  zu  entziehen  und  er  sich  deshalb  zum 
Oberlehrerexamen  entschlossen  hatte.  Ficker  bot  ihm  aus  dem  von  ihm  ver- 
walteten Nachlasse  Böhm  er 's  die  neue  Bearbeitung  der  Kaiserregesten  von 
Lothar  bis  auf  Heinrich  VI.  (11 25 — 1197)  an,  die,  indem  sie  nach  einem  er- 
weiterten Plane  mit  den  Auszügen  aus  den  Urkunden  Nachrichten  aus  den 
Chroniken  verbanden ,  ein  vollständiges  Gerippe  der  Geschichte  dieser  Zeit 


a  E.  Dümmler: 

geben  sollten.  Inzwischen  fehlte  unserem  Freunde  doch  noch  die  för  sein 
weiteres  Fortkommen  unerläisliche  Doctorwürde.  Aufgemuntert  von  Georg 
Voigt,  der  sein  Buch  als  ein  musterhaftes  bezeichnete,  meldete  er  sieh 
in  Leipzig  auf  Grund  desselben  statt  einer  Dissertation  zur  Prüfung  und 
wurde  nach  befriedigendem,  aber  nicht  glänzendem  Examen  am  i.  Juni  1867 
ohne  alle  Förmlichkeit  promovirt. 

Betraut  mit  den  Regesten,  die  ihm  ein  mäfsiges,  far  seine  geringen 
materiellen,  Bedürfnisse  ausreichendes  Jahresgehalt  (von  400  Thalem)  ein- 
trugen, siedelte  Scheffer  nunmehr  auf  Ficker's  Wunsch  nach  München 
über  mit  der  unausgeföhrt  gebliebenen  Absicht,  sich  dort  nebenher  zu 
habilitiren,  denn  mit  Freuden  liefs  er  den  Gedanken  an  die  Schulmeisterei, 
auf  die  er  schon  angefangen  hatte  sich  vorzubereiten,  als  eine  traurige 
Noth wendigkeit  fiihren.  Nach  einer  harten  Jugend,  tausend  Sorgen  und 
Nöthen,  umgab  ihn  jetzt  zum  ersten  Male  ein  gewisses  Behagen  des  Da- 
seins. Er  fand,  dafe  er  bisher  zu  sehr  zur  Kopf  hängerei  geneigt,  zu  viel 
Ernst  in's  Leben  hineingetragen  habe:  München  erschien  ihm  ganz  als  der 
Ort  zu  einem  angenehmen  und  thätigen  Leben  mit  nicht  Übeln  Leuten.  Von 
den  dortigen  Gelehrten  trat  ihm  besonders  auch  Wilhelm  Giesebrecht 
näher,  dessen  liebenswürdiges  Entgegenkommen  er  dankbar  empfand,  ohne 
sich  an  seinen  kleinen  Schwächen  zu  stofeen. 

Die  trockenen,  etwas  einförmigen  Regesten  aber,  denen  er  die  Hälfte 
seiner  Arbeitszeit  widmen  sollte ,  vermochten  sein  wissenschaftliches  Interesse 
bei  Weitem  nicht  auszufüllen.  Er  liebte  es,  Abstecher  zu  machen  und  seinem, 
wie  er  ihn  selbst  nennt,  unseligen  Hange  folgend,  bald  hier  bald  dort 
herum  zu  bummeln.  Gerade  das  Vorbild  Giesebrecht's,  der  einst  durch 
seine  gelungene  Herstellung  der  verlorenen  Altaicher  Annalen  grofsen  Ruhm 
geerntet,  bewog  ihn.  Ähnliches  für  seine,  an  älteren  geschichtlichen  Über- 
lieferungen arme,  westfillische  Heimat  zu  versuchen,  denn  er  hielt  far  noth- 
wendig,  dafe  die  mittelalterliche  Quellenforschung  sich  nicht  mehr  damit 
begnüge,  das  Vorhandene  an  sich  zu  prüfen,  vielmehr  müsse  sie  sich  be- 
mühen, durch  das  Vorhandene  zum  Verlorenen  zu  gelangen,  um  dieses 
nach  Umfang  und  Werth  zu  bestimmen.  So  entstand  sein  glänzender  Ver- 
such einer  Herstellung  der  Paderborner  Annalen  von  794 — 11 90  mit  aus- 
fuhrlicher Begründung  und  Mittheilung  des  Textes ,  soweit  er  sich  aus  den 
Ableitungen  gewinnen  läfet.  Gegenstand  mancher  Angriffe,  auch  von  Waitz, 
und  in  einzelnen  Punkten  nochmals  gegen  dieselben  vertheidigt  und  ergänzt. 


Gedächtnißrede  auf  Paul  ScAeffer-Boichorst  7 

hat  dieser  kühne  Wurf,  der  mit  dem  grö&ten  Scharfsinn  durchgeführt  war, 
sich  im  Wesentlichen  vollständig  behauptet  und  die  Erkenn tnifs  der  Reich s- 
wie  der  westfälischen  Geschichte  in  hohem  Mafse  gefördert.  Dafs  diese 
streng  gelehrte  Arbeit  (im  Jahre  1870)  gedruckt  werden  konnte,  war  aber- 
mals das  Verdienst  Ficker 's,  der  aus  dem  Nachlais  Böhmer's  die  Mittel 
dazu  gewährte. 

Noch  bevor  die  Paderborner  Annalen  vom  Stapel  gelassen  waren, 
wendete  Scheffer  sich  einem  völlig  anderen  Gebiete  zu,  das  für  ihn  be- 
sonders folgenreich  werden  sollte,  der  Geschichte  von  Florenz.  Kurz  vor- 
her, im  Jahre  1868,  hatte  ein  Berliner  Gelehrter,  Wilhelm  Bernhard!, 
durch  eine  scharfsinnige  Untersuchung  Aufsehen  erregt,  welche  den  bald 
allgemein  anerkannten  Beweis  führte,  dafs  der  angeblich  älteste  Geschicht- 
schreiber in  italienischer  Sprache,  der  vermeintliche  Zeitgenosse  Manfred's 
und  Konradin's,  Matteo  di  Giovenazzo,  eine  moderne  Fälschung  sei,  ob- 
gleich seine  sogenannten  Diumali  leider  sogar  in  die  Monumenta  Germaniae 
Aufnahme  gefunden  hatten.  Diesem  Beispiele  folgte  Scheffer  und  zeigte 
in  ebenso  unbestreitbarer  Weise ,  dafs  die  florentinischen  Geschichtschreiber 
Ricordano  und  sein  Neffe  Giacotto  Malespini,  weit  davon  entfernt  Quellen 
des  Giovanni  Villani  gewesen  zu  sein,  wofür  sie  sich  ausgaben,  diesen 
vielmehr  nur  ausgeschrieben  hatten  und  im  Interesse  gewisser  florentiniseher 
Familien,  namentlich  der  Bonaguisi,  gefälscht  seien.  Auch  hier  wie  bei 
Bernhard! 's  Abhandlung  verstummte  rasch  der  anfängliche  Widerspruch, 
selbst  auf  italienischer  Seite,  und  nur  einzelne  Ergänzungen  folgten  nach. 

Die  zu  grofse  Fülle  geistiger  Anstrengung  vielleicht  warf  Scheffer  nach 
diesen  zum  Theil  mit  Dampfkraft  betriebenen  Arbeiten  aufs  Krankenlager, 
und  gerade  während  des  Krieges  im  Herbste  1870  machte  er  in  der  Heimat 
ein  so  schweres  Nervenfieber  durch ,  dafs  er  schon  völlig  aufgegeben  war. 
In  seiner  Jugend  war  er  von  schwankender  Gesundheit,  so  dafs  die  Ärzte 
ihm  ein  frühes  Ende  prophezeiten,  und  schon  als  Student  auf  den  Gebrauch 
nur  Eines  Auges  angewiesen.  Als  ein  spindeldürres  Männchen  von  schlotte- 
riger Haltung,  so  schildert  er  sich  damals  selbst.  Kaum  wiedergenesen 
von  jener  langwierigen  Ejrankheit,  veröffentlichte  er  Untersuchungen  über 
Nienburger  und  Halberstädter  Annalen,  die  mit  Paderborn  zusammenhingen, 
namentlich  aber  auch  über  die  Pisaner  Annalistik  bis  in's  14.  Jahrhundert, 
da  er  aus  lauter  Bummellust,  wie  er  sich  ausdrückte,  eines  Tages  unter 
die  Afrikaner  gegangen  war. 


8  E.  Düvmler: 

Veranlafet  durch  seinen  Freund  Laub  mann  kehrte  Scheffer  zunächst 
wieder  nach  Westfalen  zurück:  mit  der  von  Jenem  besorgten  Ausgabe  eines 
lateinischen  Gedichtes,  in  welchem  der  Schulmeister  Justinus  den  Herrn 
Bernhard  zur  Lippe  (1140 — 1224)  verherrlichte,  sollte  eine  Darstellung 
seines  Lebens  nach  den  sehr  lückenhaften  Quellen  verbunden  werden.  Es 
war  ein  Mann  von  sehr  wechselnden  Schicksalen,  dem  hier  ein  Denkmal 
gesetzt  wurde:  zuerst  als  Krieger  und  Ritter  begründete  er  eine  grofse  Fa- 
milie, um  sodann  Mönch,  endlich  sogar  Bischof  im  fernen  Liefland  zu  wer- 
den, wohin  sein  Thatendrang  ihn  mit  den  Ejreuz&hrem  geföhrt  hatte.  Wenn 
Scheffer  mit  Bezug  auf  ihn  sagt,  dais  die  Söhne  der  rothen  Erde  rauhe 
Männer  waren ,  die  sich  auf  Manches  verstehen  mochten ,  nur  nicht  auf  Frie- 
den, so  trifft  das  Letztere  wenigstens  einigermafsen  auf  ihn,  den  echten 
Westfäilen,  zu,  da  er  stets  eine  streitlustige  Feder  ftlhrte,  seine  Ansichten 
gern  im  Gegensatz  zu  denen  Anderer  entwickelte.  Auf  die  heimatliche  Ge- 
schichte ist  er  später,  um  dies  hier  vorweg  zu  nehmen,  nur  einmal  noch  zu- 
rückgekommen, indem  er  das  Leben  des  Bischofs  Benno  von  Osnabrück  aus 
der  Zeit  Heinrich's  IV.  gegen  Philippi's  Angriff  als  im  Wesentlichen  echt 
und  zuverlässig  in  Schutz  nahm.  Hier  gerade  ging  er  in  der  Vertheidigung 
etwas  zu  weit  und  bestätigte  durch  sein  eigenes  Beispiel  die  Richtigkeit 
des  von  ihm  ausgesprochenen  Satzes,  daiä  es  immer  viel  leichter  sei,  die 
Unechtheit  eines  Aktenstückes  darzuthun,  als  zwingende  Beweise  für  die 
Echtheit  zu  erbringen. 

Inzwischen  hatte  sein  Schicksal  eine  neue  Wendimg  genommen.  In 
den  behaglichen  Münchener  Aufenthalt  fiel  im  November  des  Jahres  1871 
die  durch  Wilhelm  Arndt  übermittelte  Aufforderung  von  Pertz,  als  Mit- 
arbeiter in  den  Dienst  der  Monumenta  Germaniae  zu  treten.  Die  Entscheidung 
blieb  nicht  lange  zweifelhaft,  und  da  auch  Ficker  zustimmte,  trat  Scheffer 
zu  Neujahr  1872  in  das  neue  Verhältnifs  ein,  die  600  Thaler  Gehalt,  erst 
später  auf  1000  gesteigert,  aber  doch  ungenügend  befunden,  brachten  ihm 
eine  kleine  Verbesserung,  ungleich  wichtiger  und  grofsartiger  erschien 
ihm  die  Thätigkeit  an  den  Monumenten,  als  seine  bisherige;  Berlin  als 
eine  Stätte  ernster  Arbeit  —  »der  Eine  spornt  den  Andern«,  so  schildert 
er  es  selbst  —  lockte  im  Gegensatze  zu  dem  etwas  läfslicheren  München. 
So  ging  er  in  den  neuen  Lohndienst  über,  die  Menschen  von  ganzem 
Herzen  beneidend,  denen  die  Wissenschaft  keine  milchgebende  Kuh  zu 
sein  brauchte. 


Gedächtnifsrede  auf  Paul  Scheffer-Boichorst.  9 

Während  sich  Scheffer  in  Berlin  zu  Arndt  niemals  recht  hingezogen 
fühlte,  verband  ihn  dagegen  bald  innige  Freundschaft  mit  dem  anderen  Mit* 
arbeiter,  Ludwig  Weiland.  Der  Zufall  fügte  es,  dals  seine  Thätigkeit 
dem  letzten  Bande,  den  Pertz  selbst  noch  1874  herausgab,  dem  23.  der 
Scriptores,  gelten  sollte  und  dafs  er  mit  der  höchst  umfangreichen,  aus  zaJil- 
reichen  Quellen  zusammengesetzten,  niederländisch-französischen  Weltchronik 
des  Albrich  von  Trois-Fontaines  (bis  1 241)  —  sie  füllte  über  300  Folioseiten  — 
gerade  den  Beschluß  dieses  Bandes  bildete.  Mit  Befriedigung  blickte  er  auf 
diese  mühsame  Arbeit  zurück,  und  in  der  in  Rödelheim,  dem  Landsitze 
Stumpfs,  am  i.  August  1873  geschriebenen  Vorrede  erkannte  er  mit  warmen 
Worten  die  hohen  Verdienste  an,  die  sich  Pertz  um  die  Quellenforschung 
erworben.  In  Wirklichkeit  freilich  erschien  er  ihm  als  eine  Mumie ,  die  bald 
zusammenfallen  muiste ,  und  die  Monumentisten  als  eine  in  Anarchie  lebende 
hirtenlose  Schaar.  Schon  bereitete  sich  die  neue  Ordnung  der  Dinge  vor,  die 
durch  die  Berliner  Akademie  undWaitz  begründet  wxu-de.  In  diese  aber  ging 
von  den  letzten  drei  Mitarbeitern  der  alten  Zeit  für  kurze  Frist  nur  Weiland 
noch  über.  Arndt  zog  sich  zurück,  und  Scheffer  folgte  Ostern  1875  einem 
Rufe  nach  Giefeen,  der  ihm  wie  eine  Erlösung  kam,  obgleich  er  nur  aufser- 
ordentlicher  Professor  mit  bescheidenem  Gehalte  wurde ;  aber  er  war  ja  auch 
niemals  Privatdocent  gewesen.  Zur  Mitwirkung  an  den  Moniunenten  ist 
Scheffer  weder  damals  zurückgekehrt,  obgleich  Waitz  mit  ihm  ernstlich 
über  eine  Ausgabe  der  italienischen  Chroniken  des  13.  Jahrhunderts  ver- 
handelte, mit  denen  er  innig  vertraut  war,  noch  auch  später,  als  die  Central- 
direction  in  Berlin  ihn  1891  zu  ihrem  Mitgliede  gewählt  hatte.  Wir  können 
ihm  aber  nicht  zustimmen,  wenn  er  gelegentlich  das  Textemachen  fiir  eine 
wissenschaftliche  Handlangerei  erklärte. 

Der  Berliner  Aufenthalt  hatte  indessen  nicht  blofs  der  Chronik  Albrich's 
gegolten ,  auch  nicht  so  sehr  den  Kaiserregesten ,  welche  damals  geruht  zu 
haben  scheinen ,  sondern  vor  Allem  der  Fortsetzung  der  so  verheilsungsvoll 
eröffneten  »Florentiner  Studien«  (Leipzig  1874),  obgleich  ihnen  nur  die  Mufse- 
stunden  gewidmet  wurden.  Die  Monumente  selbst  führten  ihn  zu  einer  Unter- 
suchung über  eine  verlorene  Urgeschichte  von  Florenz ,  Gesta  Florentinorum, 
deren  Spuren  bei  späteren  Benutzem  hervortreten.  Auf  dem  mit  den  Malespini 
betretenen  Wege  fortschreitend,  gelangte  er  sodann  zu  einem  höchst  über- 
raschenden Ergebnifs.  Wie  ihn  nämlich  die  Beobachtung,  dafs  diese  von 
Villani  abhängen,  nicht  umgekehrt,  zur  Entdeckung  ihrer  Unechtheit  ge- 

GedäcMmfsreden,    1902,    L  2 


10  E.  Dümmler: 

fährt  hatte,  so  glaubte  er,  eine  ähnliche  Beobachtung,  nämlich  Benutzung 
Villani's,  bei  Dino  Compagni,  dem  Zeitgenossen  Dante's,  den  man  wohl 
den  Florentiner  Thukydides  oder  Sallust  genannt  hat,  anstellen  zu  können. 
Er  entdeckte  in  dieser  nach  Sprache  und  Darstellung  för  wahrhaft  classisch 
gehaltenen  Zeitgeschichte  so  viele  Fehler,  Unkenntnifs  und  Auslassungen 
bei  Ereignissen,  an  denen  der  Verfasser  als  hochstehender  Staatsmann 
selbst  mitgewirkt  hatte  oder  die  er  als  Zeitgenosse  genau  kennen  mufste, 
dafs  er  sich  berechtigt  glaubte ,  ihn  als  Fälschung  mit  Malespini  auf  Eine 
Stufe  zu  stellen.  Er  äufserte  die  kühne  Zuversicht,  daCs  Dino's  Name 
aus  der  historischen  Litteratur  gestrichen,  dais  sein  Werk  zum  Kehricht 
geworfen  werden  müsse.  Während  einige  italienische  Gelehrte  auf  seine 
Seite  traten,  zürnten  andere  begreiflicherweise  dem  kecken  Ausländer, 
der  gleichsam  einen  Nationalheiligen  zu  erniedrigen  strebte.  In  Deutsch- 
land überwog  zunächst  die  Zustimmung.  Einen  vermittelnden  Rettungs- 
versuch Hegel's  (1875),  obwohl  er  im  Einzelnen  manches  Gute  bot,  er- 
achtete Scheffer  keiner  ernsten  Widerlegung  werth,  er  liefs  ihn  im  All- 
gemeinen kalt.  Derselbe  wurde  bald  in  den  Schatten  gestellt  durch  das 
gewaltige  Aufgebot  von  Material,  welches  Isidoro  del  Lungo  1879  bis 
1880  zur  Rettung  Dino's  in  einem  dreibändigen  Commentare  zu  Tage 
förderte.  Nach  einigen  weiteren  Erörterungen  gelang  es  ihm,  Scheffer 
endlich  das  Greständnifs  abzunOthigen,  dafs  ein  in  seinem  Kerne  echtes, 
allerdings  von  unberufenen  Händen  überarbeitetes  Werk  Dino's  unter 
seinem  Namen  auf  uns  gelangt  sei.  Sein  Irrthum  aber,  den  er  so  mit 
der  ihm  eigenen  Ehrlichkeit  vollkommen  zugestand,  hatte  sich  zu  seinem 
Tröste  in  hohem  Grade  förderlich  ftlr  die  historische  Erkenntnifs  er- 
wiesen, indem  er  zu  einem  sehr  vertieften  Studium  der  Zeiten  Dante's 
hinführte. 

Wie  die  Beschäftigung  mit  der  Geschichte  von  Florenz  mit  der  Lieb- 
haberei für  Dante  zusammenhing,  so  brachte  sie  als  nachreifende  Frucht 
noch  ein  Buch  hervor,  das  unter  dem  Titel  »Aus  Dante's  Verbanmmg« 
(Strasburg  1882)  in  anmuthig  erzählender  Form  eine  Reihe  von  mehr 
positiven  Aufsätzen  über  diesen  grofsen  Dichter  zusammenfafste :  seine 
Familienverhältnisse,  sein  Aufenthalt  in  Ravenna,  die  Abfassungszeit  der 
Schrift  über  die  Monarchie,  die  Echtheit  seiner  Briefe  an  Cangrande  von 
Verona  und  an  Guido  von  Polenta,  Kritik  von  Boceaccio's  Dantebiographie 
werden   hier  eingehend   erörtert,    ohne   doch   für   diese  vielfach  streitigen 


Gedächtnifsrede  auf  Paul  Scheffer-Boicharst  11 

Fragen»  welche  in  auffallend  consenratirem  Sinne  behandelt  werden,  die 
Zustimmung  der  Danteforscher  durchweg  zu  erringen. 

Bevor  wir  unsem  Freund  auf  seinem  Lebenswege  weiter  begleiten, 
muls  jedoch  hier  hervorgehoben  werden»  dals  namentlich  seit  dem  Mün- 
chener Aufenthalte  neben  seinen  eigenen  Arbeiten  eine  Reihe  von  Rezen- 
sionen einherläuft,  die  durchaus  zu  den  eigenthümlichen  und  werthvoUen 
Blüthen  seines  Geistes  gehören.  Indem  er  nicht  leicht  die  Grenzen  des 
ihm  genauer  vertrauten  Gebietes  überschritt,  rezensirte  er  innerhalb  des-» 
selben  gern  und  scharf  und  mit  genauester  Sachkenntnüs ,  niemals  boshaft, 
doch  oft  sehr  witzig.  Durch  einzelne  selbstftndige  AusfiUirungen  belehrte 
er  stets  —  ich  erinnere  an  seine  Besprechungen  von  Schum,  Winkel- 
mann,  Dove,  Enöpfler,  Hug — ;  doch  erntete  er  mit  dieser  Bemühung 
selten  Dank.  Bei  diesem  Anlais  berief  er  sich  wohl  in  beherzigenswerther 
Weise  »auf  den  berechtigten  Anspruch  des  Kritikers,  dals  man  ihm  sein 
Lob  auf's  Wort  glauben  solle,  wenn  er  den  Tadel  begründet  hat,  denn 
es  sei  das  Recht  der  Kritik,  das  Lob  im  Allgemeinen  auszusprechen,  den 
Tadel  müsse  sie  im  Einzelnen  begründen«. 

Nachdem  die  akademische  Wirksamkeit  in  dem  kleinen  GieCsen  gerade 
nur  ein  Jahr  gedauert  hatte,  folgte  ihr  ein  viel  glänzenderer  Wirkungs- 
kreis an  der  verjüngten  Strafsburger  Universität,  woselbst  durch  Weiz- 
säcker's  Fortgang  nach  Göttingen  das  Mittelalter  frei  geworden  war.  Dals 
die  Lehrthätigkeit  Scheffer's  auf  dieses  sich  beschränken  durfte,  weil 
die  neuere  Geschichte  in  Baumgarten's  bewährten  Händen  lag,  entsprach 
ebenso  sehr  seiner  Neigung  wie  dem  vorwaltenden  Bedürfiiife.  Diesen 
Rahmen  aber  suchte  er  möglichst  vollständig  auszuftUlen,  und  so  las  er 
als  grö&ere  vierstündige  Vorlesungen  die  politische  und  die  Verfassungs- 
geschichte der  germanischen  und  romanischen  Völker  im  Mittelalter,  die 
deutsche  Geschichte  von  ihren  Anföngen  bis  zur  Reformation,  geschieden 
durch  das  Interregnum,  Geschichte  der  deutschen  Cultur  im  Mittelalter  und 
endlich  noch  als  kleinere  Vorlesung  Verfall  der  Hierarchie  und  Anfänge 
der  modernen  Staaten.  Unter  der  Culturgeschichte  verstand  er  die  Ge- 
schichte der  geistigen  und  moralischen  Ent Wickelung,  nicht,  im  modernen 
Sinne ,  die  durch  das  Wirthschaftsleben  bedingte  seelenlose  materielle  Cultur. 
Diese  blieb  bei  ihm  ganz  im  Hintergrunde,  wie  er  auch  gegen  Lamp- 
recht's  deutsche  Geschichte  sich  durchaus  ablehnend  verhielt.  Seine 
Culturstudien    hat    er    übrigens    litterarisch    nicht    verwerthet    mit    Aus- 

2* 


12  E.  Dümmler: 

nähme  des  Einen  filr  die  Handelsgeschichte  wichtigen  Aufsatzes  Über  die 
Syrer  im  Abendlande  (1885),  der  die  merkwürdige  der  der  Juden  verwandte 
Rolle  beleuchtet,  die  dies  Volk  im  früheren  Mittelalter  gespielt  hat. 

In  Strafsburg  zuerst,  dann  seit  1890  abermals  als  Weizsäcker's  (gest. 
1889)  Nachfolger  in  Berlin,  wo  der  gleiche  Kreis  der  Vorlesungen  fest- 
gehalten wurde,  entwickelte  Scheffer  eine  neue,  sehr  hervorragende 
Seite  seines  Wesens,  eine  ungemeine  Lehrgabe.  Waren  seine  Vorlesungen 
durchweg  sehr  sorgfaltig  ausgearbeitet,  streng  gegliedert  und  äuDserst  be- 
lehrend, wenn  auch  ohne  rednerischen  Schwung  vorgetragen  und  ohne 
Phrasen,  die  er  halste,  so  bildeten  doch  unzweifelhaft  die  Übungen  oder 
das  Seminar  den  bei  Weitem  wichtigeren  Theil  seines  Wirkens.  Auf  dieses 
wandte  er  seine  ganze  geistige  Kraft,  hier  gab  er  sein  Bestes,  indem  er 
mit  seinen  Zuhörern  gemeinsam  arbeitete,  nicht  nur  als  ihr  Lehrer,  sondern 
gleichsam  als  ihr  Erzieher.  Er  las  in  der  Regel  keine  zusammenhängenden 
Quellen,  wie  er  es  vielleicht  in  Giefsen  versucht  hatte,  auch  behandelte 
er  seltener  einheitliche  Themata,  wie  etwa  die  Papstwahlen  des  Mittelalters, 
die  Entwickelung  des  Kurfurstenthums ,  die  deutsch  -  französischen  Beziehun- 
gen im  13.  Jahrhundert,  vielmehr  liebte  er  es,  streitige,  wo  möglich  im 
Augenblicke  viel  umstrittene  Fragen  vorzunehmen,  die  etwa  höchstens  je  drei 
Sitzungen  in  Anspruch  nahmen,  um  dann  durch  andere  abgelöst  zu  werden. 

Die  Mehrzahl  der  ausgezeichneten  Abhandlungen,  die  von  ihm  seit 
1876  veröffentlicht  wurden  —  ein  Recensent  nennt  sie  nicht  übel  edle 
Steine  in  köstlicher  Fassung,  er  selbst  nannte  sie  »Abf&Ue  aus  den  Semi- 
narübungen«, —  sind  von  ihm  zuerst  im  Seminare  behandelt  worden,  und 
hier  wurden  alle  Seiten  der  historischen  Aufgabe  durchgenommen  und  mit 
dramatischer  Lebendigkeit  erörtert,  die  dabei  in  Frage  kommen  konnten, 
wie  Echtheit  oder  Unechtheit,  Abfassungszeit,  Entstehungsort,  Autor, 
Quellenverhältnisse ,  Glaubwürdigkeit  u.  s.  w.  Mit  Vorliebe  und  stets  mit 
eigenthümlicher  Auffassung  kehrte  Scheffer  immer  wieder  zu  dem  Gegen- 
satze zurück,  dem  sein  erstes  Buch  gegolten  hatte,  dem  Gegensatze  von 
Staat  und  Kirche.  Dahin  gehören  seine  Untersuchungen  über  die  Schen- 
kung Constantin's  und  ihren  Zweck,  über  die  Schenkungsversprechungen 
Pippin's  und  Karl's  des  Grofsen  an  den  Papst,  über  das  Wahldecret  des 
Papstes  Nicolaus  II.  und  seine  Verfillschung,  über  die  pragmatische  Sanc- 
tion  Ludwig's  des  Heiligen,  nicht  ohne  Bedauern,  dafs  er  durch  Nachweis 
ihrer  Unechtheit  dem  von  ihm  hochgescliätzten  Gallieanismus  diese  Stütze 


Gedächtnißrede  auf  Paul  Scheffer-Boichorst.  Vi 

entziehen  mufste.  Diesem  Kreise  verwandt  sind  femer  die  Arbeiten  über 
die  vermeintliche  Schenkung  Sachsens  an  den  Papst  und  die  Zinspflicht 
Galliens  an  denselben,  über  die  beabsichtigte  Übertragung  Irlands  an  Eng- 
land durch  Hadrian  IV.,  über  die  Frage,  ob  Gregor  Vn.  Mönch  gewesen 
u.  s.  w.  Unzweifelhaft  berühren  gerade  Fragen  dieser  Art  das  Interesse 
der  Gegenwart  am  stärksten,  weil  es  sich  hier  keineswegs  um  abgethane 
Dinge  handelt,  sondern  um  mittelalterliche  Ansprüche,  die  noch  unmittel- 
bar fortwirken.  Wie  unklug  wäre  es  daher,  wollten  wir,  das  Studium  des 
Mittelalters  vemachlftssigend ,  es  denen  allein  überlassen,  die  es  vornehm- 
lich als  eine  Rüstkanuner  unverjährbarer  klerikaler  Rechte  betrachten. 

Nach  vielen  Unterbrechungen  tauchten  inzwischen  stets  wieder  die 
Regesten  auf,  die  wie  eine  alte  Schuld  auf  Sehe  ff  er  drückten,  da  er 
sie  ja  niemals  ganz  vollendet,  aber  auch  nie  ganz  aufgegeben  hatte,  ob- 
gleich sein  Herz  ihnen  nicht  mehr  gehörte.  Schon  1881,  sodann  1887 
glaubte  er  den  Druck  des  ersten  Heftes  (d.  h.  Lothar 's)  demnächst  beginnen 
zu  können,  aber  er  begann  ihn  nicht,  zog  vielmehr  einige  Jahre  später 
noch  eine  Hülfskrait  heran,  um  endlich  zum  Abschlufs  zu  gelangen.  Auf  seine 
Beschäftigungen  aber  übte  jene  imgelöste  Aufgabe  insofern  einen  starken 
Einflufs,  als  sie  ihn  veranlafste,  zur  Vervollständigung  des  Materials  auf 
die  Jagd  nach  ungedruckten  staufischen  Urkunden  zu  gehen,  wobei  er  sich 
freilieh  keineswegs  auf  das  12.  Jahrhundert  beschränkte,  denn  f&r  die  Neu- 
bearbeitung nur  aus  Büchern  zu  schöpfen,  hatte  er  als  einen  der  Unter- 
suchung sehr  schädlichen  Mangel  empfunden.  Die  entlegensten  Werke  der 
überaus  fruchtbaren  italienischen  Localforschung,  von  denen  sich  kaum  ein 
Exemplar  nach  Deutschland  verirrt  hatte,  stöberte  er  durch  und  verfolgte 
diese  Spuren  in  den  zahllosen  italienischen  Archiven,  denn  er  hegte  früh 
die  bei  den  Deutschen  so  häufige  Vorliebe  für  Italien,  der  er  später  auf 
seinen  alljährlich  unternommenen  Reisen  über  die  Alpen  nachleben  konnte. 
Diese  Funde  liefei-ten  alsdann  zu  den  fruchtbarsten  Untersuchungen  Stoff,  die 
wieder  vor  Allem  dem  Seminare  zu  Statten  kamen. 

Wenn  Scheffer  einmal  bemerkt,  dafs  er  »kein  Diplomatiker«  sei, 
»weder  von  Erziehung  noch  durch  Neigung«  und  sich  ein  andermal  von 
den  »Diplomatikern  strengster  Observanz«  unterscheidet,  so  wollte  er  damit 
vor  Allem  andeuten,  dafs  er  die  Sickel'sche  Schule  mit  ihrem  Studium 
vorzugsweise  der  äufseren  Merkmale  nicht  durchgemacht  habe,  wenn  er 
sie  auch  wohl  zu  würdigen  wufste.     Die  Hauptsache  war  ihm  der  rechts- 


14  E.  Dükmler: 

geschichtliche  Inhalt,  auf  Ghnind  der  inneren  Merkmale  traute  er  sich  auch 
meist  ein  Urtheil  über  die  Echtheit  zu,  denn,  so  meinte  er,  in  der  Diplo* 
matik  gilt  erst  recht  nicht  die  Unfehlbarkeit  des  Einzelnen.  Ein  TheU 
dieser  Arbeiten  wurde  in  dem  Buche  »Zur.  Geschichte  des  12.  und  13.  Jahr- 
hunderts« zusammengefaßt,  das  er  1897  der  Universität  Stralsburg  zur 
2  5  jährigen  Feier  ihrer  Wiedergeburt  widmete.  Zu  mancherlei  höchst  scharf- 
sinnigen Forschungen  gaben  diese  Urkundenfunde  Anlaß ,  über  Fälschungen, 
wie  sie  besonders  auch  in  Italien  häufig  waren,  und  ihre  Beweggründe. 
Sehr  wichtig  war  die  Darlegung,  dais  Friedrich  11.  als  König  von  Sicilien 
bei  seinem  Regierungsantritt  eine  allgemeine  Bestätigung  aller  Privilegien 
seines  Reiches  gefordert  habe,  femer  der  Nachweis  des  Reichenauer  Ursprungs 
der  gefischten  Constitution  Karl's  des  Grofsen  über  die  Heerfahrt  nach 
Italien  u.  s.w.  Dals  Scheffer  in  seinem  Seminare,  das  nicht  auf  Anftmger 
berechnet  war,  eine  Reihe  vortrefflicher  Schüler  ausbildet«,  von  denen 
einige  bereits  Lehrstühle  an  den  Universitäten  rühmlich  inne  haben,  wird 
man  hiemach  verstehen.  Der  propädeutische  Werth,  der  vor  Allem  das 
Mittelalter  zur  Einfuhrung  in  das  Quellenstudium  haben  kann,  gelangte 
durch  ihn,  wie  früher  durch  Waitz,  zur  vollen  Geltung.  Obgleich  er  mit 
Recht  hohe  Ansprüche  stellte,  war  der  Andrang  ein  groiser,  in  Berlin  zum 
Nachtheil  der  Sache  nur  allzu  grolser.  Minder  lobenswerth  muls  ich  es 
nennen,  dafe  er  in  Stralsburg  die  Sitte  einführte,  Dissertationen  von  dem 
Umfange  eines  Buches  zu  fordern  und  zu  fördern.  Er  spottete  wohl  gelegent- 
lich über  die  Dissertatiönchen  und  entwarf  ein  scherzhaftes  Recept,  wie 
dieselben  zu  Stande  zu  bringen  seien;  allein  jene  von  ihm  begünstigte 
Gewohnheit  hat  den  groisen  Nachtheil,  daCs  das  Promoviren  dadurch  leicht 
zu  einem  Privilegium  der  Wohlhabenden  wird,  denn  Ärmere  können  weder 
ihrer  Gesammtausbildung  die  Zeit  entziehen,  die  zur  Herstellung  eines 
Buches  gehört,  noch  ein  solches  auf  ihre  Kosten  drucken  lassen. 

Scheffer  selbst  aber  schrieb  keine  dicken  Bücher,  höchstens  veran- 
staltete er  Sammlungen  einzelner  Aufsätze.  An  diesen,  die,  stets  auf  das 
sorgfaltigste  gefeilt  in  streng  logischem  Aufbau ,  bisweilen  geradezu  spannend 
und  fesselnd  wirken,  bethätigte  er  sein  Talent  und  seine  Liebe  för  die 
sprachliche  Form,  Darstellungen  in  weiterem  Umfange  dagegen  versuchte 
er  nicht,  theils  weil  er  schon  früh  erkannt  hatte,  dafs  er  für  die  alleinige 
Kritik  weit  mehr  Geschick  besitze  als  Ar  die  Darstellung,  theils  aber  hegte 
sein  kritischer  Sinn  auch  ein  gewisses  Miistrauen  dagegen,  denn  es  scheint 


Gedächtnißrede  auf  Paul  Schefer-Boichorst  15 

mir,  so  sagt  er  einmal,  wichtiger  zu  sein,  sich  der  Unkenntnis  über  be- 
deutende Ereignisse  oder  Zusammenhänge  recht  bewufist  zu  werden,  als 
nur  die  zufällige  Überlieferung  vorzutragen,  diese  daför  dann  in  ihrem 
ganzen  Umfange  und  mit  behaglicher  Breite.  Ich  weifs  nicht,  ob  er  mit 
diesen  Worten  auf  Gieseb recht  etwa  anspielt,  jedenfalls  drücken  sie 
deutlich  den  inneren  Gegensatz  der  Anlagen  aus,  welche  erst  vereint  den 
wahren  Historiker  ausmachen. 

Scheffer's  ehrliche  und  feste,  echt  westfälische  Art  gewann  ihm 
überall,  wo  er  wirkte,  das  gröfste  Zutrauen.  Zu  seiner  kritischen  Anlage 
gehörte  ein  gewisser  sarkastischer  Humor,  den  er  nicht  selten  auch  gegen 
sich  selbst  kehrte.  So  rühmte  er  einst  in  seiner  Vorlesung  über  Cultur- 
geschichte  das  Buch  von  Fick  über  die  ehemalige  Spracheinheit  der  Indo- 
germanen  Europas;  er  findet,  dafs  derselbe  ihnen  die  geheimsten  Gedanken 
und  Gefühle  abgelauscht  habe  und  fährt  fort:  »Es  ist  so,  als  ob  der  Ver- 
fasser, ein  alter  Indogermane  —  nebenbei  bemerkt:  ein  etwas  sentimental 
angehauchter  — ,  vor  vielen  locxxx)  Jahren  in  einen  tiefen  Schlaf  ver- 
sunken imd  nun  als  Professor  der  vergleichenden  Sprachwissenschaften  in 
Göttingen  daraus  erwacht  wäre«.  An  einem  anderen  Orte  spricht  er  da- 
von, dafs  man  in  der  Urzeit  ein  heute  sehr  beliebtes  Zugthier,  den  Esel, 
noch  nicht  gezähmt  habe.  »Er  ist,«  so  meint  er,  »erst  viel  später  in  dcis 
Culturleben  hineingezogen,  —  vielleicht  ein  Grund,  dafs  er  noch  heute 
in  der  Bildung  so  weit  zurück  ist,«  wie  denn  auch  Homer  des  Esels  nur 
an  einer  Stelle  gedenke.  Von  seiner  40  Seiten  langen  Vorrede  zum  Albrieh 
bemerkt  er  im  Scherze,  sie  sei  in  einem  Latein  von  so  edler  Urbanität 
verfafst,  dafs  Cicero's  Sprache  daneben  nur  noch  als  Bauemlatein  gelten 
könne. 

Scheffer  ging  einsam  durch  das  Leben  und  wiu-de  deshalb  allmählich 
etwas  Sonderling.  Er  wollte  nur  der  Wissenschaft  leben  und  hielt  sich  trotz 
seiner  warmen  patriotischen  Empfindung  von  der  Tagespolitik  fem.  Nach 
einer  durch  widrige  Familienverhältnisse  getrübten  Jugend  —  sogar  von 
der  einzigen  Schwester  blieb  er  stets  getrennt  —  hatte  er  lange  zu  ringen, 
bevor  er  endlich  als  ein  Dreifsiger  zu  Strafsburg  in  eine  äufserlich  sorgen- 
freie Lage  kam.  Für  geselligen  Umgang  war  er  durchaus  empfänglich, 
auch  mit  Frauen,  deren  mütterliche  Fürsorge  er  oft  dankbar  empfand, 
wissenschaftliche  Interessen  füllten  ihn  niemals  allein  aus  und  auf  seinen 
Reisen  z.B.  verkehrte  er  lieber  mit  anderen  Menschen  als  mit  Zunftgelehrten, 


16  E.  DOmmler: 

dennoch  blieb  er  Junggeselle  und  er  gehörte  ako  wohl  offenbar,  wie  einst 
nach  Goethe's  Zeugnifs  sein  Vorgänger  Schöpflin  in  Straisburg,  zu  den 
nicht  frauenhaft  Gesinnten.  Wenn  er  selbst  einmal  darüber  scherzend  in 
einem  Briefe  ausspricht,  dafs  er  seit  der  Obersecunda  alle  Liebesfähigkeit 
verloren  und  wohl  einen  leidlichen  Verstand,  aber  gar  kein  Herz  habe, 
so  werden  wir  dies  freilich  in  keiner  Weise  unterschreiben  dürfen.  Sein 
Herz  besassen  neben  einzelnen  Freunden  vor  Allem  seine  Schüler,  mit 
denen  er  auch  aufserhalb  des  Seminars,  in  der  Kneipe  wie  auf  Spazier- 
gängen und  Ausflügen ,  einen  traulichen  Verkehr  pflog.  Sie ,  unter  denen 
er  wohl  noch  seine  besonderen  Lieblinge  hatte,  waren  hier  wie  in  Stralsburg 
seine  Familie,  der  er  als  väterlicher  Freund  mit  Rath  und  That  zu  helfen 
bereit  gegenüberstand,  ihnen  zeigte  er  sein  liebebedürftiges  Gemüth.  Aber 
die  Treue,  die  er  gab,  fand  er  auch  bei  ihnen:  an  jedem  Weihnachtsfeste 
wiu-de  ihm  von  unbekannter  Hand  ein  Christbaum  gestiftet;  sein  letztes, 
ziemlich  langwieriges  Krankenlager  umgaben  die  Schüler  mit  der  zartesten 
Sorge  und  Pflege.  Dem  Tode  schon  länger  durch  ein  unheilbares  Leber- 
leiden geweiht,  dem  wiederholtes  Bjränkeln  vorausgegangen  war,  lebte  er 
dessen  unbewufet  noch  mit  dem  Geiste  ganz  in  seinen  Arbeiten ,  bis  ihn  am 
17.  Januar  ein  sanftes  Ende  erlöste.  »Kein  Geistlicher  hat  ihn  begleitet«, 
konnte  es  von  seinem  Begräbnils  wie  einst  von  dem  Werther's  heifsen,  aber 
die  Wissenschaft  hat  reiche  Kränze  an  seinem  Sarge  niedergelegt. 


Gedächtnifsrede  auf  Karl  Weinhold. 


Von 


H*  ERICH  SCHMIDT. 


Gedächtni/sreden.   1902.  IL 


Gehalten  in  der  ofTentlichen  Sitzung  am  3.  Juli  1902 
[Sitzungsberichte  St.  XXXIV.  S.  799]. 

Zum  Druck  eingereicht  am  gleichen  Tage,  ausgegeben  am  17.  Juli  1902. 


Xleute  vor  einundfänfzig  Jahren  hat  hier  Jacob  Grimm  seine  berühmte 
Rede  auf  Karl  Lachmann  gehalten  und  die  Art  des  zum  Herausgeber  ge- 
bomen  Freundes  mit  seiner  eigenen  vergleichend  beide  Hemisphären  der 
Philologie ,  die  formale  imd  die  reale ,  die  doch  kein  rechter  IHiilolog  trennen 
mag,  umschrieben.  Aus  dieser  Heroenzeit  der  deutschen  Alterthumskunde  ragte 
der  verehrungs würdige  Mann,  der  damals  bereits  an  der  vierten  Hochschule 
lehrte  und  dem  jetzt  zwischen  zwei  soviel  jünger  abberufenen  Akademikern 
ein  Valet  erschallen  soll,  in  unsre  Gegenwart.  Schon  der  Gedanke  daran, 
dafs  ihm  Lachmann  persönlich  in  der  Vollkraft  den  Sinn  geschärft,  dafs 
ihm  Jacob  Grimm,  sein  mit  nie  geschwächter  Pietät  gepriesener  Meister, 
weite  Bahnen  erschlossen  und  langhin  freundschaftlichen  Zuruf  gespendet 
hatte,  hob  Karl  Weinhold  vor  den  Nachfahren  empor.  Die  reiche  Ge- 
lehrsamkeit, die  so  extensive  wie  intensive  Arbeit  diu-ch  zwei  Menschen- 
alter, die  Wahrung  einer  fast  die  gesammte  deutsche  Philologie  umfassenden 
Totalität  von  dem  groJ&en  Erblasser  her  in  die  Diadochenzeit  hinein,  das 
tiefe  vaterländisch -religiöse  Wesen  seiner  ganzen  Studien,  die  wirksame 
Energie  endlich ,  mit  der  er  seiner  Jugendliebe  zur  Volkskunde  durch  eigenes, 
aus  vie\jälirigem  Sammeleifer  strömendes  Schaffen  und  von  ihm  gestiftete 
und  beseelte  Organe  diente  —  das  imd  viel  mehr  gab  ihm  gerad  auf  der 
letzten  Wegstrecke  ein  hohes  Ansehen. 

Den  so  grofsen  und  mannigfachen  Ertrag  dieses  langen  rüstigen  Ge- 
lehrtenlebens (26.  October  1823  bis  15.  August  1901)  hier  zu  entrollen  und 
nach  altgermanischem  Brauch  dem  Todten  seine  Waffen  andächtig  in*s  letzte 
Bett  zu  legen,  verbietet  mir,  abgesehn  von  den  viel  engeren  Schranken 
meines  Urtheils,  die  karg  bemessene  Frist.  Nur  ein  unbehauenes  Steinmal 
kann  ich  rasch  errichten,  in  treuer  Dankbarkeit  gegen  den  um  dreifsig  Jahre 
älteren  Nachbar,  den  ich  doch  schon  als  steirischen  CoUegen  und  Freund 
meines  Vaters  im  ersten  Safte  geschaut  habe. 


4  E.  Schmidt: 

• 
Als  der  halbwüchsige  Pastorsohn,  ein  Schlesier  wie  die  Germanisten 

Jacobi ,  Sommer,  Frey  tag ,  Zacher,  von  der  Schulbank  zur  Universität  hin- 
überblickte ,  die  dem  Mittellosen  ein  theologisches  Brotstudium  anwies ,  brach 
er  in  den  Ruf  aus  »Wie  schön  war'  es  zu  studiren,  um  zu  studiren!«,  imd 
Jacob  Grimm's  Name  trat  ihm  sogleich  auf  die  Lippen.  Er  hat  sich  diesen 
Weg  erobert.  Das  deutsche  Studium  ward  und  blieb  ihm  »eine  firomme 
Lust«.  Es  begann  in  Jahren  der  vollen  Ernten,  der  fruchtbaren  Aussaat, 
da  gar  manche  der  uns  jetzt  selbstverständlichen  Hilfsmittel  fehlten,  aber 
der  Reiz,  Neuland  zu  besetzen  und  zu  pflügen,  desto  gröfser  war.  »Die 
Nachwelt,«  so  bekennt  Lachmann's  inhaltschwere  Vorrede  zum  Iwein  1843, 
»die  unser  mühselig  Gewonnenes  schon  fertig  überliefert  empfängt,  wird, 
weil  sie  imsere  Dürftigkeit  nicht  begreift,  unseren  FleiHs  und  imsere  gei- 
stige Anstrengung  nicht  genug  ehren :  dafür  haben  wir  die  herzliche  Lust 
des  ersten  Erwerbes  voraus  gehabt.«  Noch  konnte  Lachmann  seine  bün- 
digen Worte  vom  wahren  Verstehn  an  den  greisen  Mitarbeiter  Benecke  rich- 
ten und  gleichzeitig  den  »Walther«  auf  neue  Fahrt  entsenden,  nachdem 
er  kurz  vorher  Lessing's  Werke  mit  bahnbrechender  Sorgfalt  hingestellt 
und  Gervinus,  unmuthig  zwar,  seine  imposante  Litteraturgeschichte  beendet 
hatte.  Moriz  Haupt's  auf  sicherste  Herrschaft  über  Stil  und  Metrik  gegrün- 
dete mittelhochdeutsche  Texte  erschienen  in  rascher  Folge.  Die  neue  Zeit- 
schrift für  deutsches  Alterthum  stand  auch  den  frisch  antretenden  Jüngern 
offen.  Seit  1840  lebten  die  Brüder  Grimm  in  Berlin,  wo  sie  Lachmann, 
Bopp  im  besten  Mannesalter  fanden.  Jacob  sann  Lieblingsgedanken  und 
Lieblingsirrthümem  zur  Sprach-  und  Culturgeschichte  und  zur  germanischen 
Ethnologie  nach,  der  eben  damals,  durch  Kaspar  Zeufs  angeregt,  der  junge 
MüUenhoff  seine  zähe  Kraft  verlobte.  Die  nordischen  Studien  empfingen 
auch  in  Deutschland  Vorschub,  zugleich  Ausbreitung  im  Unterricht  durch 
ein  zweckmäfsiges  Lesebuch,  Philologen,  Historiker,  Juristen  schlössen  als 
»Germanisten«  einen  Bund.  Die  Rechtswissenschaft,  in  der  Jacob  Grimm 
den  Goldfaden  des  Volksmäfsigen  gesponnen,  durfte  auf  Wilda's  »Strafrecht 
der  Germanen«  stolz  sein.  Jacob's  zweite  Auflage  der  »Mythologie«  (1844) 
rief  eine  ungeheure  sinnige  und  unsinnige  Nacheiferung  hervor;  strengere 
Forscher  mochten  auch  an  Ludwig  Uhland ,  den  Biographen  skandinavischer 
Götter,  anknüpfen  und  wiederum  in  dieser  Zeit,  wo  die  Sammlimgen  zu  jeg- 
licher Volkskunde  so  üppig  in's  Kraut  schössen,  sich  dadurch  angespornt 
fühlen,   dafs  Uhland  —  Dichter  und  Forscher  in  einer  wätj   swie  doch  die 


Gedächtnifsrede  auf  Karl  Weinhold.  5 

namen  zwMe  smt  —  eben  damals  ein  wissenschaftliches  Gebinde  alter  deut- 
scher Volkslieder  als  reife  Frucht  darbrachte.  Den  deutschen  Mundarten 
war  gleichzeitig  mit  dem  Ende  der  Grimmischen  Grammatik,  über  deren 
Wege  und  Ziele  schon  Einzelne  vielverheifsend  hinausstrebten,  durch  Jo- 
hann Andreas  Schmeller's  Bairisches  Wörterbuch  ein  bis  heut  unüber* 
troffenes  Werk  beschert  und  darin,  bei  unbequemer  Anordnung  und  äulser- 
licher  politischer  Abgrenzung,  die  volle  Meisterschaft  über  das  Wort  mit 
lebendigster  Beherrschung  der  Sachen  vermählt  worden. 

Fragen  wir  nun  dieser  flüchtig  angedeuteten  Constellation  gegenüber, 
welche  Leitsterne  Weinhold's  niemals  excentrische  Bahn  bestimmt  haben, 
so  hat  er  1854  ™  Lebensabrifs  für  die  Wiener  Akademie  sich  selbst  zu 
denen  gezählt ,  die  nach  Jacob  Grimmas  Antithese  die  Worte  um  der  Sachen 
willen  treiben;  mit  dem  ausdrücklichen  Beisatz:  dafs  er  die  Worte  nicht 
zurückstelle,  möchten  seine  Arbeiten  beweisen.  Sie  thun  es  reichlich,  zu- 
mal im  grammatischen  Felde.  Doch  wird  Niemand  sagen.  Weinhold  sei 
zum  Herausgeber  geboren  gewesen:  denn  so  fest  er  auf  Lachmann's  Me- 
thode eingeschworen  blieb,  so  emsig  er  in  den  saubersten  Zügen  Manu- 
scripte  copirte,  so  hingebend  er  aufser  Anderem  später  die  althochdeutschen 
Bruchstücke  des  Isidor,  auf  mittelhochdeutschem  Gebiete  die  trockenen 
geistlichen  Dichtungen  Lamprecht's  von  Regensburg  edirte  und  auf  mo- 
dernem für  göttingische  und  rheinische  Poeten  thätig  war  —  die  philo- 
logische Schärfe  der  Recension  und  Interpretation,  die  sichere  Erkenntnifs 
eines  Verfassers  oder  der  Schichten  in  einem  gröfeeren  Werk,  die  unbeirr- 
bare Entscheidung  zwischen  strittigen  Hypothesen  war  nicht  sein  eigent- 
liches Element.  Er  hatte  geringen  Trieb  zur  höheren  Kritik,  stellte  als 
Lehrer  die  Ansichten  lieber  neben  einander  und  sah  selbst  dem  bösen 
Kampf  um  der  Nibelunge  Hort,  der  unsre  deutsche  Philologie  auf  Jahr- 
zehende in  feindliche  Heerlager  spaltete,  mit  verschränkten  Armen  zu;  auch 
darin,  wie  etwa  in  der  schwachen  Lust  an  metrischen  Untersuchungen, 
Jacob  Grimm  ähnlich. 

Man  wird  daher,  trotz  allem  Gewinn  und  bedeutenden  Leistungen, 
Weinhold  nicht  der  engeren  Schule  Lachmann's  beigesellen ,  sondern  mufs, 
wie  er  zum  Uberflufs  mehrmals  selbst  bekräftigt,  in  Grimm  und  Schmeller 
seine  vornehmsten  Führer  erblicken.  Gleich  das  treffliche  SpicUegium  for- 
mularum  ex  antiquissimis  Germanorum  carminäms  (1847)  gab  durch  die  bei- 
gefugten Thesen   des  angehenden  Docenten   in  Halle   ein  Programm:    die 


6  E.  Schmidt: 

höfische  Poesie  hat  keinen  Lebenssaft,  wir  wollen  drum  altnordische  Mytho- 
logie und  Dichtung  pflegen  und  im  Studium  der  Mundarten  auch  unsern 
verdorbenen  Stil  heilen.  Sechs  Jahre  danach  legte  der  Grazer  Professor 
ein  erschöpfendes  Bekenntnifs  ab  über  die  deutsche  Philologie  als  »Er- 
forschung und  Darstellung  der  geschichtlichen  OflFenbarung  des  deutschen 
Geistes«,  worin  er  zwar  Lachmann 's  Kritik  mit  allem  Nachdruck  vertrat 
und  auch  für  die  modernen  Denkmäler  wirksam  sehn  wollte,  germanisches 
Recht  einbezog ,  seinen  grammatischen  Eifer  aussprach ,  besonders  liebreich 
aber  der  Mythologie,  der  Sage,  den  Privatalterthümem  als  wahrem  Deutschen- 
spiegel das  Wort  redete  und  schwungvoll  die  Lehre  vom  deutschen  Leben 
als  hehrste,  keineswegs  der  Zunft  überlassene  Nationalsache  pries.  Ein 
lauter  Nachhall  noch  aus  der  romantischen  Frühe,  aus  Arnim's  Botschaft: 
wir  wollen  Allen  Alles  wiedergeben  .  .  . 

Diese  edle  schwärmerische  Andacht  stand  aber  auf  festem  wissenschaft- 
lichem Grunde.  Der  Jugendplan  einer  populären  deutschen  Edda  —  Wein- 
hold hat  in  Graz  die  schöne  isländische  Saga  von  Gunnlaug  Schlangen- 
zunge stilgerecht  nacherzählt  und  mich  als  Knaben  damit  entzückt  — ,  dieser 
Jugendplan  war  sehr  bald  Studien  über  die  so  schwierige  Vgluspa  ge- 
wichen. Auf  Uhland's  Spur  suchte  er  sogleich  dem  proteischen  Gott  Loki 
die  Räthsel  seines  Werdens  und  Wandels  zu  entringen,  ohne  die  Möglich- 
keit sicherer  Ergebnisse.  Diese  Arbeit  ist  noch  heut  in  Ehren,  sowie 
»Die  Riesen  des  germanischen  Mythus«  für  eine  musterhafte  Monographie 
gelten  und  Weinhold  fortan  bis  zur  letzten  Lebenszeit  mit  Einzelunter- 
suchungen über  »Zwölfgötter«  und  »Vanenkrieg«,  mit  stark  in's  Religiöse 
greifenden  Studien  zu  der  Jahrtheilung  und  den  Monatnamen  oder  speciell 
durch  schlesische  Streifzüge  ein  sehr  kundiger  und  vorsichtiger  Forscher 
geblieben  ist.  Die  wilde  Jagd,  die,  nachdem  Jacob  Grimm's  Genialitat 
den  niedern  Volksüberlieferungen  bis  in  die  Gegenwart  ihre  heidnischen 
Reste  abgefragt,  so  viele  Liebhaber  fortrifs,  das  hitzige  Fieber,  von  dem 
unter  Müllenhoffs  Zucht  ein  Wilhelm  Mannhardt  zu  grofsem  Gewinn  fiir  alle 
Mythenforschung  langsam  genas,  hat  Weinhold  niemals  angesteckt;  auch  da 
nicht,  wo  er  seinem  zum  Schmäher  der  Lokasenna  entarteten  Elementargott 
bis  in's  Kinder-  und  Weihnachtspiel  nachspürte.  Von  Anfang  an  war  er 
sich  des  schlüpfrigen  Nebelpfades  bewufst  und  ablehnend  gegen  J.W.  Wolf 's 
Mummenschanz  oder  Simrock's  principielle  und  einzelne  Fehlgriffe.  Immer 
rechnete  er  damit,    dafs  die  vielen  göttlichen  Wesen   nicht   zugleich   und 


Gedächini/srede  auf  Karl  Weinhold.  7 

fertig  entstanden  seien»  da£s  kein  altgermanisches  Religionssystem  bestehe, 
dafs  unser  so  spärliches  Wissen  von  den  deutschen  Göttern  keine  trüge- 
rischen Anleihen  in  Skandinavien  machen  dürfe,  dafs  es  auf  eine  streng 
abw&gende  Prüfung  der  Stammesculte  ankomme ,  kurz ,  dais  dem  Mythologen 
mehr  als  die  Einbildungskraft  besonnenes  Urtheil  fruchte.  Bei  den  fipüher 
oft  so  verwegen  ausgeprefsten  Märchen  vergafs  auch  er  dann  nicht,  was 
Benfey's  freilich  zu  einseitige  Herleitung  der  abendländischen  vom  indischen 
Herde  den  Deutern  einschärfte.  Wir  haben  ja  in  der  Akademie  erfahren, 
wie  sicher  Weinhold  die  vergleichende  Methode  ai^  dem  Märchen  vom  Esel- 
menschen übte;  wir  haben  gern  gelauscht,  wenn  der  langerprobte,  mit 
allen  Heerstrafsen  und  Pfadchen  vertraute  Führer,  sei  es  durch  die  weite 
Welt  hin,  sei  es  mehr  den  Deutschen  und  ihren  Nachbarn  zugewandt,  uns 
die  Nacktheit  in  heidnischen  Riten,  die  Mystik  der  Neunzahl,  die  Heilig- 
keit der  Quellen,  die  Macht  der  Verwünsch ungsworte,  den  Zauber  der 
Hasel  erschlofs  oder  an  Tiroler  Gemälde  vom  Glücksrad,  Bild  und  Wort 
vereinigend,  symbolisch -typische  Betrachtungen  knüpfte.  Alle  Fäden  der 
Volkskunde ,  dieser  leutseligen  Sammelwissenschaft ,  die  bei  ihm  durch  Ver- 
bindung mit  den  Alterthümem  ihre  feste  Unter-  und  Grundlage  bekam, 
liefen  in  seiner  Hand  zusammen. 

1847,  nachdem  für  die  schlesischen  Volkslieder  schon  vor  längerer 
Zeit  durch  Hoffinann  von  Fallersleben  gut  gesorgt  worden  war,  ging  Wein- 
hold daran,  die  Sagen  seiner  Heimat  zu  bergen.  Wiederum  ein  aus  der 
romantischen  Wiege  Heidelbergs  fortgeerbtes  Streben,  dem  damals,  als 
sollte  Görres'  Wort  von  den  die  zerstobenen  Schwärme  der  Volkspoesie 
noch  rechtzeitig  einfangenden  Bienenvätern  sich  erneuen,  aufser  mancherlei 
Auffrischung  alter  Habe  durch  Simrock  auch  strenge  Fachgelehrte  huldigten. 
Eben  erst  der  darüber  jäh  hingestorbene  Emil  Sommer  in  Thüringen;  ein 
Jahr  früher,  1845,  hatte  MüllenhoflF  sein  herrlich  eingeleitetes  Buch  »Sagen, 
Märchen  und  Lieder  aus  Schleswig- Holstein  und  Lauenburg«  beschert.  Der 
grofse  Krakauer  Brand  vernichtete  1850  mit  manchen  andern  Vorarbeiten 
Weinhold's  auch  seine  schlesischen  Sagen;  doch  in  Graz,  drei  Jahre  danach, 
erschienen  die  »Weihnacht -Lieder  und  Spiele  aus  Süddeutschland  und 
Schlesien«,  worin  nicht  blofs  die  Überlieferungen  eines  Edelpöck,  Hans 
Sachs,  Enaust  zur  Fülle  des  ländlichen  Besitzes  traten,  sondern  der  Blick 
auf  die  altgermanische  Feier  der  Wintersonnenwende,  das  nordische  Julfest 
zurückgelenkt  ward.     Das  schöne  Buch  hat  bald  Ährenleser  und  Schnitter 


8  E.  Schmidt: 

aufgefordert  und  nach  Hartmann's  bairischen  Ernten  endlich  in  Friedrich 
Vogt's  schlesischen  Texten  und  Forschungen  die  beste  Nachfolge  gefunden, 
zur  Herzensfreude  Weinhold's.  Er  selbst  unternahm  von  hier  aus  eine  der 
empirischen  Poetik  willkommene  Beschreibung  der  Komik  im  altdeutschen 
Schauspiel.  Und  hatten  an  jenen  Krippen  Steirer  den  Schlesiern  mit 
rauheren  Lauten  geantwortet,  so  setzte  Weinhold  von  Graz  aus  seine  um- 
fassende Beobachtung  der  Volkspoesie  fort.  Im  Ai)ril  1858  erliefs  der  dor- 
tige Historische  Verein  einen  von  ihm  verfafsten  Aufruf  zur  Sammlung 
weltlicher  und  geistlicher  Volkslieder,  Reime  und  »Gspiele«,  auch  der 
Sprüche  bei  Festen  und  auf  Geräthen  als  Stammbuchblätter  des  Volkes; 
Zartes  und  Reines  sollte  doch  die  derbe  Sinnlichkeit  und  den  Schmutz 
nicht  ausschliefsen.  Weinhold  ist  in  den  letzten  fünfziger  Jahren  manchmal 
auf  schönen  Thal-  und  Bergpfaden  durch  die  Steiermark  gewandert,  süd- 
wärts in's  windische  Gebiet  hinein  und  nordwärts  bis  nach  Mariazell.  Noch 
kurz  vor  seinem  Tode  schrieb  er  dem  alten  Begleiter  Hwof  Worte  frischer 
Erinnerung  an  die  Felsen,  wo  ein  Hirtenbub  glanzäugig  betheuert  hatte, 
die  weiJ&en  seligen  Frauen  einmal  leibhaft  gesehn  zu  haben.  Zum  er- 
schließenden Verkehr  mit  dem  Landvolk,  wie  er  selbst  als  Jüngling  be- 
tont, wenig  geschaflFen,  fühlte  Weinhold  doch  immer,  in  Schlesien  und  in 
Steiermark,  minder  in  Schleswig -Holstein,  wo  ihn  dafür  die  freie  Selb- 
ständigkeit der  Menschen  stark  anmuthete,  endlich  als  dankbar  erquickter 
Feriengast  Salzburgs  und  Tirols  den  aufimuntemden  Reiz,  vom  Studirtisch 
in  die  frische  Natur,  unter  schlichte  conservative  Leute  zu  gehn.  Den 
Genufs  bei  winterlicher  Pflege  solcher  Sommerernten  hat  er  einmal  beredt 
geschildert  (Grenzboten  1857  Nr.  9):  »Hinter  den  Worten  tauchen  freund- 
liche Landschaften,  hübsche  Köpfe,  derbe  Gesichter  auf  und  grüTsen  den 
fröhlichen  Arbeiter.  Denn  ein  Mundartensammler  ist  kein  grämlicher  ver- 
trockneter Geselle;  aus  der  heiteren  Kraft  der  Volksrede  dringt  ihm  un- 
vermerkt Tropfen  auf  Tropfen  in  die  Adern  und  macht  das  dicke  gelehrte 
Blut  lustig.« 

Diese  Worte  stehn  in  einem  belehrenden  und  unterhaltenden  Aufsatze, 
der  gleich  anderen  seinen  Ursprxmg  einem  artigen  Zuruf  Gustav  Freytag's 
verdankt  (24.  October  1856).  Dieser  bat  Weinhold  zu  thun,  was  er  selbst 
meisterhaft  begann,  nämlich  die  aristokratische  deutsche  Philologie  zu  popu- 
larisiren  durch  eine  Reihe  von  Bildern  aus  der  Vorzeit.  Er  appellirte  an 
Weinhold's   in   culturgeschichtliclien  Werken   erwiesene   Begabung.     Denn 


Gedächtnißrede  auf  Karl  Weinhold,  9 

während  der  Grazer  Germanist  vor  dem  Eintritt  des  trefflichen  Erforschers 
fir&nkischen  ehelichen  Güterrechts  Sandhaas  auch  deutsche  Reichs-  und  Rechts- 
geschichte las  und  sich  nicht  blols  dadurch  auf  die  spätere  Ehrenpromotion 
rüstete,  während  er  der  Steiermark  historische  Specialstudien  über  Hugo 
von  Montfort  und  die  Stadecker  gab  oder  einen  Gräberfund  erläuterte »  ge- 
diehen ihm  au&er  jenen  »Weihnachtspielen«  andre  gewichtige  und  im  besten 
Sinn  populäre  culturhistorische  Gaben.  Ein  Brief  an  den  lauteren  Freund 
und  Fachgenossen  Zacher  vom  März  1852  meldet:  »Ich  bin  jetzt  über  den 
Quellenforschungen  zu  einer  Greschichte  des  deutschen  Kriegswesens  und  der 
Heerverfassung«,  vorläufig  bis  zu  den  Karolingern;  »das  Werk  wird  sich 
an  meine  deutschen  Frauen  als  ein  andrer  Theil  meiner  Vorarbeiten  zu 
einer  deutschen  Culturgeschichte  anreihen,  die  ich  mir  als  Hauptaufgabe 
des  Lebens  gestellt  habe«.  Ob  er  dann  von  Peucker's  Absicht  hörte?  1851 
erschien,  lang  vorbereitet  und  den  Krakauer  Flammen  allein  entrissen,  das 
Werk  »Die  deutschen  Frauen  in  dem  Mittelalter.  Ein  Beitrag  zu  den  Haus- 
alterthümem  der  Germanen«,  mit  einem  starken  Einschnitt  beim  Vordringen 
ritterlicher  Geselligkeit,  sonst  der  Innern  Gruppirung  zu  Lieb*  ohne  genaue 
Schranken  nach  Zeit  und  Landschaft.  Alles  darin  ist  aus  den  Quellen  ge- 
schöpft ;  wir  besalsen  noch  nichts  dergleichen.  Die  Schatten  wurden  keines- 
wegs vertuscht,  doch  sollte  diese  dann  soviel,  redlich  und  unredlich,  aus- 
geschriebene Darstellung,  die  von  den  Namen  und  von  den  Göttinnen  ausging 
und  keine  Seite  des  Frauenlebens  versäumte,  in  trüben  Jahren  Deutschlands 
dienen  »zur  Erkenntnifs  der  Vergangenheit,  zum  Trost  der  Gegenwart,  zur 
Hoffnung  für  die  Zukunft«.  Sie  übertrug  mit  priesterlichen  Scheltworten 
und  keuschen  Superlativen  der  Geschichte  nicht  blofe  ein  objectiv  berich^ 
tendes,  sondern  auch  ein  pädagogisch  mahnendes  Amt.  Und  so  hoffte 
Weinhold  1856  durch  die  gedrungnere  Schilderung  des  »Altnordischen 
Lebens«  im  Haus  und  in  der  Volksgemeinde,  ohne  Eingehen  auf  Recht 
imd  Staat,  zugleich  ein  Heilmittel  für  faule  moderne  Zustände  zu  bieten. 
Man  belächle  diesen  Übereifer  nicht ,  der  den  klargegliederten ,  auf  reichster 
Leetüre  wohlfundirten ,  auch  die  Ausgrabungen  thunlichst  berücksichtigen- 
den Capiteln  keinen  tendenziösen  Abbruch  gethan  hat,  wenn  auch  heute  die 
idealisirende  Neigung  stärkeren  Zweifeln  begegnen  mag.  Es  war  Weinhold 
vergöimt,  sein  Frauenbuch  nach  einem  Menschenalter  auf  Grund  ununter- 
brochener Studien  durchweg  zu  bessern  und  zu  bereichern.  Sein  »Altnoi> 
disehes  Leben«  dagegen  hat  ihn  zwar  zu  dem  vorzüglichen  ^o&en  Aufsatz 

Gedächtni/sreden,    1902.    IL  2 


10  E.  Schmidt: 

über  heidnische  Todtenbestattung  gefuhrt  und  das  prüfende  Auge  den  fabehi- 
den  Erzählern  bis  in  die  Polargegenden  folgen  lassen,  es  blieb  jedoch  die 
einzige  Schrift,  die  nicht  im  Handexemplar  fort  und  fort  ergänzt  und  revidirt 
wurde.  Der  Stofif  schwoll  zu  gewaltig  an;  die  Atifgabe,  nach  dem  ersten 
preiswerthen  Wurf  poetische  und  historische  Zeugnisse  der  Privatalterthümer 
behutsam  abzuwägen,  Zustände  Islands  und  der  grofsen  andern  skandina- 
vischen Gebiete  local  und  zeitlich  zu  sichten ,  bedeutende  Fände  mit  eigenen 
Augen  zu  prüfen,  diese  Aufgabe  forderte  den  ganzen  Mann.  Weinhold  hatte 
als  Student  Jacob  Grimm 's  Rath  zu  einer  mehrjährigen  Nordreise  natürlich 
nicht  befolgen  können  imd  ist  in  reifen  Jahren,  wie  ihm  südwärts  hloik 
ein  Stück  Oberitaliens  sich  erschloß ,  nur  flüchtig  in  Kopenhagen  eingekehrt. 
Grofse  Arbeiten  zur  deutschen  Grammatik  haben  sowohl  seine  nor* 
dischen  Studien  als  die  umfassende  Culturgeschichte  zurückgedrängt.  »Der 
Erdgeruch  des  Bodens,  auf  dem  man  geboren,  Vkkt  die  Forschung  am 
besten  gedeihen«,  sagt  die  akademische  Antrittsrede.  So  setzte  der  Gram- 
matiker Weinhold  früh  zu  schönstem  Vollgewinn  in  der  Heimat  ein.  Die 
»Aufforderung  zimi  Stoffsammeln  für  eine  Bearbeitung  der  deutsch -schle- 
sischen  Mundart«  ward  1848  zwar  durch  politische  Stürme  verweht,  aber 
von  Jacob  Grimm  sofort  rühmlich  gebucht  und  eine  Grundlage  filr  die  aus- 
gezeichnete Schrift  »Über  deutsche  Dialektforschung«,  worin  Weinhold  1853 
Laut-  und  Wortbildung  und  Formen  des  Schlesischen  im  beständigen  Hin- 
blick auf  das  Mittelhochdeutsche  —  das  eigentlich  Mitteldeutsche ,  Wilhelm 
Grimm's  und  Pfeiffer's  Revier,  erschien  ihm  noch  nicht  sattsam  aufgeklärt  — 
als  historisch -philologischer  Kenner  behandelte.  Auch  polnische  Einschläge 
wurden  in  Kuhn's  Zeitschrift  untersucht,  einigen  Wörtern  jedoch  dann  ihr 
deutscher  Heimatschein  zurückgegeben.  Musterhafte  »Beiträge  zu  einem 
schlesischen  Wörterbuch«  folgten  1855  und  bewährten  die  Unlösbarkeit 
von  Nennen  und  Kennen,  Wort  und  Sache.  Sie  schöpften  aus  allen  irgend 
zugänglichen  Quellen  der  Umgangssprache  des  Gebirges  und  des  Flachlandes, 
der  Urkunden,  der  gebundenen  und  ungebundenen  Litteratur  vom  Mittel- 
alter bis  zu  Opitz,  von  Gryphius  bis  zu  Freund  Holtei,  dem  Weinhold 
durch  ein  Glossar  bald  denselben  Dienst  erweisen  konnte  wie  Müllenhoff 
seinem  Klaus  Groth.  Als  Quick-  und  Jungbom  ftir  die  kränkelnde  Schriftr 
sprache  pries  er  1853  wie  1893,  der  Meinung  Jacob  Grimm's  vom  Verfall 
treu,  die  Mundart  und  zog  gleich  dem  Meister  alterthümliche  Stempel  der 
neuen  Münze  vor.     Es   gehört  zu  seiner  Charakteristik,    dafs   er  so   hart- 


Gedächtnißrede  auf  Karl  Weinhold,  11 

nackig  stunde  nicht  stände  wie  er  in  Graz  mit  Holtei  und  einem  alten 
GoUegen  sdbdritt  bei  der  ursprünglichen,  obsoleten  Form  Graz  gegenüber 
der  bfturischer  Aussprache  entsprungenen ,  nunmehr  allgemein  giltigen  ver- 
blieb, ja  dafs  nach  seinen  Reformvorschligen  f&r  die  Rechtschreibung  in 
Österreich  (1852),  die  Werth volles  zur  Geschichte  boten,  unsre  im  sieb- 
zehnten und  achtzehnten  Jahrhundert  geeinte  neuhochdeutsche  Schriftsprache 
mittelalterliche  Normen  rückläufig  befolgen  sollte:  man  habe  nicht  blols 
sintßxU  und  eräugnen,  sondern  auch  liecht^  schepfer^  lewe^  wirdig^  wirken  zu 
schreiben,  also  natürlich  auch  zu  sprechen.  Wo  war  ein  Halt  auf  dieser 
schiefen  Ebene  pseudohistorischer  Gebote?  Mich  hat  freilich  noch,  als  ich 
in  Wiirzburg  zu  wirken  versuchte,  die  Zeitschrift  für  deutsches  Alterthum 
zu  den  Formen  Wirzburg  und  uriirken  gezwungen.  Weinhold  selbst  lenkte 
bald  ein.  Er  betrieb,  während  sein  treufleiüsiger  Schüler  Matthias  Lexer 
sich  ganz  ausschlielslich  der  Lexikographie  widmete ,  Sammlungen  zu  einem 
steirischen  Wörterbuch,  die  nun  nach  Graz  heimgewandert  sind  wie  die 
viel  bedeutenderen  zum  schlesischen  nach  Breslau.  Immer  wieder  ist  Wein- 
hold bis  in  die  allerletzte  Zeit,  wo  er  Temporalpartikeln  selbst  bei  den 
heutigen  Dialektdichtern  mit  philologischer  Akribie  beobachtete ,  mit  klei- 
neren und  gröfseren  Beiträgen  der  Herkunft,  den  Urkunden,  den  Sitten, 
den  Märchen ,  den  Ortsnamen ,  dem  Wortschatz  und  Sprachgebrauch  seiner 
lieben  Schlesier  nachgegangen,  deren  Art  und  ein  bischen  Unart  er  als 
junger  Forscher  und  an  Holtei's  achtzigstem  Geburtstage  so  klar  gezeichnet 
hat,  wie  es  nur  ein  unbefangener  Landsmann  vermag  und  darf. 

Aus  dem  ersten  Studium  der  schlesischen  Mundart  erwuchs  allgemach 
der  Plan  einer  grammatischen  Darstellung  der  grolsen  Volksstämme  Deutsch- 
lands. Weinliold  brachte  die  Alemannische  Grammatik  beinah  fertig  nach 
Kiel  mit  und  widmete  sie  Jacob  Grimm  in  dessen  Todesjahr;  die  Bairische, 
dem  Andenken  Schmeller's  zugeeignet,  erschien  vier  Jahre  später.  Für 
diese  gab  es,  obwohl  Schmeller  ja  Osterreich  ausgeschlossen  hatte,  reiche 
Vorarbeit;  jene  mulste  fast  ganz  aus  dem  Rohen  herausgeholt  werden. 
Auch  unterlag  die  Scheidung  der  ältesten  alemannischen  von  den  bairischen 
Denkmälern  grolsen,  nicht  auf  den  ersten  Anhieb  zu  besiegenden  Schwierig- 
keiten, deren  Weinhold '  sich  sehr  wohl  bewufst  war.  In  ein  überkommenes 
Fachwerk  ordnete  sein  eherner,  entsagungsvoller  Fleifs  die  weitschichtigen 
Materialien  zum  Ausbau  der  Grimmischen  Grammatik  und  gab  uns  unent- 
behrliche Handbücher,   ohne  doch  die  Mainlinie  zu  überschreiten.     Daran 

2* 


12  E.  Schmidt: 

ist  nicht  blofs  der  zunächst  geringe  äufsere  Erfolg  schuld  gewesen.  Wein- 
hold*s  Aufsatz  »Uher  den  Beilaut «,  ein  kleiner  Vorläufer  der  Alemannischen 
Grammatik,  scheidet  1860  zwei  Richtungen  des  grammatischen  Betriebes: 
eine  geht  auf  Bearbeitung  des  ganzen  grofsen  Sprachstamms,  der  andern 
hilft  die  Vergleichung  nur  für  die  Etymologie  der  Aste;  dazu  das  un- 
zweideutige Geständnifs:  »Ich  neige  mich  entschieden  der  letzten  zu.  Jene 
ist  kühner  imd  vielleicht  genialer,  diese  nüchterner,  aber  sicherer«.  So 
hatte  sein  Lehrer  und  Freund  Theodor  Jacobi  doch  nicht  gedacht,  als  er 
1843  ^^  Ansicht  und  Methode,  wie  er  ganz  offen  in  dem  Zukunft  ath- 
menden  Vorwort  der  »Beiträge  zur  deutschen  Grammatik«  erklärte,  von 
Grimm  und  Bopp  abwich ,  um  zum  Historischen  und  Allgemeinen  zu  streben, 
statt  einer  history  of  the  dedine  and  the  fall  of  german  language  ein  ge- 
treues Bild  allmählicher  Entfaltung,  die  för  alle  formalen  Verluste  reichen 
Ersatz  schafft,  zu  bieten,  in  die  historische  Grammatik  Physiologie  mid 
Philosophie  hineinzutragen,  »dem  märchenhaften  Es  war  einmal  Grenzen 
zu  setzen,  und  was  äuiserlich  geschieht  aus  dem  geistigen  Proceis,  der 
es  hervorruft,  oder  aus  der  Beschaffenheit  der  menschlichen  Organe  zu 
erklären«.  Weinhold  hat  Jacobi's  Theorie  des  Ablauts  verbreiten  helfen, 
aber  auch  in  den  pietätvollen  Gedenkblättem  von  1874  keine  principielle 
Auseinandersetzung  versucht. 

Ich  kann  nur  mit  Einem  Wort  andeuten ,  welche  Gährung  lange  nach 
Jacobi's  halbvergessenen  Wegweisern  oder  einzelnen  späteren  Thaten  gleich 
Westphal's  Entdeckung  des  gothischen  Auslautgesetzes  namentlich  durch 
Wilhelm  Scherer's  »kühnes  und  geniales«  Jugendwerk  entstand,  wie  die 
germanische  Grammatik  den  innigen  Zusammenhang  mit  der  allgemeinen 
Sprachwissenschaft  und  der  Lautphysiologie  empfing,  was  dann  für  die 
fränkischen  Dialekte  und  die  Geschichte  der  Schriftsprache  erforscht  wurde. 
Weinhold  blieb  bei  seiner  Art  als  einer,  der  »noch  bei  Jacob  Grimm  und 
Bopp  gelernt«  habe.  Die  neue  Bewegung  war  ihm  fremd,  unbehaglich, 
ja  zuwider.  Im  letzten  Jahrzeh end  legte  er  grofses  Gewicht  auf  die  von 
Grimm  mit  dem  einfachen  Satz  abgebrochene  Syntax  und  auf  lexikalische 
Studien:  beide  thun,  so  sagt  der  Berliner  Rector  1 893  imum wunden,  »uns 
jetzt  weit  mehr  noth,  als  die  phonetischen,  die  sicherer  dem  Naturforscher 
und  seinen  Instrumenten  überlassen  bleiben,  und  als  die  problematischen 
Constructionen  einer  vorgeschichtlichen  Sprache«.  Derselbe  Revolutionär 
Scherer  jedoch  rief  (Kl.  Schriften  i,  562;  1866),  als  er  di.e  energische  Frage 


Gedächtnißrede  auf  Karl  Weinhold.  13 

nach  den  letzten  Gründen  des  Lautwandels  aufwarf:  »Wer  von  allen 
Dialektforschem  reicht  in  diese  Tiefe?  Unter  den  Lebenden  darf  sich 
keiner  rühmen,  so  viel  für  die  Grammatik  der.  Mundarten  gethan  zu 
haben  wie  Weinhold.  Aber  niemals  ist  er  in  einseitige  Beschränkung 
gefallen « . 

Von  den  Mühen  am  Torso  der  deutschen  Dialekte  ^  dem  nach  den 
oberdeutschen  kein  mitteldeutscher,  kein  niederdeutscher,  aber  eine  zu- 
sammenfassende mittelhoclideutsche  Grammatik  gefolgt  ist,  erholte  Wein- 
hold sich  durch  mancherlei,  auch  den  Kielern  besonders  dargebrachte 
Nebenarbeiten,  durch  die  lexikalische  Gabe  zum  Jubiläum  seines  Vaters, 
die  Vulfila's  Wortschatz  im  Dienste  des  Christenthums  zeigte,  besonders 
durch  eifrige  Versenkung  in  neuere  Litteratur.  Er  empfing  werthvoUes 
Material  zu  einem  Buch  über  Boie,  den  Begründer  des  Almanachs  und 
des  Deutschen  Museiuns.  Der  wunderliche  Schönborn  trat  in  neue  helle 
Beleuchtung.  Ein  Anreiz  des  Gegensatzes,  den  D.  F.  StrauXs  als  Biograph 
einmal  offen  bekennt,  war  vielleicht  im  Spiele,  wenn  zuchtlose  Stürmer 
und  Dr&nger,  Sprickmann,  der  Maler  Müller,  Ellinger,  Lenz,  neben  zarten 
vornehmen  Naturen  wie  F.  H.  Jacobi,  neben  Goethe's  gebändigter  Geniekraft 
Weinhold  zu  eindringlichem,  fruchtbarem  Studium  anzogen.  Lenzens  wirren 
dramatischen  Nachlafs  und  seine  schlacken-,  doch  auch  goldreiche  Lyrik 
hat  er  aufs  sorgfaltigste  herausgegeben  und  erläutert,  die  Vita  freilich  im 
Gedränge  nimmermüder  anderer  Altersarbeit  nicht  ausfuhren  können ,  aber 
den  ihm  vertrauensvoll  geschenkten,  beständig  gemehrten  Stoffmassen  eine 
sichere  Stätte  mit  derselben  fürsorglichen  Liberalität  angewiesen,  die  seinen 
aufopfernden  Eifer  für  die  Volkskunde  über's  Grab  hinaus  erstreckt.  Ge- 
lassen übte  Weinhold,  Vieles  aufarbeitend,  ein  paar  Haupttheile  seiner 
handschriftlichen  Schätze  der  Zukunft  widmend.  Anderes  vernichtend,  eine 
testamentarische  Thätigkeit. 

Im  Abendscliein  ist  Karl  Weinhold  unsrer  Akademie  beigetreten  und 
hat  ihr  elf  Jahre  lang  gedient,  ohne  jemals  auszuspannen  oder  vom  guten 
Altersrecht  auf  Erleichterung  der  Pflichten  den  geringsten  Gebrauch  zu 
machen.  Sein  Schritt  blieb  rasch  und  elastisch,  die  schlanke  Gestalt  imd 
das  edel  geschnittene  Antlitz  frei  von  greisenhaftem  Verfall.  »Beschäftigung, 
die  nie  ermattet,«  hielt  ihn  aufrecht.  Wenn  ihm  gleich  andern  Veteranen, 
besonders  in  der  Kieler  und  der  Breslauer  Epoche,  so  manches  an  den 
jüngeren  Greschlechtem  von  Germanisten  triftig  oder  untriftig  mifsfiel,  wenn 


14  £.  Schmidt: 

er  als  Festredner  die  neue  Zeit  schalt,  wie  er  doch  schon  die  frühere  ge- 
scholten: Untriuwe  ist  in  der  sdze,  so  verschlofs  er  sich  keineswegs  gegen 
die  Lichtseiten.  Anwandlungen  von  Bitterkeit  wichen  nun,  die  seinen  besten 
Mannesjahren  im  Concordatland ,  unter  dem  Dannebrog,  durch  die  sehr 
lange  Isolirung  an  der  Peripherie  des  deutschen  Gelehrtenreiches  sowie  im 
stillen  Gegensatze  zu  f&hrenden  Mächten  der  Wissenschaft  nicht  erspart  ge- 
blieben waren.  Dieser  Markwart  sah  seine  Hoffiiung  auf  ein  einiges  Deutsch- 
land erfüllt,  und  die  weite  Bahn  von  Halle  über  Breslau  an  die  Jagellonen- 
universität,  von  der  Weichsel  an  die  Mur,  aus  Graz  nach  Schleswig- Holstein 
mitten  in  den  ihn  tief  ergreifenden  Entscheidungskampf  hinein  und  wieder 
gen  Schlesien  führte  Weinhold  endlich  hierher.  Auch  ihm  ward  das  Alter, 
wie  Jacob  Grimm  sagt,  »die  Zeit  einer  im  vorausgegangenen  Leben  nicht  so 
dagewesenen  Ruhe  und  Befriedigung«.  Was  ihn  anfocht,  das  überwand 
er  mit  schweigsamer  Kraft.  Er  war  kein  aufgeknöpfter,  redseliger  Schlesier, 
sondern  meist  sehr  zurückhaltend,  ohne  Bedürfiiils  und  Neigung,  sich  über 
eigene  oder  fremde  Arbeiten,  über  sein  Thun  und  Lassen,  über  Freuden 
und  Leiden  im  Austausch  zu  äu&em.  Seine  Schriften  föhren  geringe  po- 
lemische Elemente;  sein  Briefwechsel  mit  Fachgenossen  geht  selten  auf 
die  Studien  näher  ein.  Aber  diese  spröde  Abschliefsung,  diese  herben 
Mienen  konnten  nur  bei  flüchtiger  Berührung  täuschen  und  ihn  unnahbar 
erscheinen  lassen.  Sie  vertrugen  sich  mit  einer  tiefen  Heiterkeit,  der  wohl- 
thätigsten  Güte,  der  herzlichsten  Treue,  denn  er  war  Vielen  in  Nord  und 
Süd,  Ost  und  West  ein  holder  wine.  Seine  geistigen  und  gemüthlichen 
Interessen  reichten  gleichfalls  noch  weiter,  als  die  Äui^erung  erwies,  und 
der  Poesie  hat  Weinhold,  Graf  Strachwitzens  Jugendfreund,  nicht  nur  for- 
schend und  geniefsend  oder  in  hübschen  Gelegenheitsgaben  gehuldigt,  ohne 
sich  auf  dem  Markte  zu  nennen. 

Unbedingt  zuverlässig,  keines  Wankelwortes  fähig,  trotz  starken  Anti- 
pathien nie  kleinlich  grollend  und  imgerecht  nachtragend,  stolz  ohne  Dünkel, 
conservativ  ohne  reactionäre  Befangenheit,  genau  ohne  Pedanterie,  pflicht- 
streng ohne  Härte ,  erwarb  er  allenthalben  Vertrauen  und  ist  von  den  CoUegen 
der  höchsten  Auszeichnung  gewürdigt  worden,  weil  man  sicher  sein  durfte, 
dafe  Ehrgefühl  der  Nerv  seines  Wesens  sei.  Ohne  sich  einen  Augenblick 
zu  bedenken,  blieb  der  junge  Professor  auf  lange  Jahre  hin  an  einer  ent- 
legenen, ihrer  jetzigen  Blüthe  noch  ganz  fernen  Rumpfuniversität  und  schrieb 
der  ihm  persönlich  wohlwollenden  Regierung,   die   ihm  den  ersten  Lehr- 


Gedächtmfsrede  auf  Karl  Weinhold.  1 5 

stuhl  in  der  Hauptstadt  anbot:  »Ich  kann  mich  nicht  herbeilassen,  auf 
einer  Universität  zu  wirken,  welche  mich  als  Akatholiken  för  unfähig  zu 
ihren  Würden  erklärt  und  im  eigentlichen  Sinne  rechtlos  macht.  Meine 
Freudigkeit  des  Wirkens  in  diesem  Staate  ist  dahin«.  Ein  Mann,  ein  Wort. 
Weinhold's  Leben  hätte  sonst  seit  1851  sich  ganz  anders  gestaltet,  zu- 
nächst viel  günstiger.  Er  hat  endlich  darüber  gescherzt,  dafs  er  nun  schon 
lang  als  pensionirter  Hofrath  und  Ritter  von  Deutschlieb  auf  dem  Alten- 
theil sitzen  würde. 

Wie  wohl  fühlte  er  sich  hier  an  der  Seite  des  Jugendfreundes  Albrecht 
Weber  unter  alten  und  jüngeren  Genossen;  wie  aufmerksam  und  mitthätig 
saCs  er  unter  uns;  wie  gern  spendete  er  aus  den  vollen  Schätzen  seiner 
Gelehrsamkeit  und  liefs  immer  auch  den  Schlag  des  warmen  deutschen 
Herzens  spüren!  Unsre  Akademie  wird  dem  Treuen  die  Treue  bewahren. 
Feminis  lagere  honesium  e^tj  viris  memmisse. 


Gedächtnifsrede  auf  Johannes  Schmidt. 


Von 


H™  HEINRICH  ZIMMER. 


GedävlUnißredm.    1902.    IIL 


Gehalten  in  der  öffentlichen  Sitzung  am  3.  Juli  1902 
[Sitzungsberichte  St.  XXXIV.  S.  799]. 

Zum  Druck  eingereicht  am  4.  December,  ausgegeben  am  24.  December  1902. 


xVm  4.  Juli  1901  wurde  Johannes  Schmidt  aus  unserer  Mitte  gerissen. 
Seit  Jahren  war  er  von  schwerem  Leiden  heimgesucht,  und  doch  trat  der 
plötzliche  Tod  för  Angehörige  und  Freunde ,  auch  für  den  Dahingeschie* 
denen  selbst ,  unerwartet  ein.  £s  schien  das  Leiden  in  der  letzten  Zeit  zum 
Stillstand  gekommen  zu  sein.  Schmidt  glaubte  es  und  hatte  sich,  wie  er 
es  noch  wenige  Tage  vor  seinem  Ende  aussprach,  mit  der  Krankheit  ab- 
gefunden: er  hatte  sich  endlich  darein  ergeben,  dafs  ihm  die  alte  Arbeits- 
kraft zum  Theil  genommen  war,  hoffte  aber  bei  unverminderter  Arbeitslust 
mit  der  gebliebenen  geistigen  Frische  und  Schärfe  noch  eine  Reihe  von  Jahren 
mitarbeiten  zu  können  am  Ausbau  der  Wissenschaft,  in  der  ihm  durch  ein 
Vierteljahrhundert  eine  Führerrolle  zugefallen  war.  Das  Problem  des  indo- 
germanischen Accentes  war  es ,  zu  dessen  Lösung  er  in  verschiedenen  seiner 
Arbeiten  werth volle  Beiträge  geliefert  hat,  das  er  sich  für  sein  » letztes  gröiäeres 
Werk«,  wie  er  sich  äu&erte,  zum  Vorwurf  gewählt  hatte.  Ein  schwerer  Ver- 
lust für  die  indogermanische  Sprachwissenschaft,  dafs  Schmidt  nicht  dazu 
gekommen  ist,  neben  «Vocalismus«  und  »Pluralbildungen«  den  »Accent« 
als  Abschlufs  seiner  Lebensarbeit  zu  stellen;  aber  es  war  doch  wohl  ein 
gutiges  Greschick,  das  ihn  so  plötzlich  aus  dem  Vollbesitz  seiner  geistigen 
Kraft  dahinraffte,  weil  es  ihm  neben  langem  körperlichem  Siechthum  auch 
das  för  eine  Natur  wie  die  seine  unerträgliche  Gef&hl  des  Hinschwindens 
der  Geisteskräfte  ersparte. 

Die  Lehrjahre  Johannes  Schmidt 's  und  die  Anfange  seiner  über  viert- 
halb Decennien  sich  erstreckenden  wissenschaftlichen  Thätigkeit  fallen  in  die 
sechziger  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts.  Es  war  eine  Zeit ,  in  der  die  indo- 
germanische Sprachwissenschaft  es  anscheinend  herrlich  weit  gebracht, hatte. 
Die  wichtigsten  Probleme  schienen  alle  nach  ihrer  principiellen  Seite  erledigt ; 


4  H.  Zim3ikr: 

es  gab  so  viele  feststehende  Ergebnisse  der  Sprachwissenschaft  wie  seitdem 
nie  mehr,  und  so  feststehend,  dafs  man  sie  für  weitere  Kreise  glaubte  aus- 
schroten zu  dürfen.  Als  eine  feststehende  Thatsache  galt,  »dafs  sammtliclie 
in  den  indogermanischen  Sprachen  erscheinenden  Vocale  und  Diphthonge 
aus  den  ursprünglichen  drei  Kürzen  a,  i,  w  und  deren  Steigerungen  ä,  ai^  au 
hervorgehen«,  und  dafs  jeder  Vocal  »sich  nur  in  seiner  Reihe  bewegen  kann«. 
Es  war  die  Adaptation  einer  von  indischen  Grammatikern  för  das  Sanski'it 
aufgestellten  Theorie,  die  dort  schon  nicht  mit  allen  Thatsachen  ungezwungen 
harmonirte  und  noch  weniger  für  den  weiten  Kreis  der  indogermanischen 
Sprachen  überall  zutraf.  Namentlich  machte  die  Frage  des  Übertritts  von 
Wurzeln  aus  einer  Ablautsreihe  in  die  andere  in  den  verscliiedensten  indo« 
germanischen  Sprachen  grofse  Schwierigkeiten.  Schmidt's  erstes  Haupt- 
werk »Zur  Geschichte  des  indogermanischen  Vocalismus«  sucht  eine  allseitige 
Lösung  dieses  wichtigen  Problems  durch  Prüfung  sämmtlicher  einschlägigen 
Thatsachen  zu  geben.  Der  1871  erschienene  erste  Band  behandelt  die  durch 
Schwund  von  Nasalen  in  den  Einzelsprachen  hervorgerufenen  Störungen,  und 
der  viel  umfangreichere ,  vier  Jahre  später  folgende  zweite  Band  erörtert  die 
Einflüsse  der  Liquida.  Das  Werk  hatte  einen  unmittelbar  durchschlagenden 
Erfolg,  rückte  Schmidt  in  die  vorderste  Linie  der  Forscher  auf  dem  Gebiet 
vergleichender  Grammatik  und  trug  dem  noch  nicht  Dreiunddreifeigjährigen 
im  Sommer  1876  die  Berufung  auf  den  verwaisten  Lehrstuhl  des  Begründers 
der  indogermanischen  Sprachwissenschaft  ein.  Wenn  gleichwohl  diese  Arbeit 
als  Gesammtleistung  rasch  in  den  Hintergrund  trat,  so  liegt  der  Grund  nicht 
in  einer  veränderten  Werth Schätzung  des  Geleisteten,  sondern  darin,  dafs 
die  die  Voraussetzung  des  Werkes  bildenden  principiellen  Anschauungen 
über  den  indogermanischen  Vocalismus  wenige  Jahre  nach  seinem  Erscheinen 
über  den  Haufen  geworfen  wurden,  und  zwar  unter  Schmidt's  thätiger  Mit- 
wirkung in  mehr  als  einer  Hinsicht. 

In  den  siebziger  Jahren  nämlich  begann  sich  in  der  indogermanischen 
Sprachwissenschaft  ein  Procefs  zu  vollziehen,  der,  mehr  oder  weniger  heftig, 
in  der  Entwickelung  jeder  jungen  Wissenschaft  eintritt.  Neue  Wissensgebiete 
werden  von  ihren  Entdeckern  gewöhnlich  in  raschen  Zügen  nach  allen  Rich- 
tungen durchquert,  wodurch  nur  zu  leiclit  das  Geföhl  der  vollständigen  Be- 
sitznahme hervorgerufen  wird.  Der  Rückschlag  bleibt  nicht  aus;  er  blieb 
auch  der  von  Bopp  begründeten  Wissenschaft  nicht  erspart.  Es  trat  eine 
ftip  viele,  anscheinend  sichere  Ergebnisse  der  jungen  Wissenschaft  vemich- 


Gedächtnißrede  auf  Johannes  Schmidt.  5 

tende  Nach-  luid  Neuprüfung  ein.  Eingeleitet  wurde  der  Revisionsprocefs 
von  Schmidt  selbst  durch  seine  1872  zwischen  dem  ersten  und  zweiten 
Bande  des  »Vocalismus«  erschienene  Schrift  »Die  Verwandtschaftsverhältnisse 
der  indogermanischen  Sprachen«.  Als  feststehende  Wahrheit  galt  damals 
—  auch  für  Schmidt  noch  im  ersten  Bande  des  »Vocalismus«  —  dafs  wir 
uns  die  Verwandtechaftsverhältnisse  der  indogermanischen  Sprachen  zu  ein- 
ander und  zur  Muttersprache  unter  dem  Bilde  eines  Stammbaumes  vorzu- 
stellen und  die  Ausbreitung  über  das  weite  Gebiet  durch  Loslösung  ein- 
zelner Theile  vom  Ganzen,  die  sich  auf  die  Wanderung  begaben  und  wieder 
trennten,  zu  erklären  haben.  Joliaunes  Schmidt  weist  die  Haltlosigkeit 
dieser  Theorie  in  seiner  Schrift  nach,  nicht  durch  theoretische  Erörterungen, 
sondern  —  was  charakteristisch  fiir  seine  Forschung  ist  —  indem  er  zeigt, 
dafe  sie  nirgends  mit  den  sprachlichen  Thatsachen  vereinbar  ist,  und  sucht 
dann  aus  den  vorgebrachten  Thatsachen  ein  Bild  zu  gewinnen,  wie  die 
Verhältnisse  der  einzelnen  indogermanischen  Sprachen  zu  einander  aufzu- 
fassen sind.  Weitaus  origineller  als  das  grofse  Werk  und  mit  Ergebnissen, 
die  in  der  Folgezeit  die  Grundlage  wurden  für  jede  weitere  Forschung  über 
das  wichtige  Problem,  fand  die  Schrift  zuerst  fast  allseitigen,  hartnäckigen 
Widerstand,  so  dafs  Schmidt  noch  verschiedentlich  —  auch  im  zweiten 
Bande  des  Vocalismus  —  für  sie  in  die  Schranken  treten  mufste.  Sehr  zu 
Statten  kam  ihm,  dafs  die  sich  im  weiteren  Verlaufe  des  Revisionsprocesses 
anbahnende  neue  Anschauung  über  den  indogermanischen  Vocalismus  dem 
hartnäckigsten  Vertheidiger  der  Stammbaumtheorie  die  festeste  Stütze  für 
die  angebliche  europäische  Untereinheit  entzog. 

Diese  veränderte  Anschauung  über  den  Vocalbestand  der  indogermani- 
schen Ursprache  geht  dahin ,  dafs  der  bunte  Vocalismus  der  europäischen 
Sprachen,  speciell  des  Altgriechischen,  der  ursprüngliche  ist  und  nicht  der 
einfarbige,  monotone  des  Sanskrit  mit  den  drei  Kürzen  a,  i,  u  und  deren 
Steigerungen.  Damit  fiel  das  ganze  bisherige  Vocalsystem  und  noch  viel 
mehr;  auch  die  vergleichende  Formenlehre  wurde  theil weise  in  den  Fall  mit- 
hineingezogen. Wie  es  bei  in  der  Luft  liegenden  neuen  Entdeckungen  oft  der 
Fall  zu  sein  pflegt,  fanden  verschiedene  Forscher  unabhängig  von  einander 
die  entscheidenden  Beweisstücke.  Unter  ihnen  war  auch  Schmidt.  GemäJs 
seiner  Art,  die  Dinge  ausreifen  zu  lassen,  kam  er  nicht  dazu,  die  Ent- 
deckimg  als  Erster  zu  publiciren,  aber  seine  gründliche  Abhandlung  »Zwei 
arische  a- Laute  und  die  Palatalen«   hat  mehr  als   eine  andere  Publication 


f 


6  H.  Zimmer: 

dazu  beigetragen,  der  neuen  Anschauung  bald  allseitig  zum  Sieg  zu  ver- 
helfen. Es  galt  ftir  die  vergleichende  Grammatik  nunmehr  die  Consequenzen 
zu  ziehen  und  durch  umfangreiche  Detailforschung  die  neue  Erkenntnifs 
auszubauen.  Hieran  betheiligte  sich  Schmidt  durch  eine  lange  Reihe  von 
Aufsätzen  in  der  »Zeitschrift  fiir  vergleichende  Sprachforschung«,  deren  Re- 
daction  er  unter  dem  Begründer  A.  Kuhn  seit  1875  angehörte  und  die  er 
nach  dessen  Tode  in  Gemeinschaft  mit  dem  Sohne  bis  zu  seinem  eigenen 
Ende  führte.  Sind  auch  verschiedene  dieser  Abhandlungen  Problemen  der 
indogermanischen  Formenlehre  gewidmet,  so  ist  doch  keine  unter  ihnen, 
bei  der  nicht  wichtige  Ergebnisse  fÄr  die  Lautlehre  abfielen. 

Während  dieser  Zeit  reifte  ein  neues  grofses  selbständiges  Werk  heran: 
»Die  Pluralbildungen  der  indogermanischen  Neutra«,  das  1889  erschien.  Es 
stellt  als  Ganzes  den  Höhepunkt  von  Schmidt 's  litterarischer  Thätigkeit 
dar.  Aus  einer  Reihe  allseitig  bekannter  Thatsachen  der  classischen  Sprachen, 
die  auch  in  anderen  indogermanischen  Sprachen  Entsprechungen  haben,  wird 
in  der  Einleitung  der  Schlufs  gezogen,  dafs  die  Plurale  der  Neutra  in  den 
indogermanischen  Sprachen  ursprü/i glich  Feminina  Singularis  mit  GoUectiv- 
bedeutung  waren.  Dem  Beweise  dieses  Satzes  ist  das  umfangreiche  Werk 
in  einer  Art  gewidmet,  dafs  es  für  die  Forschung  auf  dem  Gebiet  der  ver- 
gleichenden Grammatik  noch  lange  als  ein  bis  jetzt  noch  nicht  übertroffenes 
Muster  dastehen  wird. 

Zwei  selbständig  erschienene  Arbeiten  Schmidt 's  sind  diesem  Werke 
noch  in  der  ersten  Hälfte  des  letzten  Decenniums  gefolgt,  die  weder  gleich 
noch  bis  heute  die  allseitige  Zustimmung  sich  erworben  haben,  die  der 
»Vooalismus«  und  die  »Pluralbildungen«  alsbald  fanden  und  die  »Verwandt- 
schaftsverhältnisse« in  verhältnifsmäfsig  kurzer  Zeit  sich  errangen.  Es  sind 
diefs  die  1 890  erschienene  Abhandlung  über  »die  Urheimat  der  Indogermanen 
und  das  europäische  Zahlensystem«  und  die  Schrift  »Kritik  der  Sonanten- 
theorie«  aus  dem  Jahre  1895.  In  der  »Urheimat«  tritt  der  Mann,  der  1872 
mit  den  »Verwandtschaftsverhältnissen«  die  Revolution  in  der  indogermani- 
schen Sprachforschung  einläutete  und  seitdem  in  der  ersten  Linie  der  Re- 
former als  Bannerträger  marschirte,  als  energischer  Vertheidiger  der  alten 
Anschauung  über  die  Ursitze  der  Indogermanen  auf.  Gleich  treffend  ist  die 
vernichtende  Kritik ,  die  er  sowohl  an  den  bis  dahin  vorgebrachten  Gründen 
für  die  asiatische  Urheimat  wie  an  den  angeblichen  Beweisen  der  Gegner 
für  ursprüngliche  Sitze  in  Europa  übt.     Selbst  der,  welcher  den  von  Jo- 


Gedächtnißrede  auf  Johannes  Schmidt.  7 

hanne«  Schmidt  aus  Erscheinungen  des  Zahlensystems  der  europäischen 
Indogennanen  gezogenen  Schlüssen  für  eine  asiatische  Urheimat  nicht  eine 
entscheidende  Beweiskraft  zutraut,  wird  dankbar  anerkennen,  dats  ein  inter- 
essantes Problem  der  indogermanischen  Sprachwissenschaft  zuerst  richtig 
gefaist  und  aufgestellt  ist.  Auch  in  der  »Kritik  der  Sonantentheorie«  nimmt 
Schmidt  Stellung  gegen  eine  Hypothese  der  Reformbewegung,  indem  er 
den  Beweis  zu  fuhren  sucht,  daCs  diese  Theorie,  selbst  jedes  Beweises  ent- 
behrend, »mit  einer  Reihe  von  Thatsachen  in  unversöhnlichem  Widerspruche 
stehe« .  Es  kommt  bei  der  Ausfuhrung  des  Themas  so  viel  Wichtiges  und 
Neues  zu  Tage,  das  auiserhalb  seiner  Verwendung  im  Beweis  Geltung  hat, 
dals  dem  Werkchen  ein  dauernder  Werth  in  der  sprachwissenschaftlichen 
Forschung  gesichert  ist. 

Die  Umwälzung  in  der  indogermanischen  Sprachforschung  hatte  unter 
den  verschiedenen  Folgeerscheinungen  auch  die,  dafs  ein  Band  gelöst  wurde, 
das  seit  Beginn  der  jungen  Wissenschaft  bestand :  die  besonders  enge  Ver- 
knüpfung von  Sanskrit  und  Sprachwissenschaft.  Vom  Sanskrit  war  die 
indogermanische  Sprachwissenschaft  ausgegangen ;  Sanskrit  galt  durcli  Jahr- 
zehnte als  der  Schlüssel,  der  alle  Geheimnisse  erschlielse;  »toigours  partir 
du  Sanscrit«  stellte  noch  in  den  sechziger  Jahren  ein  Forscher  romanischer 
Zunge  als  Grundsatz  auf.  Sanskrit  und  Sprachwissenschaft  waren  fast 
aUenthalben  an  unseren  Hochschulen  durch  Personalunion  verknüpft.  Und 
diese  Sprache  stellte  sich  nach  den  Ergebnissen  der  neueren  Forschung  in 
Bezug  auf  den  Vocalismus  als  die  unursprünglichste  aller  indogermanischen 
Sprachen  heraus.  Sie  verlor  die  leitende  Stellung,  in  welche  in  der  noth- 
wendigerweise  im  Vordergrund  stehenden  Vocalforschung  das  Altgriechischc 
einruckte,  das  mit  der  erhaltenen  Fülle  von  Dialekten  aus  alter  Zeit  aufser- 
dem  viel  geeigneter  ist,  ein  Bild  sprachlichen  Lebens  zu  geben,  als  das 
grammatisch  zugestutzte  Sanskrit  oder  ein  anderer  indogermanischer  Sprach- 
zweig. Wie  scharf  bei  Johannes  Schmidt  diese  Wendung  zum  Ausdruck 
kam,  ergibt  sich  schon  daraus,  dafs  bei  den  Schülern  aus  der  zweiten 
Hälft«  seiner  Lehrthfttigkeit  fast  überall  der  Schwerpunkt  der  sprachwissen- 
schaftlichen Forschung  im  Altgriechischen  liegt.  Seine  eigenen  kleineren 
Arbeiten  zeigen  dasselbe.  Verrathen  zahlreiche  Zeitschriftenbeiträge  aus 
dem  ersten  Decennium  der  wissenschaftlichen  Beschäftigung  eine  imbestreit- 
bare Vorliebe  för  die  nordeuropäischen  Sprachen  —  Slavisch,  Litauisch, 
Germanisch  —  die  auch  noch   in  dem  »Vocalismus «^   deutlich  erkennbar 


8  H.  Zimmer: 

ist,  so  sind  die  Arbeiten  des  letzten  Decenniums  —  beginnend  mit  der 
aus  dem  Jahre  1891  stammenden  Abhandlung  »Assimilation  benachbarter, 
einander  nicht  berührender  Vocale  im  Griechischen«  und  endigend  mit  der 
am  18.  April  1901  gelesenen,  nun  unter  dem  Titel  »Zur  Geschichte  der 
Langdiphthonge  im  Griechischen«  vorliegenden  Studie  —  fast  ausschliefslich 
dem  Altgriechischen  gewidmet.  Zwar  sind  sie  in  Folge  der  durch  die 
Krankheit  geschwächten  Arbeitskraft  nicht  so  zahlreich  als  im  vorangegan- 
genen Decennium,  sie  lassen  aber  die  Johannes  Schmidt  in  besonders 
hohem  Grade  eigenthümliche  Fähigkeit,  die  in  den  Dingen  liegenden  Ge- 
setze zu  sehen  und  aus  den  sprachlichen  Thatsachen  die  Regel  ungezwungen 
abzulesen,  klarer  hervortreten,  als  die  meisten  älteren  Arbeiten. 

Wie  aus  diesem  flüchtigen  Umrifs  von  Schmidt's  Antheilnahme  an 
der  Entwickelung  der  indogermanischen  Sprachwissenschaft  in  den  letzten 
Decennien  des  19.  Jahrhunderts  erhellt,  war  er  der  Mann  der  Unter- 
suchung bis  zu  einer  seltenen  Ausschliefslichkeit;  mit  Codificirung  dessen, 
was  die  Wissenschaft  gefunden,  in  Handbuch  und  Grammatik,  liat  er  sich 
nicht  abgegeben.  Arbeiten  der  reinen  Forschung  haben  bis  zu  gewissem 
Grade  einen  etwas  ephemeren  Charakter:  entweder  finden  ihre  Ergebnisse 
allseitig  Beifall  und  werden  dann  so  Gemeingut  und  so  selbstverständlich, 
dals  eine  jüngere  Generation  kaum  noch  das  Werk  einsieht,  dem  sie  ent- 
stammen: oder  sie  werden  von  der  Mitforschung  verworfen,  und  dann 
findet  Übergang  zur  Tagesordnung  statt;  Charakteristisch  für  Johannes 
Schmidt*s  Forschung  ist,  dafs  seine  gröfseren  Arbeiten  alle,  mögen  sie 
Beifall  oder  Widerspruch  gefunden  haben,  diesen  ephemeren  Charakter 
nicht  tragen.  Woher?  Wohl  keiner  von  Johannes  Schmidt's  Mitfor- 
schern auf  dem  Gebiete  der  vergleichenden  Grammatik  ist  in  so  hohem 
Malse  der  Horazischen  Regel :  "^nonum  prematur  in  annurri  nachgekommen 
wie  er.  Der  Plan  zu  dem  1875  erschienenen  »Vocalismus«  wurde  im 
Winter  1864/65  gefafst  und  an  seiner  Ausfuhrung  ununterbrochen  gear- 
beitet; der  Grundgedanke  der  »Pluralbildungen  der  Neutra«  wurde  in  einer 
Vorlesung  des  ersten  Semesters  der  Berliner  Lehrthätigkeit  1876/77,  die 
betitelt  war  »Geschichte  der  indogermanischen  Sprachen«,  vorgetragen,  die 
Ausfuhrungen  einzelner  Seiten  seit  1884  hier  in  den  Akademiesitzungen 
vorgelegt,  1889  erschien  das  Werk;  die  1895  veröffentlichte  »Kritik  der 
Sonantentheorie«  ist  die  Ausfuhrung  eines  schon  1877  erhobenen  Wider- 
spruchs.   Nicht  Furcht  vor  Druckerschwärze  oder  Mifstrauen  in  die  Richtig- 


GedädUmfsrede  auf  Johannes  Sehmidi.  9 

keit  des  Erkannten  waren  die  Ursache  dieser  Zurückhaltung.  Es  kam  Jo- 
hannes Schmidt,  wie  er  selbst  gelegentlich  bemerkt,  nicht  darauf  an, 
durch  Beibringen  einer  Anzahl  von  Beispielen  eine  Thatsache  im  allge- 
meinen festzustellen  und  formell  ein  Prioritätsrecht  zu  registriren ;  er  stellte 
höhere  Ansprüche  an  sich  und  die  eigene  Arbeit.  Richtschnur  war  ihm 
die  Forderung  seines  Lehrers  Schleicher,  »dafs  die  Sprachentwickelung 
auf  feste,  unverbrüchliche  Gesetze  zurückgeführt  werden  müsse«,  und  dazu 
war  vor  allem  nöthig,  die  einem  gefundenen  Gesetze  widersprechenden 
Fälle  sämmtlich  zusammenzubringen  und  zu  erklaren.  Freilich  um  Sprach- 
erscheinungen in  dem  Umfange  vollständig  darzustellen,  wie  es  von  Schmidt 
in  seinen  Arbeiten  geschah,  war  noch  ein  weiteres  erforderlich:  jene  über 
Grammatik  und  Lexikon  hinaus  bis  zur  philologischen  Beherrschung  ge- 
hende Kenntnifs  Schmidt 's  von  sämmtlichen  indogermanischen  Einzel- 
sprachen, die  es  ihm  ermöglichte,  auch  in  Fragen,  wo  das  Material  nicht 
durch  eine  systematische  Sammlung  zusammengebracht  werden  konnte, 
durch  jahrelang  anhaltende  Beobachtung  selbst  auf  den  entlegensten  Ge- 
bieten denkbar  gröfste  Vollständigkeit  zu  erreichen.  So  schuf  er  Werke 
der  reinen  Forschung,  die  durch  die  Gediegenheit  der  Ausfulirung  des 
Themas  und  der  eng  damit  zusammenhängenden  Nebenuntersuchungen 
einen  länger  bleibenden  Werth  haben  aufserhalb  der  Frage,  wie  man  sich 
zum  Thema  und  seinem  Beweis  selbst  verhält.  Die  hohen  Forderungen, 
die  Johannes  Schmidt  an  seine  eigene  Arbeit  stellte,  machte  er  auch 
zum  MaTsstab  für  die  Arbeiten  der  Mitforscher;  manche  Stunde  tiefer  Er- 
regung und  Bitterkeit  ist  ihm  hieraus  erwachsen,  da  er  andersgeartetes 
Temperament  schwer  zu  verstehen  vermochte  und  in  erster  Linie  die  Ge- 
fahren sah,  die  der  Forschung  aus  dem  Hinwerfen  nicht  ausgereifter,  wenn 
auch  wesentlich  richtiger,  neuer  Gedanken  erwachsen  konnten. 

Ein  zukünftiger  Geschichtschreiber  der  indogermanischen  Sprachwissen- 
schaft im  ersten  Jahrhundert  ihres  Bestehens  würde  der  Bedeutung  Jo- 
hannes Schmidt's  für  sein  Fach  nur  sehr  unvollkommen  gerecht  werden, 
wenn  er  ihn  einzig  messen  wollte  an  dem,  was  er  Neues  gefunden  hat,  was  aus 
seiner  Forschung  Gemeingut  der  Wissenschaft  und  Ausgangspunkt  för  weitere 
Forschung  geworden  ist.  In  der  Krisis ,  die  über  die  indogermanische  Sprach- 
wissenschaft im  Beginn  des  abgelaufenen  Vierteljahrhunderts  hereinbrach, 
wurden  von  der  bisherigen  Forschung  erriclitete  feste  Schranken  nieder- 
gerissen, ohne  dafs  zunächst  etwas  an  ihre  Stelle  trat;  unbeschränkte  Sub- 

Gedächtm/sreden.    1902.    III,  2 


10  H.  Z I M  M  E  E :    Gedächtnifsrede  auf  Johannes  Schmidt 

jectivität  fieng  mancher  Orten  an  sich  breit  zu  machen,  so  dafs  die  Be- 
fürchtung nicht  ungerechtfertigt  erscheinen  mochte,  die  vergleichende  Gram- 
matik steuere  wieder  auf  den  von  Voltaire  dahin  charakterisirten  Zustand 
zu,  dafs  die  Etymologie  eine  Wissenschaft  sei,  in  der  die  Vocale  nichts  und 
die  Consonanten  sehr  wenig  bedeuten.  Es  wxirde  hierdurch  weiterhin  die 
ernste  Gefahr  heraufbeschworen,  dafs  die  Philologen,  die  nicht  zum  min- 
desten durch  G.  Curtius'  Verdienst  mit  der  vergleichenden  Grammatik  sich 
befreundet  hatten,  ihre  Theilnahme  zurückzogen;  mufsten  sie  doch  schon 
durch  die  Form  vieler  sprachwissenschaftlicher  Untersuchungen,  die  in  der 
Entfernung  von  den  in  den  Sprachen  wirklich  vorliegenden  Formen  den  Ein- 
druck mathematischer  Abhandlungen  hervorriefen,  abgeschreckt  werden. 
Mit  klarem  Blick  erkannte  Johannes  Schmidt  diese  Gefahren  für  die 
Sprachwissenschaft,  und  die  Rolle,  die  er  in  dieser  kritischen  Zeit  gespielt 
hat,  weist  ihm  seine  Stelle  in  der  Entwicklung  der  Sprachwissenschaft 
an.  Er  war  der  Führer  in  der  Reformbewegung,  dessen  durch  Besonnen- 
heit der  Forschung  und  Tiefe  des  Wissens  ausgezeichnete  Schriften  in 
erster  Linie  dazu  beitrugen,  in  weiten  Kreisen  der  Philologen  das  in's 
Schwanken  gerathene  Vertrauen  zur  vergleichenden  Grammatik  wieder  zu 
befestigen  und  die  indogermanische  Sprachforschung  selbst  der  Wissen- 
schaft zu  erhalten. 


PHYSIKALISCHE 


ABHANDLUNGEN 


DER 


KÖNIGLICH  PREUSSISCHEN 


AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN 


AUS  DEM  JAHRE 

1902. 


MIT  1  TAFEL. 


BERLIN  1902. 

VERLAG   DER   KÖNIGLICHEN   AKADEMIE   DER  WISSENSCHAFTEN. 


OBDROCKT  IN  DER  RBICHSDRUCKKRKI. 


IN  COMMISSION   BEI  GEORG  REIMER. 


Inhalt. 


Branco:   Das  vulcanische  Vorries   und   seine  Beziehungen   zum   vul- 

canischen  Riese  bei  Nordlingen.     (Mit  1  Tafel) Abli.  I.  S.  1—132. 


Das  vulcanische  Vorries  und  seine  Beziehungen  zum 

vuicanischen  Riese  bei  Nördlingen. 


Von 


H""  W.  BRANCO. 


]^ys.Ahh.  1902.  I.  1 


Gelesen  in  der  Gesammtsitzung  am  18.  December  1902 
[Sitzungsberichte  St.  LIII.  S.  1111]. 

Zum  Druck  eingereicht  am  gleichen  Tage,  ausgegeben  am  25.  Februar  1903. 


VJTemeinsame  Untersuchungen  mit  meinem  Freunde,  Hm.  E.  Fraas,  liegen 
der  folgenden  Arbeit  zu  Grunde.  Sie  bezieht  sich  wesentlich  auf  das  Vor- 
ries;  indem  aber  die  von  uns  im  Vorriese  gewonnene  Überzeugung,  dafs 
hier  eine  grofse  Explosion  stattgefunden  haben  müsse,  nothwendig  auch 
auf  unsere  Vorstellungen  dem  Riese  gegenüber  sich  ausdehnen  mufste,  wird 
auch  dieses  wieder  in  den  Bereich  der  Arbeit  mit  hineingezogen  werden. 

Um  die  Centra  der  Explosion  im  Vorriese  festzustellen,  hat  Hr.  Dr.  von 
Knebel  freundlichst  die  Aufgabe  übernommen,  eine  kartographische  Dar- 
stellung der  verschiedenen  Intensitätsgrade  der  durch  die  Explosion  hervor- 
gerufenen Zertrümmerung  (Vergriesung)  des  WeÜs- Jura -Kalkes  zu  geben 
(Taf.  I) ;  auch  die  Vornahme  von  Schürfungen ,  behufs  Feststellung  zweifel- 
hafter Lagerungsverhältnisse,  hat  der  Genannte  freundlichst  auf  sich  ge- 
nommen. Die  Ergebnisse  seiner  Untersuchungen  wird  Hr.  Dr.  von  Knebel 
in  der  untenstehenden  Zeitschrift*  veröffentlichen;  in  vorliegender  Arbeit 
werden  wir  dieselben  nur  kurz  mit  anfahren. 

Hr.  Prof.  Haufsmann  hat  femer  die  Liebenswürdigkeit  gehabt,  die 
von  ihm  früher  auf  württembergischem  Gebiete  ausgeführte  Untersuchung 
der  magnetischen  Störungen^  nun  auch  auf  das  ganze  Ries  und  Vorries  aus- 
zudehnen und  so  ein  kartographisches  Bild  herzustellen,  welches  den  Zu- 
sammenhang der  magnetischen  Störungen  über  ein  weiteres  Gebiet  und 
wohl  ihre  Abhängigkeit  von  einer  eisenreichen  Eruptivmasse,  dem  Laccolith, 
in  der  Tiefe  erkennen  läfst.  In  der  Hoffnung,  dafs  Hrn.  Haufsmann's 
Arbeit  in  den  Sitzungsberichten  dieser  Akademie  för  1903  wird  erscheinen 
können,  wollen  wir  hier  nur  kurz  auf  dieselbe  Bezug  nehmen. 

^   2ieitschr.  d.  Deutschen  Geolog.  Ges.    190a.     Bd.  54,  Heft  4. 
'   Das  vulcanische  Ries.   S.54,  Fig.  2. 


4  B  R  A  N  c  o : 

In  unserer  Arbeit  über  das  Ries  haben  wir  bereits  die  Litteratur  über 
dasselbe  besprochen.  Wir  müssen  jedoch  noch  den  Namen  eines  Mannes 
Iiinzufögen,  der  um  die  Erforschung  des  Rieses  sich  hochverdient  gemacht 
hat,  A.  von  Ammon.  Er  ist  es,  welcher  vor  langen  Jahren  die  schwie- 
rige geologische  Kartirung  des  bayerischen,  d.  h.  des  überwiegend  gröfsten 
Theils  des  Rieses  ausführte.  Wenn  auch  sein  Name  auf  dieser  Karte  und 
in  ihrer  Beschreibung  keinen  Platz  gefunden  hat  —  jede  Arbeit,  die  sich 
mit  dem  Riese  beschäfligt,  ist  dem  Namen  A.  von  Ammon  einen  solchen 
schuldig.  Auch  des  verdienstvollen  ersten  Versuches  einer  geologischen 
Karte  des  Rieses*  aus  dem  Jahre  1849  von  Frickhinger  und  Schnizlein 

« 

sei  hier  nochmals  gedacht,  indem  nun  bereits  die  dritte  Auflage  der  Karte 
bez.  des  botanischen  Werkes,  in  dem  sie  sich  befindet,  erscliienen  ist. 
Die  neue  Litteratur  über  das  Ries  folgt  hier  unten.^ 


*    Das  vulcanische  Ries.    S.  9,  Anm.  a. 

'  W.  Branco  und  E.  Fr  aas,  Das  vulcanische  Ries  bei  Nördlingen  in  seiner  Be- 
deutung für  Fragen  der  allgemeinen  Geologie.  Abhandl.  d.  Könlgl.  Preufs.  Akad.  d.  Wiss.  1901. 
S.i— 169,  Taf.  I,  II. 

W.  Branco  und  £.  Fraas,  Beweis  für  die  Richtigkeit  unserer  Erklftrung  des  vul- 
canischen  Ries  bei  Nördlingen.  Sitzungsber.  d.  Könlgl.  Preufs.  Akad.  d,  Wiss.  1901.  Bd.  XXII, 
S.  501— 524. 

E.  Koken,  Gletscherspuren  im  Bereich  der  Schwäbischen  Alb.  Bericht  über  die  Ver- 
sammlung des  Oberrheinischen  Vereins.     31.  Versammlung.    1898. 

£.  Koken,  Geologische  Studien  im  fränkischen  Ries.  I.  N.  Jahrb.  f.  Min.,  Oeol.,  Pal. 
1898.    Beilage-Band  XII,  8.477 — 534>  und  IL,  Beilage -Band  XV,  S.  422 — 472. 

E.  Koken,  Beiträge  zur  Kenntuifs  des  schwäbischen  Diluviums.  N.  Jahrb.  1900. 
Beilage  -  Band ,  S.  1 20. 

E.  Koken,  Die  SchliiTflächen  und  das  geologische  Problem  im  Ries.  N.  Jahrb.  1901. 
II.  S.  67 — 88.  Derselbe,  Eine  Nachschrift  zu  dem  Aufsatz  »Die  Schliffflächen  und  das 
geologische  Problem  im  Ries«.     N.  Jahrb.     1901.     II.  S.  128. 

von  Knebel,  Beiträge  zur  Kenntnifs  der  Überschielbungen  am  vulcanischen  Ries  von 
Nördlingen.     Inaug.-Diss.     Berlin  1902.     Zeitschr.  d.  Deutschen  Geolog.  Ges.     1902. 

von  Knebel,  Weitere  Beobachtungen  der  Überschiebungen  am  vulcanischen  Ries 
bei  Nördlingen.     Zeitschr.  d.  Deutschen  Geolog.  Ges.,  Bd.  55,  1903.     Heft  i. 


Das  vulcanische  Vorries. 


L   Anzeichen  einer  grofsen  vnlcanischen  Gontaet -Explosion, 
welche  als  mitwirkende  Ursache  der  Breccien  (Gries)- Bil- 
dungen und  der  Üherschiebungen  anzusehen  ist. 

Unterschiede  zwischen  den  yulcanisehen  Gebieten  des  Rieses  und 
von  Urach.  Mit  der  Erkenntnifs,  dafs  nicht  die  Kraft  des  Eises,  sondern 
diejenige  des  Vulcanismus  es  gewesen  sein  mufs,  welche  die  räthselhaften 
Überschiebungen  und  Breccienbildungen  am  Riese  hervorrief,  war  die  Frage 
jenes  Herganges  natürlich  noch  nicht  gelöst.  Es  war  vielmehr  an  Stelle 
des  einen  Räthsels  zunächst  nur  ein  neues  getreten;  denn  Überschiebungen, 
hervorgerufen  durch  vulcanische  Kräfte,  kannte  man  bisher  noch  nicht.  Die 
Art  und  Weise  eines  solchen  Vorganges  blieb  daher  zu  erklären. 

Der  nächstliegende  Gedanke  für  mich  war  der  gewesen ,  dafs  die  Ries- 
bildung eine  Wirkung  gleicher  vulcanischer  Explosionen  sei,  wie  in  dem 
benachbarten  vnlcanischen  Gebiete  von  Urach.*  So  erklärt  es  sich,  dafs 
in  der  unten  citirten  Arbeit  über  dieses  Gebiet  von  Urach  ganz  kurz  auch 
des  Riesgebietes,  auf  Grund  von  von  Gümbel's  Auffassung,  als  einer 
Maarbildung  gedacht  wurde. 

Als  wir  dann  beide  gemeinsam  uns  mit  dem  Studium  des  Rieses  be- 
fafsten,  ergab  sich  uns  jedoch  die  Unmöglichkeit,  die  Ries -Phänomene  auf 
dieselbe  Weise,  also  mit  Hülfe  derselben  vnlcanischen  Explosionen  zu  er- 
klären, wie  die  Phänomene  des  Gebietes  von  Urach.  Erwiesen  sich  doch 
die  vnlcanischen  Erscheinungen  hier  wie  dort  als  hochgradig  verschieden, 
obgleich  sie  sich  in  einem  und  demselben  geologischen  Körper,  der  Schwäbi- 
schen Alb,  vollzogen  hatten.  Wie  hätte  so  Verschiedenartiges  hier  und 
dort  durch  einen  gleich werthigen  Procefs  entstanden  sein  können?  Ein 
kurzer  Vergleich  wird  diese  Unterschiede  vor  Augen  fuhren. 

Wir  haben  in  der  Schwäbischen  Alb,  bei  Urach  wie  im  Riese,  ganz 
dieselbe  angenähert  horizontale  Lagerung  des  Schichtensystems,  ganz  die- 
selbe Reihenfolge  durch  die  Jura-  und  Keuperformation  hindurch  bis  hinab 
auf  deren  Unterlage,   das  altkrystalline  Granit-  und  GneLGsgebirge.     Wir 

*  W.  Branco,  Schwabens  Vulcan  -  Embryonen.  Jahreshefte  d.  Ver.  f.  vaterlSnd.  Na- 
turkunde in  Wfirttemberg.     1894  und  1895.    Stuttgart  1894  bei  Schweizerbart. 


6  Branco: 

haben  weiter  bei  Urach  wie  im  Riese  ganz  dieselbe  leichte  und  ephemere 
Form  des  Vulcanismus :  einfache  Spratz-  und  Explosionserscheinungen ,  durch 
welche  lediglich  eine  Zerstiebung  des  Schmelzflusses  zu  Asche  oder  Schlacken 
sowie  eine  Zerschmetterung  der  durchbrochenen  Gesteine  erfolgte,  ohne  dafs 
es  zum  Ausflusse  von  Lavaströmen  gekommen  wäre. 

Aber  wir  haben  bei  Urach,  wenn  auch  an  sehr  viel  zahlreicheren 
Stellen  als  dort,  nur  diese  Erscheinungen  allein.  Beim  Riese  hingegen 
nicht  nur  diese,  sondern  aufserdem  auch  noch  vier  weitere,  zudem  viel 
starker  sich  in  den  Vordergrund  drängende  Erscheinimgen ,  welche  zu  er- 
klären  waren :  Einmal  die  ganz  absonderlichen  Überschiebungen  mächtiger 
zusammenhängender,  geschichteter  Schollen,  und  zwar  theils  älterer  Schich- 
ten auf  jüngere  hinauf,  theils  jüngerer  Schichten ,  nämlich  solcher  des  Oberen 
Weifs-Jura,  auf  ältere  hinab,  nämlich  auf  das  durch  Erosion  bereits  von 
der  ehemaligen  Bedeckung  mit  Weifs-Jura  befreit  gewesene  Gebiet  des 
Unteren  und  Mittleren  Braun -Jura  bez.  gar  des  Lias.  Sodann  zweitens 
die  Aufpressung  des  grofsen,  25^  Durchmesser  besitzenden  Riesgebietes 
um  einen  Betrag  von  mehreren  hundert  Metern.  Drittens  den  später  er- 
folgten Wiedereinsturz  dieses  erst  aufgeprefst  gewesenen  Riesgebietes. 
Viertens  die  massenhaften  Breccienbildungen  (Vergriesung)  des  Weife -Jura. 

Es  ergaben  sich  also  trotz  der  ursprünglich  völlig  gleichartig  gewe- 
senen Lagerungs-  und  Gesteinsverhältnisse  beider  Gebiete  doch  überaus 
verschiedenartige  Wirkungen  des  Vulcanismus  hier  wie  dort.  Zwar  die  ein- 
zelnen vulcanischen  Ausbruchsstellen  im  Riese  und  im  Vorriese  verriethen 
durch  ihre  Tuffe  und  Schlacken  zweifellos  die  gleichartige  Entstehungsweise 
mit  denen  bei  Urach  durch  vulcanische  Explosionen,  welche  den  Schmelz- 
flufs  und  das  anstehende  Gestein  zerschmettert  hatten.* 

Aber  von  jenen  vier  genannten,  dem  Riese  au&erdem  noch  besonders 
eigenen  Erscheinungen  konnte  zunächst  einmal  die  langsame  Aufpressung 
des  Riesgebietes  unmöglich  als  das  Werk  einer  Eruption  oder  Explosion 
angesehen  werden ;  sie  konnte  nur  das  Werk  allmählich  aufwärts  gedrängten 
Schmelzflusses  sein. 

Ein  Einsturz  sodann  konnte  zwar  an  sich  wohl  das  Werk  einer  ge- 
waltigen Explosion,  also  ein  Maar,  sein;  aber  in  solchem  Falle  hätte  man 
erstens  einen  unge^r  kreisförmigen ,  nicht  aber  den  dem  Rieskessel  eigenen 

^  Nur  mit  dem  Unterschiede,  dafs  im  Riese  wohl  bereits  vorher  vorhanden  gewesene 
Spal&n  diese  Ausbrüche  erleichtert  habeu;  denn  die  Aufpressung  mufste  solche  Spalten  schafTen. 


Das  vuloanische  Vorries.  7 

polygonalen  Umrifs  erwarten  können,  und  zweitens  würde  der  Granit  im 
Riese,  der  dort  noch  heute  ein  etwa  200"  höheres  Niveau  einnimmt,  als 
ihm  zukommt,  doch  sicher  diurch  eine  Explosion  nur  momentan,  nicht 
aber  dauernd  in  diese  Höhenlage  versetzt  worden  sein;  er  wäre  nach  der 
Explosion  wieder  zurückgesunken.  So  konnte  also  dieser  Einsturz  des  Rieses 
doch  nicht  das  Werk  einer  Explosion  sein,  so  lange  man  die  Aufpressung 
des  Granites  dort  gelten  lässt. 

Die  Überschiebung  der  grofsen  Schollen  konnte  man  ebenfalls  nicht 
auf  Rechnung  jener  vulcanischen  Eruptionen  setzen;  denn  man  sah  ja  im  Ge- 
biete von  Urach,  da&  diese  vulcanischen  Explosionen  lediglich  ein  Trümmer- 
werk von  Blöcken  und  kleinen  Stücken  zu  erzeugen  im  Stande  gewesen 
waren.  Ein  solches  Trümmer  werk  also  hätte  sich  dann  auch  am  Riese 
finden  müssen,  nicht  aber  überschobene ,  gro&e,  geschichtete  Schollen. 

Niir  die  Breccienbildung  hätte  man  sofort  auf  Explosionen  zurückge- 
führt haben  können.  Dem  stand  aber  im  Wege,  dafs  bei  Urach  die  Ex- 
plosionen absolut  nicht  im  Stande  gewesen  waren,  solche  Breccienbildungen 
(noch  auch  jene  Überschiebungen)  hervorzurufen.  Bei  der  überaus  grofsen 
Ähnlichkeit  dagegen,  welche  diese  Griesbreccien  mit  derjenigen  Zerpressung 
der  Gesteine  besitzen,  die  vieler  Orten  durch  Gebirgsdruck  entstanden  ist, 
erschien  es  uns  einheitlicher,  sie  wesentlich  ebenfalls  auf  einen  Druck  zu- 
rückzufahren, welcher  hier  durch  die  Aufpressung  des  Riesgebietes  erzeugt 
wurde  bez.  durch  den  diese  AuQ)ressung  bewirkenden  Schmelzflufs ;  nebenbei 
vielleicht  auch  noch  auf  Erdbeben  und  andere  Ursachen. 

Durch  diese  Aufpressung  ergaben  sich  uns  dann  aber  auiser  der  Breccien- 
bildung  als  weitere  Folgewirkung  auch  noch  die  Überschiebungen;  denn 
wenn  ein  Berg  mit  geneigter  Schichtenstellung  gewaltsam  emporgedrängt 
wird,  dessen  untere  Schichten  aus  mächtigen  Thonen ,  dessen  obere  Schich- 
ten aus  harten,  aber  durch  die  Emporpressung  zerbrochenen  Kalken  be- 
stehen, so  waren,  lediglich  in  Folge  der  Schwere,  umfangreiche  Abrut- 
schungen und  Bergstürze  die  noth wendige  Folge  einer  solchen  Bildung; 
ganz  abgesehen  von  denjenigen  Überschiebungen ,  welche  sich  als  Folge  des 
durch   das  Emporpressen  hervorgerufenen  Seitendruckes  ergeben  mufsten. 

Abgleitang  als  Ursache  von  Überschiebungen.  Dieser  Gedanke,  wel- 
chen wir  in  unseren  bisherigen  Arbeiten  auszufiihren  suchten,  ist  an  sich 
ein  durchaus  statthafter.  Jeder  Bergsturz  bewirkt  eine  derartige  Über- 
schiebung,  sei   es  einer  wüsten  Trümmermasse,    sei   es  mehr  zusammen- 


' 


8  Brakco: 

hängender  SclioUen;  in  dem  kleinen  Gebiete  der  Schweiz  allein  sollen  nicht 
weniger  als  150  katastrophenartige  Bergstürze  zu  verzeichnen  sein^  welche 
sich  jetzt  noch  erkennen  lassen.  Aber  auch  ungemein  viel  grofsartigere  und 
in  ihrem  Charakter  als  solche  ganz  sichergestellte  Überschiebungen  hat  man 
von  verschiedener  Seite  lediglich  zurückzuführen  versucht  auf  ein  Abgleiten 
riesiger  Gebirgsmassen  von  höher  aufgeprefsten  Stellen  des  Gebirges  aus  auf 
die  niedriger  liegenden,  also  auf  denselben  Vorgang ,  den  wir  im  Auge  haben: 

Ganz  allgemein  sucht  auf  solche  Weise  bekanntlich  Reyer's  Faltungs- 
hypothese* die  Entstehung  von  Kettengebirgen  auf  Abgleiten  als  möglich 
zurückzufuhren,  xmd  derartige  Vorgänge  würden  natürlich  mit  Überschie- 
bungen verknüpft  sein  müssen. 

Speciell  hat  Gosselet*  gewisse  Faltungen  in  den  französischen  Alpen 
und  in  den  Ardennen  in  solcher  Weise  erläutert  und  sehr  anschaulich  ge- 
zeigt ,  wie  bei  Bourg  d'Oisans  der  Lias  auf  der  Höhe  in  horizontalen  Schichten 
liegt,  während  die  am  Abhänge  abgerissenen  und  abgeglittenen  Schichten 
im  Thale  sich  zu  Falten  zusammengestaut  haben. 

Neuerdings  sucht  auch  Schardt*  durch  ein  einfaches  Abgleiten  die 
Thatsache  zu  erklären,  dafs  überall  in  den  schweizerischen  Voralpen  die 
geologisch  alten  Schichten  der  Trias ,  des  Perm  und  Garbon  auf  den  jugend- 
lichen Bildungen  des  Flysch  liegen.  Zu  Beginn  der  oligocänen  Zeit  seien 
die  centralen  Gebiete  der  Alpen  mit  ihrer  damaligen  sedimentären  Decke 
hoch  aufgeprefst  worden.  An  dem  steilen  Nordabhange  sei  ein  300^  breites 
Band  dieser  Sedimente  in 's  Gleiten  gekommen  imd  nun  langsam,  lediglich 
durch  die  eigene  Schwere,  60 — 80^  weit  nach  N.  auf  den  Flysch  hinauf 
geglitten.  In  den  heutigen  dortigen  »Klippen«  sähen  wir  die  Erosions- 
reste dieser  abgerutschten  Decke,  welche  natürlich  Reibungsbreccien  er- 
zeugte und  aus  dem  krystaUinen  Gebiete  die  »Findlingsblöcke«  gen  N. 
schob. 

In  ganz  derselben  Weise  wendet  Taramelli*  diese  Art  zu  sehen  auf 
analoge  Lagerungsverhältnisse   der  Lombardischen  und  Venetischen  Alpen 

*   Neues  Jahrbuch  f.  Min.,  GeoL,  Pal.    1877.    S.  916. 

^   Theoretische  Geologie.     Stuttgai*!  1888.     S.  480 — 484. 

■   Bulletin  soc.  geologique  de  France.   3*  ser.   Bd.  IX.    1880 — 1881.   p.  690. 

^  Eclog.  Geol.  Helvet  V.  1898.  p.  233 — 250.  Bulletin  soc.  vaud.  des  sc.  nat.  34.  1898. 
p.  114 — 219. 

^  Rendiconti  Reale  Istituto  Lombardo  sc.  e  lettere  (2).  Bd.  XXXI.  1898.  p.  1368 
bis  1375. 


Das  tmlcanische  Vorries.  9 

an  und  giebt  zu  erwägen »  ob  nicht  auch  im  Appennin  manche  Überschie- 
bungen auf  dieses  einfache  Abrutschen  zurückzufahren  seien. 

Auch  Brögger,  wie  ich  einer  fi^undlichen  mündlichen  Mittheilung  des 
verehrten  Herrn  CoUegen  entnehmen  darf\  fuhrt  bedeutende  Überschie- 
bungen in  Norwegen  zurück  lediglich  auf  ein  Abgleiten  der  Massen  von 
höher  gelegener  Stelle  her. 

Man  sieht,  unsere  Vorstellung,  dafe  die  Überschiebungen  am  Riese 
durch  einfaches  Abgleiten  von  dem  durch  Aufpressung  vorübergehend  ge- 
bildeten Riesberge  entstanden  sein  möchten,  ist  wahrlich  keine  allzu  kühne; 
denn  in  ganz  unvergleichlich  stärkerem  Grade  wird  solche  Vorstellung  von 
verschiedenen  anderen  Autoren  angewendet. 

Beispiele  localer  Aiif^ressungen.  Ganz  ebenso  ist  aber  auch  die  andere 
Vorstellung,  welche  wir  uns  am  Riese  gebildet  hatten,  heute  eine  durchaus 
nicht  fremd  klingende:  dafs  nämlich  durch  Empordrängen  bez.  -gedrängt- 
werden von  SchmelzfluXs  über  dieser  Stelle  ein  Berg  emporsteigen  könne ; 
denn  eine  solche,  die  Decke  emporhebende  Kraft  wird  von  vielen  Autoren 
den  Laccolithen  zugestanden.  Wir  haben  bereits  früher  Gründe  und  An- 
schauungen Anderer*  sowie  Beispiele  angeführt,  welche  för  das  Vorhanden- 
sein derartiger  localer  Hebungen,  veranlaTst  durch  aufwärts  drängenden 
Schmelzflufs,  sprechen.     Es  sei  dem  hier  noch  Weiteres  angefugt. 

In  seinen  Studien  am  Adamello  hat  Salomon  nachgewiesen^,  daCs 
die  im  Minimum  4860  Milliarden  schwere  Tonalit- Magmamasse  bei  ihrer 
Intrusion  wenigstens  5250™  hochgehoben  worden  sein  mufs.  »Und  das  ist 
eine  Thatsache,  keine  Hypothese!«  Im  gleichen  Mafse  wurden  natürlicli 
die  den  Tonalit  überlagernden  Sedimente,  einen  Berg  bildend,  empor- 
geprefst.  Ergiebt  das  nicht  ein  vollkommenes  Analogon,  sogar  sehr 
viel  gröfseren  Mafsstabes,  mit  dem  Bilde,  welches  wir  uns  vom  Riese 
machten? 

In  ähnlicher  Weise  erklärt  auch  Hinterlechner  ein  allerdings  wohl 
kleineres  Vorkommen  in  Ostböhmen.*  Über  dem  Kunititzer  Eruptiv- Magma 
hat  einst  der  Plänerkalk  eine  Decke  gebildet.    Letztere  ist  dann  von  dem 


*  Gedruckt  findet  sich   das  Gesagte  in   einer  mir  leider  nicht  zugänglichen  Schrift: 
Norge  i  det  19^'  iarhundered.     Geologie. 

*  Das  vulcanische  Ries.     S.  20 — 24. 

»    Sitzungsber.  d.  König).  Preuss.  Akad.  d.  Wiss.     Bd.  XXXI.     1901.     S.  746. 

*  Jahrbuch  k.  k.  Geolog.  Reichsanstalt.   Jahrg.  1900.  Bd.  50.  Wien  190 1.  S.  476,  Fig.  1. 

Phf/s.Abh.  1902.  I.  2 


10  Branco: 

Magma  in  die  Höhe  geprefst  worden,  wobei  zufällig  eine  grofse  Scholle  in 
höherem  Niveau  bis  heute  auf  dem  Eruptivgesteine  liegen  blieb. 

Dathe^  that  soeben  dar,  dafs  der  Porphyrstock  des  Hochwaldes  bei 
Waidenburg  in  Niederschlesien  die  ihn  ehemals  überlagernden  Walden- 
burger,  Weifssteiner  und  Schatzlarer  Schichten  —  wesentlich  Conglomerate 
imd  Sandsteine  —  bei  seiner  Emporpressung  allseitig  hochgehoben  habe. 
An  der  SO.- Seite  des  Porphyrstockes  entsendet  derselbe  eine  Apophyse, 
i^-^™  lang,  0^4  breit,  in  diese  Schichten  hinein,  welche  dieselben  gleich- 
falls im  "Contacte  ein  wenig  gehoben  hat.  Unmöglich  wird  man  annehmen 
können,  dals  in  diesen  Conglomeraten  und  Sandsteinen  durch  den  Gebirgs- 
druck  eine  vorhergehende  Aufblätterung,  also  Hohlraumbildung,  erfolgt  sei, 
so  dafs  der  Porphyr  nur  in  den  präexistirenden  Hohlraum  eingetreten  wäre, 
nicht  aber  selbst  sich  denselben  gebildet  habe.  Eine  solche  riesige  Höhle 
wäre  wohl  im  selben  Mafse  eingestürzt,  in  dem  sie  sich  gebildet  hätte. 
Gegenüber  leicht  blätternden  Schiefergesteinen  könnte  man  vielleicht  eine 
solche  Vorstellung  sich  bilden;  hier,  gegenüber  brüchigen  Sandsteinen  und 
Conglomeraten,  kaum. 

In  gleicher  Weise  hat  sodann  Hr.  Beushausen,  wie  ich  einer  freund- 
liehen  Mittheilung  entnehmen  darf,  die  Überzeugung  gewonnen,  dafe  im 
Harze  der  Granit  des  Brockenmassivs  nicht  passiv  in  einen  vorher  vorhan- 
denen Hohlraum  eingedrungen  sei,  sondern  bei  der  Aufwölbung  der  ihn 
überlagernden  Schichten  selbst  eine  active  Rolle  gespielt  habe. 

In  seiner  »Geologie  des  Tatragebirges «^  kommt  Uhlig  ebenfalls  zu  dem 
Schlüsse,  dafs  hier,  unabhängig  von  dem  Seitendrucke,  welcher  Faltungen 
und  Überschiebungen  der  Schichtgesteine  bewirkte ,  noch  ein  verticales  Auf- 
steigen quadratischer  oder  rechteckiger  Massen  des  Urgebirges  speciell  Gra- 
nites stattgefimden  zu  haben  scheint.  Es  ergiebt  sich  sogar,  dafs  diese 
verschiedenen  Granitmassen  bis  zu  sehr  verschiedener  Höhe  senkrecht  em- 
por gehoben  worden  sein  dürften;  so  erweist  sich  die  Woloszyn-Masse  viel 
stärker  gehoben,  als  die  ihr  östlich  benachbarte  Granitpartie.  Wenn  man 
demgegenüber  vielleicht  meinen  wollte ,  diese  verticalen  Hebungen  im  Tatra- 
gebirge könnten   doch    etwa  nur  eine  Folgeerscheinxmg  des  Seitendruckes 

^  Zeitschrift  der  Deutschen  Geolog.  Ges.  1902.  Heft  4.  Ref.  s.  Ztschr.  f.  prakt.  Geo- 
logie.    1902.     S.  505  —  510,  speciell  509. 

*  Denkschriften  der  math.-naturw.  Cl.  der  k.  Akad.  d.  Wiss.  Wien.  Bd.  LXFV.  1897. 
S.  113. 


Das  vukanische  Vorries.  11 

bez.  der  Faltung  sein,  so  ergiebt  sich  eine  solche  Lösung  hier  als  unmög- 
lich ;  denn  diese  Granitkeme  zeigen  keinerlei  Spuren  eines  etwaigen  Seiten- 
druckes. So  sehr  vorsichtig  sich  Uhlig  auch  in  dieser  Beziehung  ausdrückt, 
und  so  sehr  er  namentlich  über  die  Ursache  des  Aufsteigens  keinerlei  Ver- 
muthungen  ausspricht  —  man  wird  doch,  wie  er  hervorhebt,  die bemerkens- 
werthe,  durch  senkrechte  Hebung  am  ehesten  erklärliche  Thatsache  nicht 
übersehen  dürfen ,  dafs  auch  in  anderen  Gebirgen  Granitmassen  häufig  die 
höchsten  Erhebungen  des  Gebirges  bilden.  So  eröffnet  er  den  Ausblick  auf 
locale  Aufpressungen  altkrystalliner  Gesteine  als  eine  allgemeine  Erscheinung. 

Wenn  nun  aber  Seitendruck^  als  Ursache  hier,  speciell  in 
der  Tatra,  ausgeschlossen  ist,  dann  bleibt  als  Ursache  solcher 
localen  Aufpressungen  wohl  keine  andere  Erklärung  übrig,  als 
diejenige,  welche  wir  zur  Erklärung  der  Aufpressung  des  Ries- 
gebietes angewendet  haben:  Aufwärts  drängender,  bez.  ge- 
drängter Schmelzflufs. 

Es  liegt  nahe,  an  dieser  Stelle  gerade  auch  auf  das  Verhalten  vieler 
vulcanischer  Inseln  hinzuweisen,  bei  denen  sich  deutliche  Anzeichen  von 
negativen  Strand  Verschiebungen ,  bez.  also  von  Hebungen,  erkennen  lassen. 
Erklärlicherweise  werden  aber  derartige  Beispiele  nur  dann  als  beweisend 
för  eine  solche  locale  Hebung,  wie  wir  sie  hier  im  Auge  haben,  angesehen 
werden  können,  wenn  in  einem  und  demselben  Meere  bez.  Meerestheile 
die  verschiedenen  Inseln  regellos  gleichzeitig  hier  gehoben,  dort  gesunken, 
da  unveränderten  Niveaus  erscheinen;  denn  nur  in  solchem  Falle  müssen  es 
ja  die  Inseln  sein,  welche  entweder  von  localer  Hebung  oder  von  Senkung 
oder  von  Beidem  nach  einander  betroffen  worden  sind. 

Wenn  dagegen  in  einem  Meere  gleichzeitig  entweder  alle  Inseln  ge- 
hoben oder  aUe  gesenkt  erscheinen,  dann  kann  das  natürlich  ebenso  gut 
auch  durch  eine  Senkung  oder  Hebimg  des  Meeresspiegels  erklärt  werden. 
Zudem  würde,  wenn  wirklich  dennoch  eine  Hebung  oder  Senkung  der 
Inseln  selbst  stattgefiinden  haben  sollte,  das  hier  auf  eine  Hebung  oder 
Senkung  des   ganzen  Meeresbodens   einschließlich   aller  ihm  aufgelagerter 


^  Ob  dieser  Seitendruck  gedacht  wird  als  Folge  der  Abkühlung  der  Erde  und  des 
dadurch  hervorgerufenen  Zusammenbruches  der  Erdrinde,  oder  als  Folge  der  Pressung,  welche 
nach  Pilär  durch  die  Keilgestalt  der  Erdschollen  hervorgerufen  wird,  das  ist  gleichgültig; 
denn  auch  im  letzteren  Falle  entsteht  eben  eine  Pressung  (vergl.  W.  Branco,  Wirkungen 
und  Ursachen  der  Erdbeben.     Universitäts- Programm.     Berlin  1902.    S.  92,  93). 

2* 


12  Branco: 

Inseln  hinauslaufen.  Es  würde  sich  dann  also  um  eine  Aufwirts-  oder 
Abwärtsbewegung  eines  gröfseren  Theiles  der  Erdkruste  handeln,  nicht 
aber  um  locale,  eng  begrenzte  derartige  Bewegungen,  wie  wir  sie  hier 
gerade  im  Auge  haben  als  Analoga  zu  der  Aufwärtsbewegung  bez.  Empor- 
pressung des  Riesgebietes. 

Vorsicht  wird  mithin  in  dieser  Beziehung  Inseln  gegenüber  nothwendig 
sein.  Trotzdem  aber  lassen  sich  Beispiele  finden,  aus  welchen,  wie  es 
scheint,  eine  ganz  locale,  auf  die  Insel  oder  gar  nur  auf  Theile  der  Insel 
beschränkte  Hebung  hervorgeht;  eine  Hebung,  die  man  dann  wohl  nur 
dem  local  empordrängenden  Schmelzflusse  wird  zuschreiben  können. 

Gerland^  hat  ein  derartiges,  regellos  erfolgendes  Aufsteigen  und  Ab- 
sinken bei  vulcanischen  Inseln,  die  in  einem  und  demselben  Meere  liegen, 
vor  einigen  Jahren  behandelt.  Er  unterscheidet  an  der  Vulcan- Insel  den 
auf  dem  Meeresboden  ruhenden,  aufgeschütteten  Sockel  und  den  den  Erup- 
tionskanal erfüllenden  Eruptivpfeiler,  welcher  aus  dem  zuletzt  Emporge- 
quollenen besteht,  daher  noch  mit  dem  Magma  in  Verbindung  steht.  Der 
Sockel  behält  im  Allgemeinen  zugleich  mit  dem  festen ,  sehr  dichten  Meeres- 
boden, dem  er  aufliegt,  dieselbe  Lage.  Aber  der  bez.  die  diesen  Sockel  durch- 
setzenden Eruptivpfeiler,  somit  auch  deren  Spitzen,  die  Gipfel  des  Berges, 
steigen  empor  oder  sinken  hinab  mit  dem  Magma;  denn  sie  schwimmen  auf 
dem  Magma,  werden  daher  gemäfs  dem  specifischen  Gewichte  imd  dem 
hydrostatischen  Drucke  steigen  oder  sinken  müssen. 

Als  ganz  nebensächlich  wird  man  den  Unterschied  ansehen  können, 
dafe  hier  nur  die  Producte  der  früheren  Eruptionen  durch  den  Schmelz- 
flufs  gehoben  werden,  während  im  Riesgebiete  durch  den  Schmelzflufs  das 
Sedimentgebirge  und  der  Granit  gehoben  wurden.  Hauptsache  bleibt  ja 
doch,  daß  durch  das  Magma  die  überliegende  Gesteinsmasse  local  empor- 
geprefst  wird.    Aus  was  för  Gesteinen  diese  letztere  besteht,  ist  Nebensache. 

FaUs  also  die  von  Gerland  versuchte  Lösung  dieser  eigenartigen 
localen  Hebungserscheinungen  bei  vulcanischen  Inseln  das  Richtige  treffen 
sollte,  so  würde  man  auch  diese  Erscheinungen  als  ungefähres  Analogon 
der  Wirkungen  des  Schmelzflusses  im  Riese,  wie  wir  sie  uns  gedacht  haben, 
anföhren  können. 

Diese  weiteren,  den  früher  von  uns  angeführten  sich  an- 
schliefsenden  Beispiele  mögen  abermals  zeigen,  dafs  die  von  uns 

^    Beiträge  zur  Geophysik.     1895.     Ekl.  II,  S.  25. 


Das  tmlcanische  Vorries.  13 

zur  Erklärung  der  Riesphänomene  zur  Anwendung  gebrachten 
beiden  Vorstellungen 

einmal  von  localen,   engbegrenzten  Hebungen  durch 
emporgedrängten  Schmelzflufs,  zweitens  von  Abrutschun- 
gen sogar  ausgedehnter  Schichtenmassen  von  gehobenen 
Gebieten 
keineswegs   so   vereinzelt    dastehen   und   in   ihrer  Combination 
nicht   derartig  Absonderliches   darbieten,    dafs  man  vor  ihnen 
bei  der  Erklärung  der  Riesphänomene  zurückschrecken  mfifste. 

Wer  daher  eine  Emporpressung  und  Bergbildung  im  Riese  überhaupt 
annimmt  —  und  Koken  stimmt  in  dieser  Annahme  ja  völlig  mit  ims  über- 
ein — ,  der  kann  sich  auch  vor  diesen  nothwendigen  Folgewirkungen  der 
Bergbildung  nicht  verschlie&en. 

Grofsenbetrag  der  Uberschiebnngen  am  Riese.  Ein  Einwiuf ,  welchen 
man  unserem  Erklärungsversuche  entgegenstellen  könnte,  lie&e  sich  somit 
nicht  damit  begründen,  dafs  wir  zwei  den  heutigen  Erfahrungen  und 
Vorstellungen  geläufige  Dinge  mit  einander  combinirt  haben,  um  das  Zu- 
Standekommen  der  ja  zweifellos  am  Riese  vorhandenen  Überschiebungen 
zu  erklären.  Ein  Einwurf  könnte  wesentlich  nur  basirt  werden  auf  den 
Grölsenbetrag  der  Überschiebungen,  die  wir  damit  erklären  wollen;  also 
auf  die  Länge  der  Wegstrecke,  welche  die  überschobenen  Massen  zu- 
rückgelegt haben.  Man  könnte  nur  einwerfen,  dafs  unser  Riesberg  nicht 
genügend  grofs  erscheine,  um  so  weithingehende  Überschiebungen  her- 
vorzurufen. 

Es  dürfte  daher  angezeigt  sein,  darauf  hinzuweisen,  dais  die  Gröfse 
der  Überschiebungen  am  Riese  doch  keine  so  gewaltige  ist,  wie  das  der- 
jenige vielleicht  denkt,  welcher  den  Ries -Verhältnissen  femer  steht.  So 
ergeben  sich  für  die  Braun -Jura-  und  Untere  Weifs -Jura -Masse,  die  bei 
Hertsfeldhausen  auf  Oberem  Weifs -Jura  liegt,  eine  ungefähre  Entfernung 
vom  Riesrande  von  2^°*;  für  die  Braun -Jura-  und  Untere  Weifs -Jura -Masse, 
die  auf  dem  Buchberge  über  Weifs -Jura  ß  liegt,  eine  solche  von  etwa  4*"™ 
bez.  nur  I^"5,  wenn  man  von  dem  östlich  davon  liegenden  Theile  des 
Egerthales  aus  rechnet;  far  die  Braun  -  Jura -j8- Masse,  die  sich  bei  Unter- 
Riffingen  auf  Oberem  Weifs -Jura  findet,  eine  solche  von  gegen  6*™*;  für 
die  Schuttmasse,  die  bei  Lauchheim  den  Weifs- Jura  ß  überlagert,  eine 
solche  von  6 — 8*™. 


14  Branco: 

Da  das  im  S.  des  Rieskessels  gelegene  Vorries  ein  selbständiges  Auf- 
bruchsgebiet darstellt,  so  kann  man  selbstverständlich  nicht  die  bis  zu  12 
und  14^  steigende  Entfernung  der  dortigen  Braun -Jura -Massen  vom  Ries- 
rande, wie  das  geschehen  ist,  als  einen  Einwurf  gegen  unseren  Erklärungs- 
versuch  hinstellen;  denn  dort  etwa  vorhandene  Überschiebungen,  welche 
im  Vorriese  auf  dem  Weifs- Jura  lägen,  wären  ja.  gar  nicht  vom  Riese,  son- 
dern vom  Vorriese  aus  überschoben  worden.  Ob  sie  weit  vom  Riesrande 
entfernt  oder  nahe  demselben  liegen,  das  kann  somit  weder  gegen  noch 
für  unsere  Auffassung  geltend  gemacht  werden. 

Es  ergeben  sich  also  für  die  zu  erklärenden  Überschiebungen 
am  Riese  doch  nur  Strecken  von  2,  4  bez.  i-f,  6 — 8  und  6^,  vom 
Riesrande  an  gemessen.  Genau  lassen  sich  diese  Entfernungen  freilich 
überhaupt  nicht  abmessen,  da  es  eine  Schwierigkeit  darbietet,  der^jenigen 
Punkt  des  Riesrandes  festzustellen,  von  welchem  aus  wahrscheinlich  die 
betreffende  Überschiebung  ausgegangen  ist.  Für  diejenigen  Überschie- 
bungen, bei  welchen  Weifs-Jura-SchoUen  auf  das  damals  bereits 
erodirt  gewesene  Braun -Jura-Gebiet  erfolgten,  wie  bei  Kirch- 
heim, Dirgenheim  u.  s.  w.,  ist  vermuthlich  der  Betrag  der  über- 
schobenen  Strecke  ein  geringerer  als  der  oben  angegebene. 

Mitwirkung  einer  grofsen  Contaet«  Explosion.  Indessen  selbst  eine 
Überschiebung  der  Schollen  auch  nur  bis  auf  eine  Strecke  bis  zu  8^,  ledig- 
lich erklärt  durch  Abgleiten  von  dem  Riesberge  in  Folge  der  Schwere,  bez. 
durch  Seitendruck  bei  seiner  Aufpressung,  könnte  in  diesem  Falle  vielleicht 
immer  noch  gewisse  Bedenken  bei  Manchem  hervorrufen.  Darum  erscheint 
es  wünschenswerth ,  noch  auf  eine  zweite  Kraft  hinzuweisen,  welche  im 
Vorriese  deutliche  Spuren  hinterlassen  hat,  aber  auch  im  Riese  jener  erste- 
ren  verstärkend  zur  Seite  gestanden  haben  dürfte;  indem  sie  nämlich  den 
vom  Berge  abgleitenden,  überhaupt  aber  allen  den  Berg  bildenden  Massen 
einen  gewaltigen  Anstoßi  gab,  mit  grofser  Geschwindigkeit  und  Kraft  ab- 
zufahren. 

Wir  meinen  eine  gewaltige  Explosion,  hervorgerufen  vielleicht  durch 
die  plötzliche  Verwandlung  einer  grofsen  unterirdischen  Wasseransammlung 
in  Dampf,  in  Folge  der  Einwirkung  des  aufwärts  gepreisten  Schmelzflusses. 

Zu  einer  solchen  Annahme  einer  grofsen  Explosion  drängen 
uns  die  geologischen  Verhältnisse  in  dem  von  uns  in  der  vor- 
liegenden Arbeit  untersuchten  Vorriese: 


Das  vulcamsche  Vorries.  15 

Einmal  treten  hier  inselfÖrmig,  inmitten  der  ungestörten  Weifs -Jura- 
Kalke  der  Albhochfläche,  grofse  Gebiete  vergriesten,  in  Breccie  verwan- 
delten Kalkes  auf,  die  nicht  überschoben,  sondern  anstehend  zu  sein  scheinen; 
jedenfalls  aber,  wenn  doch  hier  und  da  überschoben,  nur  ein  wenig  ver- 
schoben sein  dürften.  Das  Vorhandensein  solcher  isolirten  Griesinseln  aber 
deutet  darauf,  dafe  an  der  betreffenden  Stelle  explodirende  Gase  sich  Bahn 
gebrochen  haben. 

Sodann  lilst  sich  erkennen,  dafs  die  verschiedenen  Intensitätsgrade 
der  Vergriesung  im  Allgemeinen  nicht  regellos  in  diesen  Inseln  vertheilt 
sind,  sondern  dafs  sich  nicht  selten  für  jede  Insel  ein  irgendwo  gelegenes 
centrales,  am  stärksten  vergriestes  Gebiet  ergiebt. 

Weiter  zeigt  sich ,  dafs  diese  Inseln  nicht  etwa  mit  Spaltenbildungen 
verknüpft,  also  nicht  durch  solche  hervorgerufen  zu  sein  scheinen.^  Wenn 
dem  aber  so  ist,  dann  dürft«  eine  grofse  Explosion  die  Ursache  sein,  welche 
die  Massen  erschüttert,  hochgehoben,  dabei  zerschmettert  und  hier  und  da 
auch  etwas  verschoben  hat.  Auf  ein  heftiges  Erdbeben  kann  man  diese 
Wirkungen  darum  nicht  zurückführen,  weil  dann  diese  Vergriesung  mehr 
allgemein  verbreitet,  nicht  auf  Inseln  beschränkt  sein  müfste. 

Endlich  aber  liefs  sich  erkennen ,  dafs  im  Vorriese  so  grofse  Überschie- 
bungen umfangreicher  Schollen,  wie  am  Riese  z.  B.  die  Buch berg- Kappe, 
wie  uns  scheinen  will,  fehlen;  denn  die  auf  dem  Weifs -Jura  im  Vorriese 
liegenden  Fetzen  von  Keuper-  und  Braun- Jura -Thon  möchten  wir  im  All- 
gemeinen für  herausgequetscht  bei  der  AuQ)ressung  des  Granites  bez.  auch 
für  ausgeworfen  bei  der  Explosion,  nicht  fiir  überschoben  auffassen. 

Dieser  Unterschied  zwischen  Vorries  und  Ries  scheint  sich  uns  da- 
durch zu  erklären,  dafs  im  Vorriese  lediglich  die  Explosion,  nicht  aber  auch 
eine  vorhergehende  Aufpressung  des  ganzen  Gebietes^  stattgeftinden  hat; 
darum  fehlen  hier  so  grofse  Überschiebungen.  Wogegen  am  Riese  eine  vor- 
hergehende allgemeine  Au^ressung  stattgefunden  hat,  so  dafs  nun,  theils 
nur  in  Folge  dieser,  theils  unter  Beihülfe  der  Explosion,  von  dem  aufge- 
prefsten  Gebiete  die  grofsen  Uberschiebungsmassen  abfahren  konnten. 

*  Die  das  Woraitzthal  begleitenden  Griesbildungen  wurde  man  freilich,  da  diesem 
Thale  eine  Spaltenbildung  zu  Grunde  liegt,  mit  letzterer  in  Verbindung  bringen  können.  Pls 
ist  auch  durchaus  denkbar,  dafe  ein  Theil  dieser  Weifs- Jura -Breccien  durch  Gebirgsdruck 
entstanden  sein  konnte,  der  durch  die  Aufpressung  des  Rieses  und  die  daraus  folgende  Spalten- 
bildung hervorgerufen  wurde. 

'    Aufser  in  der  Granitzone  (s.  Abschnitt  II  und  Taf.  I). 


16  Branco: 

So  ergiebt  sich  ein  Rückschlufs  von  den  Verhältnissen  im  Vorriese  auf 
die  des  Rieses. 

Durch  die  Explosion  würden  also  die  folgenden  Erscheinun- 
gen hervorgerufen  sein:  eine  Zertrümmerung  des  von  ihr  betroffenen 
Weifs- Jura -Kalkes,  soweit  solche  nicht  bereits  durch  den  mit  der  Auf- 
pressung verbundenen  Druck ^  erfolgt  war;  ein  Zerblasen  des  Granites^;  ein 
Emporschleudem  der  auf  dem  betroffenen  Weifs- Jura  etwa  liegenden  jün- 
geren Massen,  wie  Buchberg  -  Geröllsand  oder  andere  Terti&rgesteine ;  ein 
Auswurf  älterer,  namentlich  thoniger  Fetzen  von  Keuper-  und  Jura- Massen, 
soweit  solche  nicht  heraufgequetscht  wurden  bei  Aufpressung  des  Granites ; 
ein  Anstoß;  zum  Abgleiten  der  grofsen  Überschiebungsmassen  vom  Ries- 
berge, soweit  solche  nicht  von  selbst  durch  ihre  Schwere  abglitten. 

Dagegen  möchten  wir  uns  diese  grofse  Explosion  zeitlich 
unabhängig  denken  von  den  relativ  kleinen  Explosionen,  durch 
welche  im  Riese  wie  im  Vorriese  die  vulcanischen  Schlacken-  und 
Aseheneruptionen  hervorgerufen  wurden.  Die  gewaltige  Explosion 
vorausgehend,  ohne  vulcanische,  d.  h.  magmatische  Ausbrüche;  die  kleinen 
vulcanischen  Eruptionen  dann  später  folgend,  im  Riese  und  im  Vorriese 
ganz  so  verlaufend  wie  bei  Urach ,  welchem  letzteren  Gebiete  jene  gewal- 
tige Explosion  überhaupt  fehlte.  Auf  solche  Weise  bliebe  auch  die  Ein- 
gangs  dargelegte  (S.  5 — 7)  Überzeugung  zu  Recht  bestehen,  dafs  unmöglicli 
im  Riese  und  bei  Urach  so  sehr  verschiedenartige  Wirkungen  durch  einen 
und  denselben  gleich werth igen  Vorgang  erzeugt  sein  könnten. 

Derartige  immerhin  kleinere  Explosionen,  wie  sie  beiden  Gebieten 
zweifellos  gemeinsam  waren,  da  sie  hier  wie  dort  jene  relativ  leichten 
Spratzerscheinungen  des  Schmelzflusses  und  Zertrümmerungen  der  Gesteine 
li ervorriefen ,  waren  und  sind  offenbar  unvermögend,  die  in  Rede  stehen- 
den Breccienbildungen  und  Überschiebungen  in's  Leben  zu  rufen;  denn 
sonst  würden  sie  das  auch  bei  Urach  und  an  zahlreichen  anderen  Orten 
der  Erde  gethan  haben.  Dazu  bedurfte  es  eines  ganz  bedeutend  viel  grofis- 
artigeren  Explosionsvorganges,  der  sogar  vielleicht  in  einem  einzigen  Augen- 
blicke Alles  in  Bewegung  setzte  und  bewirkte. 

Abgesehen  von  diesem  Grunde  aber  haben  wir  im  vulcanischen  Tuffe 
Stücke    von  Weifs- Jura -Breccie    gefunden    und  von   Knebel    hat   neuer- 

^    Das  vulcanische  Ries.     S.  60  und  vorliegende  Arbeit  S.  7. 
^    Siehe  granitische  Explosionsproducte  in  Abschnitt  II. 


Das  vukanisehe  Vorries.  1 7 

(lings  bei  Burgmagerbein  gro£se  Blöcke  solchen  Grieses  im  Tuffe  entdeckt. 
Er  betont  mit  Recht ,  dais  dieser  Breccienkalk  wohl  nicht  erst  durch  den 
Ausbruch  des  Tuffes  entstanden,  d.  h,  vergriest  sein  kann.  Wäre  letzteres 
der  Fall  gewesen ,  wäre  bei  diesem  Ausbruche  ein  unzertrümmerter  Kalk- 
block in  die  Luft  geschleudert  worden  und  dann  in  die  weiche,  federnde 
Asche  zurückgefallen ,  so  würde  der  Block  unmöglich  zu  einer  solchen  Breccie 
zerschmettert  worden  sein.  In  dem  benachbarten  Gebiete  von  Urach,  in 
welchem  an  über  hundert  Stellen  Ausbrüche  von  Asche  stattfanden,  bei 
denen  Ealkblöcke  des  Weifs-Jura  gleichzeitig  emporgeschleudert  wurden 
und  in  die  Asche  fielen ,  habe  ich  in  der  That  niemals  eine  solche  Breccien- 
bildung  derselben  geAmden. 

Sodann  aber  macht  von  Knebel  geltend,  dals  diese  im  Tuffe  liegen- 
den Blöcke  von  Weifs-Jura-Gries  zu  einer  festen  Breccie  verkittet  sind. 
Dieser  Umstand  aber  lä£st  ebenfalls  darauf  schliefsen,  da&  die  Zerschmet- 
terung der  Blöcke  schon  firiher  durch  einen  anderen  Vorgang  erfolgte,  dafs 
bis  zur  Verkittung  seiner  zahllosen  Stückchen  ein  gewisser  Zeitraum  ver- 
strich, nach  dessen  Ablauf  dann  erst  der  Aschenausbruch  erfolgte. 

Für  sich  allein  würde  allerdings  dieser  Grund  nicht  beweiskräftig  sein, 
da  ja  auch  der  vulcanische  Tuff  seit  seiner  ersten  Entstehung  als  Asche 
zu  einem  festen  Gesteine  verkittet  worden  ist.  Das  Gleiche  konnte  folg- 
lich auch  bei  den  in  ihm  liegenden  Breccienstücken  geschehen.  Aber  in 
Verbindung  mit  jenem  ersteren  Grunde  und  dem  folgenden  dritten  gewinnt 
er  an  Wahrscheinlichkeit. 

Dieser  dritte  Grund  liegt  in  dem  später  nochmals  zu  besprechenden 
Umstände ,  dals  die  Breccienbildungen  des  Weifs-Jura-Kalkes  auch  an  solchen 
Orten  gefunden  werden,  an  denen  keine  Spur  von  vulcanischen  Tuffen  sicht- 
bar ist.  Das  deutet  ebenfalls  darauf  hin,  dafs  die  Eruptionen  der  letzte- 
ren und  die  grolse  Explosion  zwei  zeitlich  getrennte  Ereignisse  gewesen 
sein  dürften.  Wären  dagegen  beide  Ereignisse  zeitlich  zusammengefallen, 
dann  wäre  kein  Grund  vorhanden,  warum  so  starke  Griesbildungen ,  wie 
sie  südlich  vom  Vorriese  entstanden,  nicht  auch  von  Eruptionen  vulcani- 
scher  Tuffe  begleitet  worden  sein  sollten.  Offenbar  aber  war  damals,  zur 
Zeit  der  grofsen  Explosion,  der  Schmelzflufs  noch  nicht  hoch  genug  ge- 
stiegen, um  mit  zerstiebt  werden  zu  können. 

Damit  wollen  wir  nicht  gesagt  haben,  dafs  die  Aschenausbrüche  im  Vor- 
riese und  Riese  nicht  nachher  auch  zum  Tlieil  dieselben  Wege  benutzt  haben 

Phys.Ahh.  1902,  L  3 


18  Branco: 

sollten,  welche  ilmen  vorher  durch  diese  gewaltige  Explosion  eröflTnet  worden 
waren ;  das  wäre  widersinnig.  Wir  wollen  nur  sagen ,  dafs  wir  im  Allge- 
meinen zwei  zeitlich  getrennte  Vorgänge  unterscheiden  zu  sollen  glauben. 

Durch  von  Knebel  wird  der  Versuch  gemacht  werden,  im  Vorriese 
die  verschiedene  Intensität  der  Vergriesung  zu  benutzen,  um  auf  diese 
Weise  die  Ausbruch ssteUen  der  Gase  dieser  Explosion  festzustellen.  Indem 
drei  verschiedene  Grade  der  Zertrümmerung  des  Weifs- Jura  unterschieden 
werden,  ein  stärkster,  mittlerer  und  schwächster,  wird  durch  kartographi- 
sche Darstellung  derselben  ein  Bild  dieser  Verhältnisse  erreichbar  sein.  Das 
Unternehmen  hat  erklärlicherweise  mit  der  Schwierigkeit  zu  kämpfen,  dafs 
ein  Urtheil  über  verschiedene  Grade  der  Zertrümmerung  eines  Gesteins  sich 
wohl  in  extremen  Gegensätzen  leicht  gewinnen  läfst,  sonst  aber  dem  sub- 
jectiven  Ermessen  unterworfen  bleibt,  und  dafs  es  vor  Allem  auch  in  seinem 
Erfolge  sehr  von  dem  Vorhandensein  von  Aufschlüssen  abhängt.  Trotzdem 
hoffen  wir  auf  diese  Weise  ein  angenähert  richtiges  Bild  des  Thatsächlichen 
erlangen  zu  können  \ 

Dankbar  müssen  wir  der  Anregung  gedenken,  welche  uns  durch  Hrn. 
E.  Süfs  hinsichtlich  der  Annahme  einer  Explosion  geworden  ist.  In  seinem 
Antlitz  der  Erde^  hatte  derselbe  bei  Besprechung  der  Riesphänomene  freilich 
mehr  auf  die  Einsturzvorgänge  sein  Augenmerk  gerichtet.  In  seinen  Studien 
über  den  Mond  jedoch  hatte  er  hervorgehoben,  wie  die  plötzliche  Ver- 
wandlung unterirdischer  Wasseransammlungen  in  Dampf  die  Ursache  solcher 
heftigen  vulcanischen  Explosionen  bilde';  und  in  einem  Briefe,  welchen  wir 
der  liebenswürdigen  Theilnahme  des  hochverehrten  Meisters  an  unseren 
Ries -Untersuchungen  verdanken,  gab  er  der  Überzeugung  Ausdruck,  dafs  die 
Annahme  einer  gewaltigen  Explosion  alle  Riesphänomene  erkläre. 

Wenn  auf  solche  Weise  nun  ein  neuer  Factor,  der  einer  grofsen  Ex- 
ph)si()n,  in  die  Erklärung  der  Riesphänomene  hineingetragen  ist,  so  wird 
unter  diesem  neuen  Gesichtspunkte  die  Frage  zu  prüfen  sein,  ob  unser 
früherer  Erklärungsversuch:  Eine  Aufpressung  des  Riesgebietes  habe  die 
betreffenden  Erscli einungen  hervorgerufen,  nun  auch  noch  anwendbar  sei, 


^    Die  freundlichst  von  Hrn.  von  Knebel  noch  rechtzeitig  uns  zur  Verfügung  gestellte 
Karte ,  Tafel  I ,  giebt  ein  Bild  dieser  Verhältnisse. 

*  Bd.I.  S.259. 

*  Sitzungsberichte  uiatliem.  -  phys.  Cl.  der  k.  k.  Akademie  in  Wien.     Bd.  104,  Abth.  1. 
1895.    S.  34. 


Das  tnäoatmche  Vorries.  19 

oder  ob  die  Explosion  allein  alle  RiesphRnomene  erklären  könne,  ohne  dafs 
es  hierzu  der  weiteren  Annahme  einer  vorhergegangenen  Au^ressung  des 
Riesgebietes  bedfirfe. 

firaiide,  welche  die  Annahme  einer,  der  Explosion  vorhergehenden 
Hebung  im  Riesgebiete  nöthig  machen.  So  sehr  nun  aber  auch,  namentlich 
im  Vorriese ,  die  Verhältnisse  zur  Annahme  einer  grofsen  Explosion  drängen, 
so  liegen  doch  auf  der  anderen  Seite,  im  Riese,  die  Dinge  derart,  dafs 
wir  der  Zuhülfenahme  einer  Aufpressung  nicht  entbehren  zu  können  glauben. 
Ja,  auch  im  Vorriese  zwingt  die  granitische  Zone,  wie  uns  scheint,  zur  An- 
nahme einer,  wenn  auch  nur  kleineren  localen  Au^ressung. 

In  der  Thatsache  der  Überschiebung  so  grofser,  zusammenhängender 
Schollen,  wie  z.  B.  am  Buchberge,  scheint  uns  die  Schwierigkeit,  ja  Un- 
möglichkeit zu  liegen,  lediglich  durch  eine  grofse  Explosion,  ohne  Zuhülfe- 
nahme einer  vorherigen  Riesbergbildung,  also  ohne  vorherige  Aufpressung, 
die  Riesphänomene  zu  erklären.  Wir  glauben  daher  zunächst.  Gründe  und 
Thatsachen  darlegen  zu  sollen,  welche  uns  zum  Festhalten  an  einer  solchen 
Aufpressung  zwingen;  wobei  sich  freilich  nicht  umgehen  läfst,  dafs  wir  in 
Abschnitt  II ,  bei  Besprechung  der  Eruptions-  und  Explosionsproducte,  noch- 
mals, weil  zum  Theil  unter  anderen  Gesichtspunkten,  auf  diese  Frage 
zurückkommen  müssen. 

Nehmen  wir  die  Buchberg-Scholle.  Vom  Braun-Jura  a  an  bis  hinauf  zum 
Weifs-Juraa  hin  ist  hier  das  ganze  Schichtensystem  um  ungefähr  130"* 
senkrecht  gehoben  bis  auf  das  Niveau  des  Weifs- Jura  )8,  dann  seitwärts  auf 
letzteren  mehrere  Kilometer  weit  übergeschoben.  Würde  nun  die  Hebung 
momentan ,  d.  h.  durch  eine  Explosion ,  erfolgt  sein ,  so  hätte  die  ganze 
grofse  Scholle,  Schichtung  und  Zusammenhang  bewahrend,  nicht  nur 
100 — 130"  hoch  durch  die  Luft,  sondern  dann  auch  noch  seitwärts  über 
die  Alb  mehrere  Kilometer  weit  geflogen  sein  müssen.  Je  mehr  man  diese 
beiden  auf*  einander  senkrechten  Bewegungsrichtungen  in  zwei  mehr  stumpf- 
winkelig an  einander  stofsende  und  schliefslich  in  eine  geradlinige,  schräge 
sich  umgeändert  denkt,  desto  weiter  wird  die  Entfernung,  welche  den 
heutigen  Ort  der  Buchberg- Scholle  von  dem  ihres  ehemaligen  Anstehens 
trennt,  desto  eher  mufste  also  ein  Zerbrechen  der  grofsen  Scholle  statt- 
finden. Wollte  man  sich  nur  die  Diagonale  zwischen  jenen  beiden  recht- 
winkelig zu  einander  stehenden  Richtungen  als  Bewegungsrichtung  der 
Scholle   construiren,    so   würde   die  Buchberg -Scholle    einfach   aus   einem 

3* 


20 


Bra  Nco: 


abgeschrägten  Kantenstücke  der  Alb  hervorgegangen  sein  müssen,  wie 
folgende  Zeichnung  andeutet.  Einen  solchen  Eindruck  aber  macht  die 
Buchberg -Scholle  nicht;  auch  dann  nicht,  wenn  man  annimmt,  dafs  die 
ebenfalls  überschobene  Weifs- Jura -Masse  der  Beiburg  bei  dem  Vorwärts- 
schnellen der  Scholle,  als  das  hängendste  Glied  derselben,  zurückgeblieben, 
bez.  gleich  Anfangs  von  der  Scholle  abgerutscht  ist. 


Vor  der  Überschiebniig. 


F^.  2. 


Nach  der  Überschiebung. 

In  diesem  Falle  würde  nämlich  in  der  Uberschiebungsscholle  der 
Braun- Jura  an  Masse  sehr  zurücktreten  gegenüber  dem  Weife- Jura.  That- 
sächlich  aber  findet  wohl  das  umgekehrte  Verhältnifs  statt;  und  dieses 
wird  noch  sehr  verschärft  durch  die  Erwägung,  dafs  der  weichere  Braun- 
Jura  seit  seiner  Überschiebung  sicher  in  viel  stärkerem  Mafse  abgetragen 
sein  wird  als  der  widerstandsfähigere  Weifse,  dafs  folglich  ursprünglich 
noch  mehr  Braun -Jura  überschoben  gewesen  sein  mufs  als  heut  dort  vor- 
handen ist. 

Sodann  aber  macht  auch  die  regelrechte  Schichtung  der  Braun -Jura- 
Scholle,   wie  sie  sich  in  dem  Buchberg -Schachte  ergeben  hat\   ebenfalls 

*  Sitzungsberichte  der  König].  Preufs.  Akademie  der  Wissenschaflen.  1901.  Bd.  XXII, 
8.  501 — 524  und  Textfigiiren. 


Das  vulcanLsehe  VotTies.  21 

nicht  den  Eindruck,  als  ob  hier  ein  derartiges  Stück  mit  schräg  abge- 
schnittenen Schichten  vorliege.  Endlich  bietet  die  Alb  in  dieser  Gegend 
nirgends  einen  so  abgeschrägten  Abfall  dar,  bricht  vielmehr  steil  zum 
Rieskessel  ab. 

Die  Herkunftsstelle  der  überschobenen  Scholle  müfste  daher  um  eine 
ansehnliche  Strecke  weiter  gen  O.,  mehr  in  das  Ries  hinein,  verlegt  werden. 
Je  länger  jedoch  der  in  der  Luft  zurückgelegte  Weg  ist ,  welchen  die  Scholle 
bei  der  Explosion  aus  der  Tiefe  zur  Höhe  nehmen  mulste,  desto  grOfser 
mulste  die  Zertrümmerung  derselben  werden.  Demgegenüber  zeigte  sich 
die  Buchberg- Scholle  gerade  umgekehrt  einheitlich  und  wohlgeschichtet, 
nicht  niedergebrochen. 

So  scheint  uns  die  Annahme,  die  Überschiebung  der  Buchberg- Scholle 
könne  nur  durch  eine  Explosion  bewirkt  worden  sein,  auf  grofse  Schwierig- 
keiten zu  stofsen. 

Diese  Schwierigkeit  der  Betrachtung  schwindet  nun  sofort,  sobald 
wir  eine  durch  den  Schmelzflufs  bewirkte  vorherige  Hebung  des  Riesgebietes 
zu  einem  Riesberge  annehmen,  von  dem  aus  dann  durch  die  Explosion  das 
ohnedem  schon  erfolgende  Abgleiten  der  Schollen  beschleunigt  wurde. 

Unsere  Annahme  einer  vorherigen  Hebimg  aber  stützt  sich  auf  die 
Höhenlage  des  Granites  nicht  nur  im  Rieskessel ,  sondern  auch  im  Vorriese, 
da  er  dort  noch  heut  an  200"  höher  liegt,  als  das  der  Fall  sein  dürft«. 
Das  könnte  man  nun  an  sich  freilich  in  der  Weise  erklären ,  dafe  der  Granit 
in  der  Gegend  des  Rieses  in  Form  einer  Insel  aus  dem  Meere  aufgeragt 
habe;  denn  in  dem  doch  nicht  allzuweit  entfernten  Gebiete  von  Regensburg 
ist,  wie  aus  der  schönen  Untersuchimg  von  Pompecky  hervorgeht \  bereits 
die  urgebirgische  Küste  des  Jura -Meeres  gewesen,  so  dafs  dort  an  ver- 
schiedenen Stellen  die  Juraschichten  lückenhaft  zur  Ablagerung  gelangten. 

Für  das  Riesgebiet  aber  erscheint  uns  eine  solche  Annahme  zunächst 
einmal  darum  unmöglich,  weil  der  Jura  in  der  Umgebung  von  Granit -Inseln 
petrographisch  eine  vom  normalen  Typus  abweichende,  mehr  sandige,  zum 
Theil  gar  conglomeratische  Ausbildung  erlangt  haben  mülste;  und  das  ist 
nicht  im  Geringsten  der  FaU.  Im  Riese  treten  vielmehr  die  Juraschichten  mit 
völlig  unveränderter,  normaler  petrographischer  Ausbildung  hart  an  den 
Granit,  die  vermeintliche  Insel,  heran. 

*  Die  Jura-Ablagenmgen  zwischen  Regensburg  und  Regenstauf.  Geographische  Jahres- 
heile.    14.  Jahi'gang.    München   1901.    S.  139  —  220. 


22  Brango: 

Wenn  dieser  inselfbrmig  im  Jurameere  aufgeragt  hätte,  würde  aber  weiter 
auch  eine  lückenhafte  Reihenfolge  der  Jurasehich ten  sich  daraus  ergeben  haben. 
Wo  die  Insel  z.  B.  zur  Liaszeit  aufragte,  müTste  der  Lias  überhaupt  fehlen. 
Letzteres  ist  sclieinbar  freilich  im  Riese  der  Fall;  denn  wir  finden  auf  dem 
Granite  stets  ein  Gemiscli  nur  von  Keuper  und  Braun-Jura-Thonen ,  die  Bunte 
Breecie;  Lias  fehlt  in  dieser  Breccie,  wie  es  scheint.  Aber  diese  ist  bereits 
ehi  gestörtes  Gebilde,  kein  ursprünglicher  Absatz  mehr.*  Da,  wo  ursprüng- 
licher Absatz  noch  erhalten  ist,  findet  man  auch  Lias.  So  am  Hesselberge, 
nördlich  vom  Ries ;  dort  ist  die  ganze  Schichtenreihe  von  Lias  a  an  bis 
Weifs-Jura)3  erschlossen.  Sodann  ist  weiter  südlich,  hart  am  nordwest- 
lichen Riesrande,  der  Lias  in  der  weiteren  Umgebung  von  Zipplingen 
verbreitet;  er  zieht  sich  östlich  und  südöstlich  von  Zipplingen  auch  in 
das  Ries  selbst  hinein  bis  nahe  an  die  dortigen  grofsen  Schollen  von 
Granit,  die  mithin  sicher  damals  keine  Insel  bildeten,  sondern  später  auf- 
geprefst  sind.  Weiter  südlich  im  Riese,  bei  Dirgenheim,  liegt  ebenfalls 
noch  Lias  nahe  am  Granit;  unter  einer  überschobenen  Klippe  des  Weifs- 
Jura  fanden  wir  an  einem  Ende  derselben  Lias  8  frisch  aufgeschlossen. 
Abermals  weiter  südlich  an  der  Mündung  des  Egerthales,  in  der  Gegend 
von  Utzmemmingen ,  liegt  abeimals  Lias  im  Riese ,  wiederum  nahebei  Granit. 

Also  auf  einer  langen  Linie ,  die  ungefähr  von  N.  nach  S.  verläuft ,  am 
wie  im  Riese  läfst  sich  Lias  beobachten,  und  das  zum  Theil  dicht  neben 
Granit.  Hier  wird  man  daher  unmöglich  sagen  können,  dafs  eine  Lücke 
der  Schichtenfolge  vorhanden  sei,  wodurch  dann  bewiesen  werde,  dafs 
das  zu  hohe  Niveau  des  Granites  lediglicli  eine  Folge  seines  Aufragens 
als  Insel  sei. 

Nehmen  wir  jedoch  selbst  einmal  an,  dafs  der  Lias  wirklich  im  Riese 
fehle ;  denn  die  übrigen  Schichten  fehlen  im  Ries  gaiiz  sicher  nicht.  Was 
wäi*e  damit  bewiesen?  Seine  Gesammtmächtigkeit  beträgt  36".  Die  zu 
grofse  Höhenlage  des  Granites  aber  beträgt  noch  heut  bis  200".  Folglich 
könnte  letztere  unmöglich  durch  ein  Fehlen  des  Lias  in  der  Schichten- 
folge, d.  h.  durch  Inselbildung  des  Granites  erklärt  werden. 

Aber  noch  ein  weiterer  Grund  läfst  sich  gegen  die  Annahme  geltend 
machen,  dafs  die  Granitmassen  im  Riese  und  Vorriese  alte  Inseln  seien. 
Im  Vorriese,  wo  die  granitischen  Vorkonunen  klein  sind  und  mitten  in  dem 
sie   ring3   umgebenden  Weiis-Jura   stecken,    pflegen   sie   begleitet   zu   sein 

^    Vergl.  darüber  iin  Abschnitt  IV  die  Lauchheimer  Breccie. 


Das  mloardsche  Vorries.  23 

von  einer  schmierigen  Masse  von  Keuper-  und  Jura-Thon.  Diese  macht  ent- 
schieden den  Eindruck,  als  ob  sie  bisweilen  den  Granit  mantelförmig, 
wenn  auch  durchaus  nicht  ringsum ,  sondern  nur  local,  umgebe;  als  ob 
sie  also  bei  der  Heraufpressung  des  Granites  hier  und  da  an  die  Wand 
der  Aufpressungs  -  Spalte  angedrückt  worden  sei,  so  dafs  sie  nun  hier  und 
da  eine  Ausfutterung  derselben  bilde,  zwischen  Granit  und  Weifs-Jura  liege. 
Derartiges  liefse  sich  nur  als  Folge  von  Au^ressung,  nicht  aber  als  solche 
von  etwaiger  ursprünglicher  Anlagerung  des  Keuper- Jura -Thones  an  den 
Gipfel  einer  Insel  erküren. 

Dazu  kommt  der  weitere  Grund,  dals  der  WeÜs- Jura-Kalk  in  petro- 
graphisch  völlig  unbeeinflulster,  normaler  Ausbildung  auch  im  Vorriese  hart 
an  die  Granitmassen  herantritt,  sie  umgiebt,  ohne  eine  Spur  von  sandiger 
Beschaffenheit  angenommen  zu  haben.  Gerade  im  Vorriese  Iftlst  sich  das 
gut  beobachten,  weil  hier  der  Granit  noch  im  Weifs-Jura -Kalke  drinnen 
steckt,  wie  ein  Eruptivgestein  in  der  von  ihm  durchbrochenen  Ablagerung; 
wogegen  im  Riese  die  Juraschichten  über  und  neben  dem  Granite  bereits 
gröCstentheils  entfernt  sind. 

Doch  noch  ein  Grund  ist  vorhanden ,  welcher  im  Riese  wie  im  Vor- 
riese gegen  die  Annahme  spricht,  dafs  der  Granit  von  jeher  inselförmig 
so  hoch  aufgeragt  habe ,  also  nicht  aufgeprefst  sei :  seine  vollkommen  zer- 
prefste,  zertrümmerte  Beschaffenheit. 

Wie  wollte  man  diese  letztere  erklären  unter  der  Annaiime,  dafs  der 
Granit  in  Form  von  Inseln  aufgeragt  habe?  Es  gäbe  nur  zwei  Möglich- 
keiten: entweder  durch  die  grofse  Explosion  oder  durch  allgemeinen  Ge- 
birgsdruck. 

Durch  die  grofse  Explosion  läfst  sich  die  zerprefste  Beschaffenheit 
der  angenommenen  Granit-Inseln  schwer  erklären;  denn  die  Wirkung  der 
Explosion  auf  den  Granit  ist  ja  vielerorten  zu  sehen.  Sie  besteht  in  einer 
Zerblasung  des  Granites  (s.  »granitische  Explosionsproducte«  in  Abschnitt  II), 
welche  inmitten  des  zerprefsten  Granites  auftritt  und  völlig  anders  aussieht 
als  die  eigenthümliche  Zerpressung  desselben.  Nun  könnte  man  freilich 
folgern,  durch  die  Explosion  habe  ein  Zerblasen  des  Granites  da  stattge- 
funden, wo  die  Gase  sich  Bahn  brachen;  ein  Zerpressen  des  Granites  aber 
in  der  ganzen  übrigen  Masse  desselben.  Diese  Erklärung  wäre  wohl  an- 
gängig. Aber  dann  dürfte  nicht  blofs  der  Granit,  es  müfste  auch  der  ihn 
ringsum  umgebende  Weifs-Jura  überall  mit  zerprefst  sein,  da  dieser  ja  den 


24  B  R  A  N  c  o : 

Druck  der  explodirenden  Gase  in  gleicher  Weise  auszuhalten  hatte.  Das 
scheint  jedoch  nicht  der  Fall  zu  sein,  wie  Tafel  I  erkennen  laXst;  und  ganz 
denselben  Grund  kann  man  geltend  machen  gegenüber  dem  Versuche,  den 
Gebirgsdruck  für  diese  Erscheinungen  im  Granite  geltend  zu  machen. 

Durch  allgemeinen  Gebirgsdruck  nämlich  —  der  dann  wohl  von  der  süd- 
lich der  Donaulinie  abgesunkenen  Albt^fel,  bez.  von  dem  ganzen  versunkenen 
vindelicischen  Gebirge  ausgegangen  wäre  —  läfst  sich  die  zerpreiste  Be- 
schaffenheit der  angenommenen  Granit-Inseln  auch  schwer  erklären.  Un- 
möglich könnte  doch  allein  der  Granit  so  zerprefst  worden  sein,  der  im 
Vorriese  in  Form  einer  ganzen  Anzahl  von  angenommenen  Inselkuppen 
mitten  im  Weifs-Jura  steckt  (vergl.  Taf.  I).  Es  hätte  natürlich  auch  der 
Weifs-Jura,  in  dem  der  Granit  sitzt,  gleichzeitig  und  in  gleicher  Weise 
überall  mit  zerprefst  werden  müssen.  Das  ist  aber  vielfach  nicht  der 
Fall.  Man  findet  zerprefsten  Granit  im  unzerprefsten  Weifs-Jura  anstehen; 
und  innerhalb  des  zerprefsten  Granites  dann  wieder  zerblasenen. 

Wenn  somit  die  Zerpressung  der  angenommenen  Granit -Inseln  weder 
durch  Explosion  noch  durch  allgemeinen  Gebirgsdruck  erklärbar  ist,  so  wird 
sie  sofort  erklärbar  bei  der  Annahme ,  dafs  der  Granit  eben  nicht  in  Form 
von  Inseln  aufgeragt  habe,  sondern  durch  den  Druck  zerprefst  worden  sei, 
welcher  ihn  senkrecht  aufwärts  in  sein  jetziges  Niveau  gewaltsam  hinauf- 
drückte. 

Was  veranlafste  diesen  Druck? 

Wiederum  möchten  wir  von  dem  Gedanken  absehen,  eine  Explosion 
habe  ihn  plötzlich  in  dieses  hohe  Niveau  hinaufgedrückt;  denn  er  wäre  dann 
sicher  sofort  wieder  in  die  Tiefe  hinabgestürzt.  Es  bleibt  mithin  nur  übrig 
eine  langsame  Emporpressung  und  dabei  Zerpressimg  des  Granites  durch 
aufwärts  gedrängten  Schmelzflufs. 

Von  hohem  Interesse  erscheint  aber  noch  ein  letzter  Grund,  welcher, 
wie  es  scheint,  für  das  Vorhandensein  localer,  eng  umgrenzter  senkrechter 
Aufpressungen  spricht,  die  in  diesen  Gegenden  der  Alb,  und  zwar  noch  ost- 
wärts, jenseits  des  Rieses  stattfanden.  Der  Liebenswürdigkeit  des  Hrn.  CoUegen 
Walther  verdanke  ich  die  folgende  Mittheilung  über  seine  Beobachtungen : 

»Bei  Gelegenheit  einer  Untersuchung  der  Bildungsverhältnisse  der  Soln- 
hofener  Plattenkalke,  deren  Resultat  ich  demnächst  veröffentlichen  werdet 
fiel  es  mir  auf,  dafs  in  dem  völlig  horizontalen  Schichtenbau  des  ganzen 
Altmühlgebietes  von  Pappenheim  bis  Pfalzpaint  einige  ganz  localisirte  Stö- 


Das  tniloaniache  Vorries. 


25 


^0 

rungen  auftreten,  deren  Ähnlichkeit  mit  dem  Hebungsphänomen  im  Ries 
sehr  frappant  ist.  Obwohl  es  mir  nicht  gelungen  ist,  die  Ursache  dieser 
Erscheinung  aufzuklären,  so  kann  ich  doch  folgende  Beobachtungen  mit- 
theilen : « 

»In  der  Umgebung  von  Mömsheim  und  Solnhofen  werden  auf  der  Höhe 
des  Plateaus  mancherorts  isolirte  Bruchstücke  von  Ealkplatten  (Flinze)  ge- 
funden, die  etwa  20"  tiefer  anstehen  und  auf  irgend  einem  Wege  durch 
die  hangenden  Schichten  hindiurchge wandert  sein  müssen.  An  eine  künst- 
liche Verschleppung  ist  nicht  zu  denken ,  Verwerfiingen  sind  nirgends  nach- 
zuweisen ,  und  so  ist  vielleicht  beistehendes  Profil  im  Stande ,  diese  seltsame 
Erscheinung  verständlieh  zu  machen.  Es  ist  in  einem  etwa  20"*  tiefen  Ein- 
schnitt entblöfst,  den  der  Solnhofener  Actienverein  östlich  von  den  Werk- 
stätten anlegen  liefs,  um  einen  Plattenbruch  nach  der  Strafse  zu  öffnen  und 
das  Haldenmaterial  herauszubefbrdem. « 

Fiff.  3. 


»Die  Lagerung  der  Plattenkalke  im  Hintergrund  des  Bruches  ist  völlig 
horizontal;  dann  beginnen  die  Schichten  gegen  N.  einzusinken  bis  zu  einer 
merkwürdig  zerrütteten  Region  von  etwa  30"*  Länge.  Hier  sind  die  Platten 
in  einzelne  Stücke  zergliedert,  die  ziemlich  regellos  durch  einander  liegen; 
dann  folgen  aber  zwei  ganz  deutliche  kuppeiförmige  Aufwölbungen,  jenseits 
deren  die  normale  schwebende  Lagerung  wieder  beginnt.  Auf  meiner  etwas 
schematisirten  Zeichnung  ist  der  Zwischenraum  zwischen  den  beiden  Gewölben 
verkürzt,  er  beträgt  etwa  25™,  während  jede  Auticlinale  eine  Breite  von 
etwa  5"  besitzt.  Da  ich  ziemlich  alle  Aufschlüsse  des  Solnhofen -Eichstätter 
Gebietes  besucht  habe  und  nirgends  etwas  Ahnliches  sah ,  da  ferner  meines 
Erachtens  weder  glaciale  Stauchung*,  noch  Abgleiten  des  Gehängeschuttes 
in  diesem  Profil  angenonmien  werden  kann,  mufs  ich  die  Erscheinung  ftir 

'  Das,  was  Walt  her  hier  schildert,  ist  also  etwas  ganz  Anderes,  als  das,  was  Thörach 
als  »glaciale  Stauchungserscheinungen«  aus  den  Plattenkalken  abbildet  (Bericht  Aber  die 
29.  Vers,  des  Oberrhein.  Geolog.  Ver.  1896.    S.  4.    Fig.  111,  IV. 

Phys,Abh.  1902.  I.  4 


26  Branco: 

eine  localisirte  Aufwölbung  im  Sinne  einer  »Hebung«  halten,  und  die  Ver- 
muthung  liegt  nahe,  dals  wir  hier  ein  Ausklingen  des  »Riesphänomens« 
vor  uns  haben.« 

Wir  fassen  im  Folgenden  die  hier  erörterten  Gesichtspunkte 
zusammen,  welche  für  das  Vorhandensein  localisirter,  zum  Theil 
recht  kleiner,  senkrechter  Aufpressungen  in  diesen  Gegenden 
der  schwäbisch-fränkischen  Alb  sprechen: 

Die  bedeutende  Gröfse,  der  feste  Zusammenhang  der  Buchberg -Scholle 
sowie  der  Umstand,  daCs  der  Braun -Jura  derselben  aus  der  Tiefe  des  Rieses 
stammt,  machen  uns  die  Vorstellung  unfafsbar,  dafs  die  Scholle  allein  durch 
eine  Explosion,  also  ohne  vorherige  Hebung,  auf  die  Alb  geschleudert 
sein  könnte. 

Der  Lias  ist  im  westlichen  Riese  entschieden  nachgewiesen.  Selbst  aber 
wenn  er  im  übrigen  Theile  des  Rieses  wirklich  fehlen  sollte  —  seine  Mächtig- 
keit beträgt  doch  niu'  etwa  36™  gegenüber  dem  zu  erklärenden  Betrage  von 
etwa  200*"  des  zu  hohen  Granitniveaus. 

Die  Granitmassen  im  Vorriese  scheinen  hie  und  da  von  gequälten 
Keuper-Jura-Thonen  seitlich  begleitet  zu  sein,  die  wie  eine  Ausfutterung 
der  Au^ressungsspalte  erscheinen. 

Der  Weifs- Jura -Kalk  zeigt,  selbst  nicht  im  Contacte  mit  dem  Granite, 
keine  Spur  von  sandiger  Ausbildung. 

Die  Zerpressung  des  Granites,  die  keineswegs  immer  von  entsprechender 
Zerpressung  des  Weifs -Jura  begleitet  ist,  erscheint  ebenfalls  als  Folge  von 
localisirter  Aufpressung  des  Granites. 

In  der  Solnhofener  Gegend  giebt  die  von  Walther  gefundene  Sattel- 
bildung wohl  auch  Beweise  für  das  Dasein  kleiner  Aufpressungsherde.  Das 
von  den  Arbeitern,  welchen  jede  Gesteinsschicht  genau  bekannt  ist,  be- 
glaubigte Auftreten  von  Gesteinsstücken  oben  auf  der  Alb ,  die  nur  in  der 
Tiefe  anstehen,  macht  solche  Aufpressung  auch  an  anderen  Orten  dort 
sehr  wahrscheinlich. 

Ist  nun  der  Granit  aufgeprefst,  so  kann  das  nicht  durch  die  Explosion 
geschehen  sein,  da  er  sogleich  nach  derselben  wieder  in  die  Tiefe  zurück- 
gestürzt sein  würde. 

So  schwer  verständlich  das  Auftreten  localisirter,  zum  Theil 
kleiner  Aufpressungsherde  auch  sein  mag,  es  dürfte  nach  Obigem 
doch  nicht  mehr  zu  bezweifeln  sein. 


Das  tmlcanische  Vorries.  27 

Die  G-esammtheit  der  Riesphanomene  wird  daher  schwerlich 
allein  durch  eine  Explosion  erklärt  werden  können.  Es  bedarf, 
so  will  uns  wenigstens  scheinen,  eines  Zusammenwirkens  dieses 
einenKraftmomentes  mit  dem  anderen  der  langsamen  Aufpressung. 

Die  Ursache  der  Aufpressung  aber  liegt,  unserer  Auffassung 
nach,  nicht  im  Gebirgsdrucke,  sondern  zunächst  im  Schmelzflusse, 
d.h.  einem  Laccolith.  Ob  dieser  seinerseits  wieder  durch  den 
Druck  einer  absinkenden  GebirgsschoUe  aufgeprefst  worden  ist, 
oder  ob  hier  doch  andere,  dem  Magma  innewohnende  Kräfte 
wirkten,  das  entzieht  sich  jeder  Entscheidung  (vergl.  den  Schlufs 
des  Abschnittes  I). 

Man  wird  unserer  Auffassung  gegenüber  einwerfen  können,  dafs  ein 
Laccolith  sich  durch  das  Vorhandensein  eines  Contacthofes  verrathen  müsse, 
während  doch  am  Riese  von  einem  solchen  nichts  zu  sehen  sei.  In  der 
That  haben  Laccolithe,  die  in  Schiefer  eingeprefst  wurden,  Contactmetamor- 
phismus  erzeugt.  Aber  im  Riese  würde  der  von  uns  angenommene  Laccolith 
im  Granit  liegen  oder  gar  unter  demselben,  im  Gneifs;  und  es  wäre  doch 
sehr  die  Frage,  ob  diese  Gesteine  in  demselben  Malse  contactmetamorph 
verändert  werden  wie  jene  Schiefer. 

Es  wäre  zudem  auch  möglich ,  dafs  in  gröfserer  Tiefe  sich  eine  Contact- 
metamorphose  des  altkrystallinen  Gesteines  zeigen  würde. 

Das  Beispiel  der  grofsen  Explosion  des  Bandai  San  und  ihrer  ITber- 
sehiebungen.  Wenn  man  die  Vorstellung,  dafs  die  Breccienbildungen  und 
Überschiebungen  im  Vorriese  und  Riese  unter  Zuhülfenahme  einer  Explosion 
erfolgt  seien,  einleuchtend  machen  will,  so  wird  es  vor  Allem  angezeigt  sein, 
das  Beispiel  und  die  Wirkungen  einer  genauer  bekannten  gro&en,  vulcani- 
schen  Explosion  vor  Augen  zu  fahren.  Als  ein  solches  ergiebt  sich  hier  am 
besten  diejenige,  welche  vor  14  Jahren  in  Japan  den  Vulcangipfel  des  Bandai 
San  betroffen  hat. 

Am  15.  Juli  1888  Morgens  um  8  Uhr  erfolgte  diese  gewaltige  Kata- 
strophe, bei  welcher  fast  in  einem  Augenblicke  eine  Bergmasse  von  670°* 
gröfster  Höhe  und  fast   1^8  Länge  beseitigt  wurde  \ 


^  Bergeat  (Die  äolischen  Inseln,  Abhandlungen  K.  Bayer.  Akad.  d.  W.  math.-phys. 
Cl.  Bd.  20,  1900,  S.  231)  stellt  die  Frage,  ob  die  Katastrophe  von  Bandai  San  nicht  auch 
als  ^rofsartiger  Bergsturz ,  ohne  directes  Zuthun  des  Vulcanisinus ,  aufgefafst  werden  könnte. 
Das  ist  aber,  wenn  man  obiger  Schilderung  folgt,  doch  wohl  ausgeschlossen. 

4* 


28  B  R  A  N  c  o : 

Aber  wie,  in  welcher  Weise?     Nicht  etwa  in  die  Luft  geblasen! 

Sekyja  und  Kikuchi*  berichten  vielmehr  ausdrücklich,  dafs  ein  kleiner 
Theil  des  Kobandai -Kegels  zu  Staub  zerblasen  wurde,  dafs  der  gröfeere  Theil 
dagegen  in  mächtige  Stücke  zerbrach ,  welche  in  Foim  von  Bergstürzen  an 
den  Flanken  des  Berges  niederfuhren.*  Da,  wo  diese  Lawinen  gegen  Hinder- 
nisse in  ihrem  Wege  oder  gegen  andere  hinabgleitende  Schollen  geschoben 
wurden,  zertrünunerten  sie  zu  wirren  Massen  von  Erde  und  Felsen.  Diese 
Bergmasse  von  ungef&hr  1*^21  Inhalt  schofs  in  solcher  Weise  an  den  Flanken 
des  Berges  nach  N.  hinab,  mit  ungefähr  i^"3  Geschwindigkeit  in  der  Minute 
einen  Weg  von  9^°  zurücklegend. 

Sie  bedeckte  ein  Areal  von  etwa  70**^  mit  einer  durchschnittlich  1 7"4 
hohen*  Schuttmasse,  deren  Gewicht  schätzungsweise  2826290000000^*  be- 
tragen mag.  Diese  bergab  stürzende  Schuttmasse  glich ,  wie  Augenzeugen 
berichten,  ganz  derjenigen  eines  wogenden  Stromes.  Wie  dieser,  so  fuhren 
die  Schuttmassen  wogend  thalabwärts,  und  da,  wo  Hindemisse  ihnen  im 
Wege  lagen,  schlugen  sie  brandend  an  diesen  in  die  Höhe^,  so  dhCs  sie  local 
bis  zu  60°*  Mächtigkeit  anschwollen. 

Ein  Priester,  Tsurumaki,  war  aus  nächster  Nähe  Augenzeuge  des  Aus- 
bruches, denn  er  befand  sich  zur  Zeit  desselben  in  dem  Badeorte  Nakanoyu, 
welcher  am  Fufee  des  Kraterberges  liegt.  Wie  diurch  ein  Wunder  entrann 
er,  wenn  auch  durch  fallende  Steine  mehrfach  verletzt,  dem  Tode.  Er 
berichtet,  dass  bald  nach  8  Uhr  die  erste  Explosion  losbrach,  welche  von 
einem  Aschen-  und  Steinhagel  gefolgt  war.  Als  dieser  sich  nach  etwa 
einer  Stunde  gelegt  hatte,  ertönte  das  Ejachen  einer  zweiten  und  gleich 
darauf  einer  dritten  Explosion,  welche  jedoch  nicht  von  Stein-,  sondern 
nur  von  Aschen -Auswürfen  gefolgt  waren. 

Weder  Anfangs  noch  später  zeigte  sich  Lava,  sei  es  in  Form  vou 
Strömen  oder  auch  nur  von  Bimsstein -Auswürflingen.  Aber  es  scheint 
auch,  als  wenn  die  ausgeworfenen  Aschen-  und  Steinmassen  nicht  aus  zer- 
blasenem  Schmelzflusse  bestanden  hätten,  nicht  also  wirkliche  Auswürflinge 
gewesen  wären ,  sondern ,  zum  gröisten  Theile  oder  ganz ,  nur  Staub  und 


^   The  eruption  of  Bandai-san.    Journal  of  the  College  of  science,  Imperial  University. 
Japan.    Vol.  III.  Part.  II.  Tokyo  1889,  p.  106. 

*    Which  were  thrown  down  mucb  after  the  manner  of  a  land-slip. 
'    A.  a.  O.  p.  148. 
^    A.  a.  0.  p.  108. 


Das  vulcanische  Vorries.  29 

Stücke  des  zerblasenen  vulcanischen  Kegels.  So  erklärt  es  sich,  dafs  schon 
eine  Stunde  nach  der  Explosion  die  durch  diesen  Staub  am  hellen  Tage 
erzeugte  tiefe  Finsternifs  wich  und  einer  mondlichthellen  Beleuchtung  Platz 
machte;  und  dafs  8  Stunden  nach  der  Explosion,  um  4  Uhr  Nachmittags, 
die  Luft  wieder  klar  war.  Derartiges  Verhalten  deutet  mit  Entschiedenheit 
darauf  hin,  dafs  zerschmetterte  flüssige  Masse  kaum  einen  Antheil  an 
diesen  Schuttmassen  hatte. 

Es  ergiebt  sich  also,  dafs  hier,  entweder  ganz  überwie- 
gend oder  sogar  vielleicht  ganz  allein,  eine  Zerschmetterung 
des  Berges,  d.  h.  der  längst  erstarrten,  in  früherer  Zeit  ausge- 
worfenen Aschen  und  Lavaströme  erfolgte,  und  dafs  nur  drei 
kurze  Explosionen  erfolgten.  Der  Ausbruch  vollzog  sich  also  nicht 
in  der  Art  und  Weise,  wie  das  bei  gewöhnlichen  Vulcanausbrüchen  der 
Fall  zu  sein  pflegt,  indem  aus  dem  im  Schlote  aufgestiegenen  Schmelzflusse 
unaufhörlich  Gasexplosionen  stattfinden.  Es  mufs  vielmehr  der  Schmelz- 
flufs  ganz  in  der  Tiefe  geblieben  sein  und  es  mufs  sich,  frei  von  ihm,  eine 
ungeheure  Gasmasse,  deren  Druck  mehr  und  mehr  anwuchs,  im  Innern  des 
Kanals  bez.  Berges  angesammelt  haben.  Sowie  deren  Spannung  stärker 
geworden  war  als  die  Festigkeit  des  Berges,  erfolgte  die  erste  Explosion, 
nach  einer  Stunde  dann  in  gleicher  Weise  die  zweite  und  dritte,  offenbar 
schwächere. 

Dieser  in  die  Luft  geblasene  Gesteinsstaub  bildete  indessen  nur  die 
begleitende  Nebenerscheinung  des  Vorganges.  Die  Haupterscheinung  des- 
selben bestand  in  einem  einfachen  Abschieben  der  höheren  Theile  des  Berges 
in  Folge  der  Explosion. 

Damit  war  die  ganze  nach  N.  hin  gelegene  Hälfte  des  Berges  weg- 
geschoben und  ein  pferdehufthnliches  Loch  von  gewaltigsten  Dimensionen 
herausgerissen. 

Durch  eine  gewaltige  Explosion  ist  also  am  Bandai  San  die 
ganze  Nordflanke  des  Berges  nicht  etwa  zerblasen,  sondern 
vielmehr  ganz  wesentlich  nur  nach  N.  hin  abgeschoben  worden 
und  mit  gewaltiger  Geschwindigkeit  9^"  weit,  alle  Hindernisse 
überfluthend,  gefahren;  obgleich  doch  die  grofse  Rauhigkeit 
dieser  vulcanischen  Massen  für  die  Bewegung  ein  viel  gröfseres 
Hindernifs  bildete,  als  das  bei  der  mächtigen  thonigen  Unter- 
lage des  Riesberges  der  Fall  gewesen  sein  müfste. 


30  Branco: 

So  wirkungsvoll  dieses  Beispiel  schon  ohnedies  ist,  es  würde  jeden- 
falls in  noch  sehr  viel  höherem  Mafse  wirkungsvoll  sein,  wenn  der  petro- 
graphische  und  tek tonische  Aufbau  des  Bandai  San  nicht  so  sehr  viel 
ungünstiger  gewesen  wRre  für  das  Entstehen  grofser  Überschiebungen,  als 
der  von  uns  angenommene  Riesberg, 

Der  Bandai  San  besteht  nur  aus  vulcanischen  Gesteinen,  Laven  und 
losen  Auswurfsmassen,  die  im  bunten  Wechsel  aufgethürmt  waren.  In 
Folge  ihrer  grofsen  Rauhigkeit  müssen  diese  bei  ihrem,  durch  die  Explo- 
sion erfolgten  Abgleiten  von  dem  Bergabhange  eine  ganz  gewaltige  Rei- 
bung erlitten  haben;  und  trotzdem  sind  sie  noch  9^  weit  abgeglitten  bez. 
abgeschleudert  worden ! 

Wie  vielweiterwären  dieBergmassen  wohl  geschoben  worden, 
wenn  der  Bandai  San  einen  Aufbau  besessen  hätte  wie  unser  Ries- 
berg: oben  die  harten,  durch  die  Hebung  vielfach  zerborstenen  Schichten 
der  Weifs- Jura -Kalke,  unter  diesen  die  mächtigen  Thonmassen  der  tieferen 
Juraschichten  und  des  Keupers,  welche  den  Granit  bedecken.  Auf  solchen 
Tlionschichten ,  bez.  auf  den  untersten  derselben,  wären  die  überliegenden 
Massen  am  Bandai  San  sicher  noch  viel  weiter  und  in  zusammenhängenden 
Schollen  zu  Thal  gefahren,  als  jene  rauhen  Gesteine  des  Bandai  San  auf 
ihrer  rauhen  Unterlage. 

Dieser  Vorgang  bei  dem  Bandai  San  charakterisirt  sich  nach 
dem  Gesagten  als  eine  eben  so  echte,  durch  Vulcanismus  er- 
zeugte  Überschiebung,  wie  dies  am  Riese  der  Fall  ist. 

Vermuthlich  aber  werden  solche  durch  Vulcanismus  erzeugte 
Abschiebungen  und  dadurch  entstandene  Überschiebungen  auch 
bei  anderen  Vulcanen  vorkommen,  jedoch  aus  demselben  Grunde 
wie  beim  Bandai  San  sich  der  Erkennung  entziehen.  Wir  kennen 
eine  ganze  Anzahl  gewaltig  grofser  Kratere,  deren  Entstehung,  wenigstens 
bei  einigen ,  auf  entsprechend  groCse  Explosionen ,  zum  anderen  Theil  freilich 
auch  auf  Einsturz ,  zum  dritten  auf  einer  Vereinigung  beider  beruhen  dürfte. 
Bei  jenen  durch  Explosion  entstandenen  dürft;e  daher  manche  Ab-  und 
Überschiebung  ganzer  Bergtheile  sich  vollzogen  haben,  ohne  dafs  man  je 
im  Stande  sein  wird,  das  nachträglich  zu  erkennen.  Aber  das  liegt  nur 
an  der  Beschaffenheit  des  in  Frage  kommenden  Materials.  Während  in 
anderen  Fällen  von  Überschiebungen  meistens  das  überschobene  Material 
petrographisch  von  demjenigen ,  über  welches  es  geschoben  ist,  sich  durch 


Das  vuloanische  Vorries»  31 

die  verschiedensten  Eigenschaften  mehr  oder  weniger  scharf  abzuheben 
pflegt,  findet  das  vollste  Gegentheil  davon  statt,  wenn  dunkles,  zum  Theil 
loses,  vulcanisches  Grestein  auf  ebensolches  überschoben  wird.* 

Man  wird  nicht  einwerfen  können ,  derartige  Vorgänge  dürfe  man  nicht 
Überschiebungen  nennen,  es  seien  nur  Bergstürze.  Gewifs  sind  es  Berg- 
stürze, hervorgerufen  durch  vulcanische  Kraft.  Aber  auch  am  Riese  handelt 
es  sich  ja,  unserer  Ansicht  nach,  nur  um  Bergstürze,  hervorgerufen  durch 
vulcanische  Kraft,  um  Abgleitungen  von  einem  Berge,  die  in's  Werk  gesetzt 
wurden  durch  eine  Explosion.     Wenn  nun  hierbei  grofse  Schollen  mit  er- 

^  Es  giebt  eine  ganze  Anzahl  anderer  grofser  Kratere,  deren  Entstehung  man  eben- 
falls auf  eine  solche  gewaltige  Explosion  vielleicht  zurückfuhren  möchte  und  auch  wirklich 
zurückzufuhren  versucht  hat. 

Dei'selbe  Vorgang  wie  am  Bandai  San  soll  sich  im  Jahre  1707  in  Japan  an  der  SO.- 
Flanke  des  Fuji-yama  vollzogen  und  dort  einen  Explosionskrater  von  ungefähr  denselben 
Dimensionen  wie  bei  dem  Bandai  San  erzeugt  Iiaben  (a.a.O.  S.  143). 

Auf  Java  soll  im  Jahi*e  1772  durch  eine  gewaltige  Explosion  des  Papaudayang,  eben- 
falls ein  Krater  ausgeblasen  sein,  welcher  nun  fünfzehn  englische  Meilen  Länge  und  sechs 
Meilen  Breite  besitzt.  (The  great  crater-lakes  of  Central  Italy.  Geological  magazine  1875. 
Decade  II.  V'ol.  II.  p.  353.) 

Nach  der  Ansicht  von  Judd  wären  auch  die  grofsen,  mit  Wasser  gefüllten  Kratere 
Italiens  durch  Explosion  entstanden.  Monte  Somma  des  Vesuv,  so  ftihrt  er  aus,  mit  2^  engh'schen 
Meilen  Durchmesser,  sei  wohl  sicher  im  Jahre  79  n.  Chr.  durch  Explosion  entstanden.  Rocca 
Monfina  mit  seinem  Kraterringe  Cortinella  von  drei  Meilen  Durchmesser  sei  dem  Monte 
Somma  so  ähnlich,  dafs  man  auch  auf  ähnliche  Entstehungs weise  schliefsen  möchte.  Der 
Kraterring  des  Monte  Albano  hat  zwar  sechs  Meilen  Durchmesser;  sein  analoger  Bau  deute 
jedoch  auf  analoge  explosive  Entstehung,  wof&r  auch  die  in  den  Westrand  des  Ringes  durch 
weitere  Explosionen  ausgeblasenen  Kratere  von  Vall'  Arriccia,  Lago  d'  Albano,  Lago  di  Nemi 
sprächen.  Auf  ganz  dieselbe  Entstehungs  Ursache  ftihrt  uns,  sagt  Judd,  die  Betrachtung 
des  Lago  di  Bracciano  mit  6-^  und  des  Lago  di  Bolzena  mit  zehn  englischen  Meilen  Durch- 
messer. 

Man  konnte  natürlich  mit  ganz  demselben  Rechte  hinzufugen  die  beiden  aus  dem 
Meere  aufragenden  vulcanischen  Ringe  von  San  torin  und  vom  Krakatau.  (Bei  diesen  würde 
dann  das  Abschieben  gewaltiger  Gesteinsmassen  über  andere,  da  sie  auf  dem  Meeresboden 
sich  vollzogen  hätte,  dem  Auge  vollends  entzogen  sein.) 

Indessen  diesen  sehr  grofsen  vulcanischen  Kraterbildungen  gegenüber  ist  doch  wohl 
grofse  Vorsicht  nicht  nöthig.  Sicher  handelt  es  sich,  mindestens  bei  einem  Theile  derselben ,  um 
einen  Einstui*z  ui  einen  unter  dem  Berge  befindlichen  Hohlraum  und,  wenn  überhaupt,  dann 
erst  in  zweiter  Linie,  nur  als  Begleiterscheinung,  um  eine  Explosion.  Vom  Krakatau  sagt 
Verbeek  sogar  ausdrücklich,  dafs  eine  Explosion  als  Entstehungsursache  wohl  ausgeschlossen 
sei.  Beobachtet  konnte  der  Vorgang,  der  sich  in  völliger  Dunkelheit  abspielte,  leider  nicht 
werden.  Die  Explosion  des  Tarawera  auf  Neuseeland  könnte  man  wohl  als  ein  sicheres 
Beispiel  eines  solchen  explosiven  Vorganges  in  grofsem  Malsstabe  erklären. 


32  Branco: 

haltener  Schichtung  über  anstehendes  Gestein  geschoben  werden,  so  dafe 
Älteres  auf  Jüngerem  liegt,   so  wird  man  auch  hier  von   »Überschiebung« 

sprechen  dürfen.   Um  das  darzuthun,  haben  wir  mit  Vorbedacht  darauf  hin- 

•  •• 

gewiesen  ,  dafs  die  Ursache  der  Entstehung  von  Überschiebungen  nicht  nur 

** 
eine  einzige  ist  ;  und  dafs  auch  als  zweifellose  »Überschiebungen«  erkannte 

und  benannte  Lagerungsverhältnisse  jetzt  auf  ein  einfaches  Abgleiten  von 

höher  gelegenen  Gebirgstheilen  auf  tiefer  liegende   zurückgewährt  werden, 

ohne   dafs   man   ihnen   damit  die   Bezeichnung  als    »Überschiebung«    nun 

abspräche. 

In  der  Hoffnung,  dafs  die  Erfahrungen,  welche  die  Ingenieure  bei 
militärischen  Sprengungen  gemacht  haben,  vielleicht  irgend  welche  An- 
haltspunkte geben  könnten  fux  die  Beurtheilung  des  Riesproblemes ,  habe 
ich  mich  mit  einer  Reihe  von  Fragen  an  die  geeignete  Stelle  gewendet. 
Die  in  dankenswerthester  Bereitwilligkeit  ertheilten  Aufschlüsse  sind  zwar, 
wie  sich  ja  erwarten  liefs,  nicht  im  Stande,  eine  Entscheidung  zu  bringen; 
aber  sie  geben  doch  immerhin  gewisse  Anhaltspunkte  fiir  die  Lösung  der- 
artiger Fragen,  so  dafs  sie  hier  doch  mitgetheilt  werden  sollten. 

Die  Frage,  ob  es  erfahrungsgemäfs  richtig  sei,  dafs  ein  Sprengstoff, 
welcher  viel  Wasserdampf  enthält,  das  Erdreich  weniger  zerschmettert  als 
vielmehr  in  toto  bei  Seite  schiebt,  wurde  bejaht.  Dies  kann  von  Wich- 
tigkeit fiir  das  Riesproblem  sein;  denn  hier  würde  es  sich  ja  gerade  um 
Wasserdampf  als  Sprengstoff  handeln  können. 

Die  weitere  Frage,  ob  man  es  überhaupt  für  denkbar  halte,  dafs  eine 
Explosion  die  Kraft  habe,  Schollen  von  400 — 1000™  Länge,  200 — 400" 
Breite,  30 — 50™  Dicke  2 — 6^°*  weit  fortzuschleudern  —  diese  Frage,  von 
welcher  wir  am  ehesten  geglaubt  hatten,  dafs  sie  als  unbeantwortbar  ab- 
gelehnt werden  würde,  »ward  aus  theoretischen  Gesichtspunkten  ebenfalls 
bejaht«,  doch  wird  damit  natürlich  der  von  uns  oben  erhobene  Einwurf 
nicht  umgestofsen,  dafs  so  grofse  Gesteinsschichten  bei  einem  Fluge  durch 
die  freie  Luft  zerbrechen  müfsten,  also  nicht  als  ein  geschichtetes  Granzes 
ankommen  könnten,  dafs  daher  doch  eine  der  Explosion  vorhergehende 
Riesbergbildung  angenommen  werden  müsse  (S.  19). 

Gleichfalls  als  »durchaus  zu  bejahen«  erwies  sich  eine  dritte  Frage: 
ob  die  Wirkungsweise  einer  Explosion  ganz  wesentlich  von  der  Beschaffen- 

^    Das  vulcanische  Ries  S.  100. 

*   Siehe  vorliegende  Abhandlung  S.  7 — 9. 


Das  vulcanische  Vorries,  33 

heit  der  Gesteinsmassen  abhänge?  »Der  Eigenschaft  des  Gesteines  wurde 
es  entsprechen,  dafs  bei  der  Sprengung  der  sehr  feste  Granit  und  der 
zähe  Braun -Jura  in  grolle  Stücke,  der  spröde,  weniger  feste  und  unbedeckte 
Weifs-Jura  in  kleine  Trümmer  zerstiebt  wurden.«  Jedenfalls  ergiebt  sich 
aus  dieser  Antwort,  dafs  der  von  Hrn.  E.  Süfs  betonte  grofse  Einflufs  der 
thonigen  Zwischenlage  zwischen  Weifs-Jura,  Kalk  und  Granit  im  Riesge- 
biete in  der  That  bestehen  mulste. 

Die  Herkunft  der  Gasmassen.  Wenn  man  zur  Erklärung  der  Ries- 
phänomene den  Eintritt  einer  gewaltigen  Explosion  mit  zu  Hülfe  nimmt, 
so  mufs   die  Frage  nach  der  Herkunft  so  grofser  Gasmengen  entstehen. 

Unmöglich  können  so  riesige  Wirkungen  erzielt  werden  durch  die 
Explosion  der  relativ  kleinen  Gasmassen ,  wie  sie  im  aufsteigenden  Schmelz- 
flusse gelöst  sind  und  ein  Zerblaseu  desselben  zu  Asche  und  Schlacken 
bewirken.  Es  müssen  noth wendig  sehr  viel  gröfsere  Gasmassen  sein,  die 
solches  hervorrufen  können.  Zwei  Möglichkeiten  sind  gegeben:  sie  können 
dem  Schmelzflusse  allmählich  entwichen  sein  und  sich  über  ihm  angesam- 
melt haben.  Sie  können  aber  auch  von  unterirdischen  Wassermassen  her- 
rühren, welche  durch  aufgestiegenen  Schmelzflufs  plötzlich  in  Dampf  ver- 
wandelt wurden.  Beides  sind  völlig  verschiedene  Vorgänge,  die  man  scharf 
unterscheiden  sollte: 

Wenn  die  dem  Schmelzflusse  entweichenden  Gase  die  Ur- 
sache einer  Explosion  bilden,  nur  dann  liegt  eine  echte  vul- 
canische Explosion  vor.  Wenn  dagegen  die  plötzliche  Verwand- 
lung unterirdischer  Wassermassen  in  Dampf  die  Ursache  ist,  so 
handelt  es  sich  lediglich  um  eine  Contacterscheinung,  also  um 
eine  unechte  vulcanische  Explosion. 

Ob  im  Contacte  mit  einem  Eruptiv-Magma  ein  dichter  Kalk  in  Mar- 
mor, ein  Thonschiefer  in  Homsteinfels,  oder  ob  Wasser  in  Dampf  ver- 
wandelt werden  —  stets  ist  das  nur  ein  analoger  Vorgang,  nur  eine  Con- 
tacterscheinung, die  vom  Vulcanismus  lediglich  die  hohe  Temperatur  entlehnt. 
Auch  darin  tritt  recht  augenfällig  die  Übereinstimmung  hervor,  dafs  ebenso 
wenig  der  Kalk  oder  Schiefer  als  da^i  Wasser  eine  andere  chemische  Zu- 
sammensetzung dadurch  erlangen.  Sondern  wie  es  sich  bei  jenen  beiden 
iresteinen  lediglich  um  eineUmkrystallisirung,  eine  Umlagerung  der  Moleküle^ 

^  Nur  bei  dem  Kalke  wQrde,  sofern  zahlreiche  Contaet- Mineralien  im  Marmor  sich 
bilden,  ein  Neues  hinzugekommen  sein. 

Fhys.  Ahh,  1902.  1.  5 


34  B  R  A  N  G  o : 

handelt,  so  auch  beim  Wasser  nur  um  Annahme  eines  anderen  Aggregat- 
zustandes der  kleinsten  Theilchen. 

So  ähnlich  daher  auch  eine  solche  Contactexplosion  einer  echten  vul- 
canischen  Explosion  erscheinen  mag,  so  ist  sie  dennoch  etwas  ganz  Anderes 
als  eine  solche.  Trotz  ihrer  verheerenden  Wirkung  ist  sie  gar  kein  vul- 
canischer  Act,  sondern  nur  das  Nebenproduct ,  die  Folge  Wirkung  eines  sol- 
chen, welches  bei  dem  betreifenden  vulcanischen  Acte,  dem  Emporquellen 
des  Schmelzflusses,  fehlen  könnte,  ohne  den  Act  als  solchen  damit  aufzu- 
heben. 

Noch  ein  Drittes  aber  kommt  wohl  vor,  durch  welches  ein  Übergang 
zwischen  dem  Einen  und  dem  Anderen  gebildet  wird.  Wir  pflegen  uns 
den  Schmelzflufs  in  der  Tiefe  vorzustellen  als  einen  durch wftsserten ;  und 
die  Annahme  neigt  sich  wohl  dahin,  dafe  dieses  Wasser  nicht  von  der 
Urzeit  her  im  Schmelzflusse  ist,  sondern  von  letzterem  aus  der  Erdrinde 
erst  später  aufgenommen  wurde.  Wenn  diese  Wassermassen  explodiren, 
dann  liegt  dennoch  eine  echte  vulcanische  Explosion  vor;  denn  das  Wasser 
bildet  hier  bereits  einen Theil  des  Magmas,  steigt  mit  demselben  in  die  Höhe. 

Bei  der  Contactexplosion  liegt  die  Wassermasse  dagegen  auüserhalb 
des  Schmelzflusses.  Ja,  beide  können  sogar  relativ  weit  von  einander  ent- 
fernt liegen,  brauchen  sich  durchaus  nicht  zu  berühren;  denn  das  Magma 
hat  eine  Temperatur  von  vielleicht  rund  1200 — 1400^0.,  und  Wasser  ver- 
wandelt sich  schon  in  Dampf,  wenn  es  auf  1 00®  C.  erhitzt  wird ,  wenn 
man  vom  Einflüsse  des  Druckes  in  der  Tiefe  absieht. 

Erklärlicherweise  wird  es  ja  meist  sehr  schwer  sein,  zu  unterschei- 
den, ob  eine  echte  oder  eine  unechte  vulcanische,  d.  h.  eine  (Contactexplo- 
sion vorliegen.  Aber  das  kann  kein  Hindemifs  bilden,  diese  Unterscheidung 
überhaupt  zu  machen. 

Man  sollte  nun  annehmen,  dafs  die  gewaltige  Explosion  des  Bandai 
San  eine  solche  Contactexplosion  gewesen  sein  mü&te.  Sekiya  und  Kikuchi 
freilich  sind  der  Ansicht,  dafs  die  betreffenden  Gase  dem  Magma  entstamm- 
ten. Aber  dagegen  lassen  sich  doch  gegründete  Einwendungen  erheben. 
Einem  so  überaus  gasreichen  Magma  wären  gewifs  schon  vorher  Gase  in 
der  Tiefe  entwichen,  und  dieser  Vorgang  würde  nicht  lautlos,  nicht  sanft 
vor  sich  gegangen  sein,  sondern  sich  durch  zahlreiche  Explosionen,  unter- 
irdisches Gedonner  und  Erdbeben  verrathen  haben.  Dem  war  aber  gerade 
nicht  so.    Derartige  Erscheinungen  gingen  dem  Ausbruche  vielmehr  nur  in 


Das  mUcanische  Vorries.  35 

recht  geringfügigem  Malse  vorher.  Nur  am  8.,  9.,  10.,  13.  und  14.  wurden 
einige  leichte  Erschütterungen  wahrgenommen,  was  zumal  in  dem  beben- 
reichen Japan  nur  als  etwas  Unbedeutendes  gelten  kann.  Erst  eine  halbe 
Stunde  vor  der  Explosion  begann  ein  sehr  heftiges  Erdbeben,  d.  h.  begann 
damit  also  plötzlich,  aus  völliger  Ruhe,  die  Explosion.  Sekiya  und  Ei - 
kuchi^  berichten  auch  das  Fehlen  anderer,  sicher  festgestellter  vorhergehen- 
der Anzeichen  der  Katastrophe;  ebenso  haben  die  BadegSste  der  Thermen 
von  Nakanoyu  keinerlei  abnormes  Verhalten  der  Quelle  beobachtet,  obgleich 
dieselbe  hart  am  Rande  des  im  nftchsten  Augenblicke  entstehenden  neuen, 
riesigen  Kraters  entsprang. 

Aus  diesen  Grfinden  ist  es  doch  wohl  wahrscheinlicher,  da&  hier 
unterirdisch  angesammeltes  Wasser  durch  emporgedrängten  SchmelzflulB  so 
weit  erhitzt  wurde,  dafs  es  sich  plötzlich  in  Dampf  verwandelte. 

Wenn  man  sich  nun  aber  fragt,  woher  im  vorliegenden  Falle  das 
Wasser  gekommen  sein  sollte ,  dessen  Verwandlung  in  Dampf  die  Explosion 
verursacht  hätte,  so  ergeben  sich  Schwierigkeiten.  Der  nächste  Gredanke 
wäre  der  an  den  dem  Krater  nahegelegenen  grofsen  Inawashiro-See.  Der 
Spiegel  desselben  hat  sich  freilich,  soviel  sich  feststellen  lie£s,  nicht 
nennenswerth  gesenkt,  geschweige  denn,  dafs  der  See  etwa  ganz  oder 
zum  gröfseren  Theile  abgelaufen,  auf  Spalten  in  die  Tiefe  gestürzt  wäre. 
Auf  das  Wasser  dieses  Sees  würde  man  also  die  Explosion  kaum  zurück- 
föhren  können.  Man  müDite  vielmehr  vom  Meere  her  auf  Spalten  plötzlich 
eingedrungenes  Wasser  annehmen.  Damit  jedoch  befindet  man  sich  auf 
so  völlig  hypothetischem  Gebiete,  dafs  jene  Annahme,  die  Grase  seien  beim 
Bandai  San  dem  Schmelzflusse  entwichen,  sich  zwar  als  weniger  wahr- 
scheinlich bestreiten,  aber  doch  nicht  widerlegen  läfst.' 

Gerland  wendet  sich  gegen  die  Auffassung,  nach  welcher  die  plötz- 
liche Verwandlung  grofser  Wassermassen  in  Dampf,  die  von  der  Erdober- 
fläche herrühren,   also  von  oben   her  hinabkommen,   die  Ursache  so  ge- 

'   A.  a.  O.  S.  130. 

*  Der  Inawashiro,  einer  der  grofsten  Seen  Japans,  ist  an  der  S.- Seite  des  Bandai 
San  gelegen.  Es  ist  das  kein  echter  Kratersee,  sondern  die  Ausf&ilung  einer  Depression, 
in  welche  sich  Flüsse  eingössen.  Sekiya  und  Kikuchi  sagen,  dafs,  der  Sage  nach,  der 
See  im  9.  Jahrhundert  durch  eine  «terrestrial  disturbance«  entstanden  sei,  bei  welcher 
zwei  Districte  mit  49  Dörfern  uberfluthet  (submerged)  wurden  (S.  96) ,  indem  sie  in  einen 
Abgrund  stürzten  (S.  100).  Auf  der  anderen  Seite  aber  sagen  sie  auch  (S.  96),  die  Depression 
sei  durch  Auswurf  vulcanischer  Wasser  entstanden. 


5* 


36  Branco: 

waltiger  vulcanischer  Explosionen  sei  und  meint,  dafs  diese  Wasserdampf- 
massen doch  dem  Erdinnem  angehören,  also  von  unten  her  hinaufkommend 
Für  den  Fall,  welcher  hier  in  Frage  kommt,  das  Ries,  wäre  nun  dieser 
Einwurf  Gerland 's  nicht  entscheidend;  denn  seine  Gründe  beziehen  sich 
nur  auf  das  Meereswasser,  welches  nach  der  gewöhnlichen  Erklärung  in 
die  Tiefe  dringen  und  Explosionen  erzeugen  soll.  Hier  beim  Riese  aber 
würde,  wie  E.  Süfs  meint,  Süfswasser  in  Frage  kommen,  wie  es  in  Kalk- 
gebirgen sich  in  grolsen  Massen  ansammelt. 

Zwei  andere  ErklämngsTersuche  der  Entstehung  der  Breccien  und 
Überschiebungen.  Aus  dem  inselförmigen  Auftreten  der  Weifs- Jura -Breccien 
im  Von'iese  haben  wir  geschlossen ,  dafe  hier  die  Ursache  der  Breccien-  (Gries-) 
Bildung  in  einer  an  verschiedenen  Orten  erfolgten  gewaltigen  Explosion 
zu  suchen  sei. 

Wäre  es  nun  aber  nicht  möglich,  diese  im  Vorriese  inselförmig  auf- 
tretenden Breccienbildungen  des  Weife -Jura  zurückzufuhren  auf  Reibung 
bez.  Gebirgsdruck ,  die  sich  längs  der  Donauspalte  geltend  gemacht  hätten? 
Wäre  es  nicht  möglich,  auch  etwa  vorhandene  Überschiebungen  zurück- 
zuföhren  auf  den   mit  Entstehung    der  Donauspalte    verknüpften    Bruch? 

Noch  ist  ja  das  Vorries  durchaus  nicht  in  dem  Mafse  erforscht,  ja, 
es  wird  sich  vielleicht  auch  niemals  bis  zu  dem  Grade  erforschen  lassen, 
um  bei  einer  jeden  auf  dem  Weifs -Jura  liegenden  Keuper  oder  Braun- 
Jura -Masse  sicher  entscheiden  zu  können,  ob  auch  hier  wieder  nur  eine 
bei  der  Explosion  herausgeschleuderte,  bei  der  Aufpressung  heraufge- 
quetschte (S.  23)  Masse,  oder  aber  ob  eine  von  weiterher  gekommene 
Uberschiebungsmasse  vorliegt.  Entsprechende  Frage  aber  kann  immerhin 
auch  gegenüber  dieser  oder  jener  Weiss -Jura -Breccie  des  Vorrieses  aufge- 
worfen werden,  seitdem  durch  von  Knebel's  Grabung  bei  Dischingen 
das  sonderbare  Ergebnils  festgestellt  worden  ist,  dafs  unter  der  betreffenden 
Griesmasse  der  mittelmiocäne  Meeressand  gefiinden  ist  (s.  den  Schluis  von 
Abschnitt  II),  auf  welchen  sie  mithin  heraufgeschoben  zu  sein  scheint. 

Ja,  auch  gegenüber  jener  ausgedehnten  und  mächtigen  Ablagerung 
Bunter  Breccie,  die  sich  überraschenderweise  in  Probeschächten  nördlich 
von  Donauwörth  geftinden  hat  und  bald  durch  die  nach  Treuchtelfingen 
gehende  neue  Bahnlinie  in  grofsartigen  Aufschlüssen  (vergl.  Abschnitt  V) 
freigelegt   werden    wird   —   auch   gegenüber  diesen  Massen   ist   immerhin 

'    Deutsche  Rundschau  v.  Rodenberg.    Berlin,  Septembei'  1902.  Jahrg.  38.  S.  433,  33. 


Das  vukanische  Vorries.  37 

die  Frage  zu  prüfen,  ob  hier  nicht  Überschiebungen  vorliegen  könnten, 
die  von  S. ,  von  der  Donauspalte  her,  kamen. 

Kann  also,  so  müssen  wir  fragen,  die  südlich  der  Donau  in 
die  Tiefe  gesunkene  Fortsetzung  der  Albtafel  im  Vorriese  den 
Anstofs  gegeben  haben  zur  Entstehung  der  inselförmigen  Weifs- 
Jura-Breccien,  zur  Aufpressung  des  Granites  mit  seiner  Begleitung 
von  Bunter  Breccie,  zur  Entstehung  etwa  vorhandener  Über- 
Schiebungen? 

Wir  wollen  zunächst  die  letztere  Frage  in's  Auge  fassen,  ob  es  denk- 
bar ist,  dafs  durch  den  südlich  der  Donau  versinkenden  Theil  der  Alb 
Überschiebungen  auf  den  nördlich  der  Donau  stehen  bleibenden  Theil  der 
Alb  überhaupt  stattfinden  konnten. 

Wer  sich  diesen  Vorgang  vorstellen  will  nur  in  der  Form,  dafs  das 
Absinken  sofort  begonnen  hätte,  sobald  sich  die  parallel  der  Donaulinie 
laufenden  Spalten  gebildet  hatten,  der  freilich  wird  die  Möglichkeit  des 
Entstehens  solcher  Überschiebungen  verneinen;  denn  wie  sollte  doch  die 
absinkende,  in  immer  tieferes  Niveau  gelangende  Scholle  ihre  randlichen 
Trümmer  auf  die  stehen  bleibende ,  relativ  immer  höher  werdende  Scholle 
weit  hinaufschieben? 

Aber  der  Vorgang  läfst  sich  auch  in  der  Weise  denken ,  dafs  es  zwischen 
Alb  und  Alpen  zunächst  zu  einer  starken  Pressung  gekonmien  wäre,  in 
Folge  deren  südlich  der  heutigen  Donaulinie  zuerst  eine  kleine  Aufwölbung 
der  später  absinkenden  Scholle  sich  gebildet  hätte,  bevor  das  Absinken  be- 
gann. Von  dieser  aufgewölbten  Falte  aus  konnte  dann  in  ganz  derselben 
Weise,  wie  wir  das  von  dem  Riesberge  annehmen,  ein  Abgleiten  von  Schollen, 
also  eine  Überschiebung  derselben,  stattfinden. 

Ein  solcher  Druck  der  absinkenden  Scholle  gegen  die  stehen  bleibende 
konnte  erklärlicherweise  auch  letztere  zerspalten  und  längs  dieser  Spalten 
zu  Breccien  zerpressen. 

Diese  Möglichkeiten  sind  also  in  der  That  theoretisch  gegeben;  im 
vorliegenden  Falle  aber  scheinen  sie  ausgeschlossen  werden  zu  müssen. 

Da  nämlich  dieses  Absinken  längs  der  gewaltig  langen  Donaulinie  er- 
folgte,  so  hätten  die  Überschiebungen  und  Breccienbildungen  dann  auch 
längs  dieser  ganzen  Linie  stattgefunden  haben  müssen.  Das  aber  ist  keines- 
wegs der  Fall.  Die  Breccienbildungen  des  Weifs-Jura  finden  sich  nur  in 
der  Gegend  des  Vorrieses,  also  auf  einer  relativ  ganz  kurzen  Strecke  der 


38  Branco: 

Donaulinie ;   und  von   den  Überschiebungen ,   faUs  solche  im  Vorriese  vor- 
handen sein  sollten,  würde  dasselbe  gelten. 

Und  doch  ist  dieser  Einwurf  noch  nicht  entscheidend. 

Es  wäre  nämlich  gar  nicht  unmöglich ,  dafs  zwar  im  Allgemeinen  längs 
der  Donaulinie  sofort  nur  ein  einfaches,  druckloses  Abbrechen  und  In-die- 
Tiefe- sinken  erfolgt  wäre,  welches  weder  Breccienbildungen  noch  Über- 
schiebungen erzeugen  konnte;  dafs  aber  doch  im  Speciellen,  ganz  local, 
nur  südlich  der  Gegend  des  Vorrieses,  anfänglich  eine  starke  Pressung  ge- 
herrscht hätte,  durch  welche  hier  Zertrümmerung  des  Kalkes  zu  Breccien 
und  zugleich  auch  Aufstauung  einer  Falte  und  dadurch  etwaige  Abgleitun- 
gen,  d.  h.  Überschiebungen,  hervorgerufen  werden  konnten. 

Eine  solche  Erklärung  beider  Erscheinungen  durch  das  Absinken  der  Alb 
wäre  also  an  sich  dennoch  möglich.  Aber  die  Zeit  scheint  im  vorliegenden 
Falle  einen  kaum  zu  beseitigenden  Einwurf  zu  erheben.  Das  Absinken  südlich 
der  Donaulinie  erfolgte  schon  so  firüh  in  tertiärer  Epoche,  dafs  in  die  ent- 
standene Senke  bereits  zu  mittelmiocäner  Zeit  das  Meer  seinen  Einzug  halten 
konnte.  Unmöglich  hätten  also  noch  nach  Ablagerung  der  jüngsten  mittel- 
miocänen  marinen  Sedimente ,  oder  auch  während  derselben,  Überschiebungen 
durch  jene  damals  tief  abgesunkene  Scholle  hervorgerufen  werden  können. 

Anders  ist  es  mit  der  Breccienbildung.  Hier  würde  das  zeitliche  Mo- 
ment nicht  zu  einem  Einwurfe  benutzt  werden  können.  Aber  dennoch  läfst 
sich  auch  hier  der  Gedanke  zurückweisen,  dafs  diese Vergriesung  desWeifs- 
Jura  im  Vorriese  durch  einen  hier  besonders  starken  Druck  der  absinkenden 
Scholle  hervorgerufen  sein  könnte.  Wenn  nämlich  dem  so  wäre,  dann 
müfste  doch  wenigstens  auf  dem  ganzen  Theile  der  Donaulinie,  welcher 
südlich  des  Vorrieses  liegt,  längs  dieser  Linie  eine  Vergriesung  des  Weife- 
Jura  vorhanden  sein. 

Ein  Blick  auf  die  Karte  lehrt  aber,  dafs  dem  nicht  so  ist.  Man  mülste 
schon  Spalten  annehmen ,  die  rechtwinkelig  zur  Donaulinie  aufgerissen  wären, 
von  deren  Rändern  aus  dann  die  Vergriesung  ausgegangen  wäre.  Das  liefse 
sich  indessen  auch  nur  allenfalls  geltend  machen  flir  die  Griesgebiete ,  die 
bis  an  die  Donau  herantreten,  nicht  aber  ftir  die,  welche  inselfÖrmig  auf 
der  Alb  liegen.  Hier  ist  die  einfachste,  natürlichste  Erklärung  die  einer 
grofsen  Explosion. 

Sind  nun  schon  die  beiden  Erscheinungen  der  Breccienbildung  und 
der  etwa  vorhandenen  Überschiebungen  nicht  auf  den  Druck  zurückf&hrbar, 


Das  mUcanische  Vorries.  39 

welchen  die  versinkende  Albtafel  gegen  die  stehen  bleibende  Albtafel  aus- 
übte, so  w&re  die  Au^ressung  des  Granites  im  Vorriese  unmöglich  als 
eine  Folge  dieses  Druckes  zu  erkl&ren.  Wie  die  Karte,  Taf.  I,  zeigt,  zieht 
nämlich  die  aufgepreüste  Granitmasse  als  schmale  2k>ne  von  S.  nach  N. 
Ein  von  S.  nach  N,  wirkender  Druck  jener  absinkenden  Scholle  aber  würde 
höchstens  eine  von  W.  nach  0.,  d.  h.  senkrecht  zur  Druckrichtung  verlau- 
fende Aufpressung  des  Granites  erzeugt  haben  können ,  nicht  aber  eine  von 
S.  nach  N.»  also  parallel  der  Druckrichtung  verlaufende  Au^ressimg. 

So  ergiebt  sich  also  für  das  Vorries  die  Unmöglichkeit,  die 
Breccienbildung  des  Weifs-Jura,  die  Aufpressung  des  Granites 
und  eventuelle  Überschiebungen  zurückzuführen  auf  einen  von 
der  versinkenden  Albh&lfte  gegen  die  stehen  bleibende  ausge- 
übten Druck. 

Diese  Unmöglichkeit  aber  wird  noch  evidenter,  da  die  Ries- 
bildung wohl  sicher  auf  dieselben  Kräfte  zurückzuführen  ist 
wie  die  Vorriesbildung.  Für  das  von  der  Donaulinie  viel  weiter 
entfernte  Ries  aber  lassen  sich  Breccienbildung,  Aufpressung 
und  Überschiebungen  noch  viel  weniger  auf  einen  solchen  di- 
recten  Druck  der  absinkenden  Albtafel  zurückführen. 

Nur  indirect  könnte  dieser  Druck  der  absinkenden  Alb  und 
des  ganzen  versinkenden  vindelicischen  Gebirges  gewirkt  haben: 
indem  er  auf  das  Magma  sich  übertrug,  dieses  als  Laccolith  all- 
mählich in  die  Höhe  prefste,  wodurch  es  einschmelzend  wirkte, 
und  durch  seine  hohe  Temperatur  schliefslich  die  unterirdi- 
schen Wasseransammlungen  zur  Explosion  brachte.^ 


^  Das  AbsinkeD  des  zwischen  Alb  und  Alpen  aufragenden,  altkrystallinen ,  •vindelici- 
schen« Qebirges,  sowie  der  an  seinen  Nordabhang  angelagerten  Juraschichten  vollzog  sich 
nach  vonGQmbel  nach  Ablagerung  des  Flysches  (Geologische  Beschreibung  von  Bayern.  Bd.  2. 
S.  267.  268.  Fränkische  Alb  S.  641.  643.  646).  Im  Franken -Jura  sollen  diese  Spaltenbildung 
und  Spaltenverschiebung  bereits  vor  der  mittelmiocanen  Zeit  beendet  gewesen  sein,  da  die 
Sande  der  oberen  Meeresmolasse  nicht  mit  verworfen  sind ,  sondern  ungestört  auf  dem  Jura- 
kalke Hegen,  bald  hoch,  bald  tief,  wie  es  der  damalige  unebene  Meeresboden  mit  sich 
brachte. 

Ob  letztere  Folgerung  eine  stichhaltige  ist,  l&fst  sich  indessen  bezweifeln.  Es  konnte 
sehr  wohl  das  weitere  Absinken  der  grofsen  vindelicischen  Scholle  auch  noch  während  mittel- 
miocäner  Zeit  andauern.  Dadurch  wurde  natürlich  nur  der  entsprechende  Theil  des  Meeres- 
bodens vertieft,  welcher  eben  absank;  der  durch  die  stehen  bleibende  Albtafel  gebildete  Theil 
des  Meeresbodens  aber  sank   überhaupt  nicht  mit  ab.     Hier  an  der  Küste  konnten  mithin 


40  Brango: 

Ergiebt  sich  aus  zeitlichen  Gründen  die  Unmöglichkeit,  diese  Auf- 
pressung durch  den  Druck  der  vindelicischen  Scholle  (s.  die  Anmerkung)  zu 
erklären,  so  müTste  entweder  irgend  eine  andere  absinkende  Scholle  in 
solcher  Weise  gewirkt  haben;  oder  aber  es  müfste  eine  andere,  vielleicht 
eine  im  Magma  selbst  liegende  Ej*aft  die  Ursache  seines  Au&teigens  ge- 
wesen sein. 

Doch  an  die  Möglichkeit  einer  noch  anderen  Lösimg  würde  man  denken 
können,  um  die  Entstehung  der  Breccien  des  Weils- Jura -Kalkes  im  Vor- 
riese zu  erklaren:  an  Erderschütterungen,  deren  Folge  sie  wären. 

Ohne  Weiteres  ist  klar,  dafs  durch  eine  so  gewaltige  Explosion ,  wie 
die,  in  welcher  wir  die  Ursache  dieser  Breccienbildung  erkannten,  auch 
eine  entsprechende  Erschütterung  des  Erdbodens  hervorgerufen  werden 
mufste.  Aber  es  wäre  doch  nicht  angängig,  in  einem  solchen  Falle,  in 
welchem  man  die  eigentliche  Ursache  der  Breccienbildung  in  der  Explosion 
erkennt,  die  mit  der  Explosion  verknüpfte  Erderschütterung  als  Ursache 
hinstellen  zu  wollen. 

Jedoch  davon  ganz  abgesehen  glauben  wir  auch  gar  nicht,  dals  diese 
Erderschütterung  überhaupt  im  Stande  gewesen  sein  sollte,  so  gewaltige 
Breccienbildungen  zu  erzeugen.  Es  scheint  uns  vielmehr,  dafs  nur  die 
Explosion  solche  Wirkung  zu  erzielen  vermochte,  indem  sie  die  Gesteins- 
massen plötzlich  in  die  Höhe  hob  und  wieder  fallen  liefs,  wobei  sie  so 
hochgradig  zerschmettert  wurden. 

Noch  viel  weniger  aber  könnte  man  ein  aus  anderer  Ursache  hervor- 
gegangenes Erdbeben  als  Ursache  der  Breccienbildung  ansehen  wollen, 
denn  wenn  das  der  Fall  wäre,  dann  müfste  die  Vergriesung  sich  über  die 
ganze  Albhochfläche  des  Vorrieses  zusammenhängend  ausdehnen.  Das 
aber  ist  nicht  der  Fall.    Die  Vergriesung  tritt  inselförmig  inmitten  unver- 


die  Sande  un verworfen  auf  dem  Weifs-Jura  liegen  bleiben,  obgleich  weiter  beckenein wärts 
das  Absinken  noch  andauerte.  (Das  Meereswasser  reichte  damals  wenigstens  bis  zu  SS^^ 
Meereshohe,  also  noch  auf  die  stehen  bleibende  Albtafel  hinauf.)  Diese  Frage  besitzt  eine 
gewisse  Wichtigkeit,  wenn  man  der  Ursache  des  Vulcanismus  im  Riesgebiete  nachgeht: 

Die  Annahme,  der  Schmelzflufs  sei  im  Riesgebiete  bei  Urach  und  im  Hegau  empor- 
gepreist  worden  durch  den  Druck  des  absinkenden  vindelicischen  Gebirges,  ist  natürlich  nur 
haltbar,  wenn  beide  Vorgänge  gleichzeitig  erfolgten.  War  das  Absinken  bereits  völlig  beendet, 
bevor  die  Ausbrüche  begannen ,  dann  kann  jenes  schwerlich  die  Ursache  dieser  gewesen  sein. 
Dauerte  dagegen  das  Absinken  noch  während  mittelmiocäner  Zeiten  fort,  dann  könnte  es  sehr 
wohl  die  in  dieser  Zeit  erfolgende  Eruption  hervorgerufen  haben. 


Das  vuicanische  Vorries.  41 

griesten  Kalkes  auf;  und  sie  steigert  sich  wieder  innerhalb  dieser  Tafeln 
nach  bestimmten,  erkennbaren  Punkten  liin  (Taf.  I).  Unmöglich  könnte  nun 
ein  Erdbeben,  das  gleichmaXsig  über  die  Hochfläche  der  Alb  hingerollt 
wäre ,  in  gleichbleibenden  Kalken  eine  Wirkung  hervorgei-ufen  haben ,  welche 
so  sehr  ungleichmäfsig  ist  wie  diese. 

Es  ergiebt  sich  aus  dem  Gesagten,  dafs  die  Breccienbil- 
dung  des  Weifs-Jura-Kalkes  im  Vorriese  sich  auch  nicht  auf 
ein  Erdbeben  zurückführen  läfst;  und  somit  bleibt  als  Ursache 
wieder  nur  die  Explosion. 


F%t/s.  Äbh.  1902.  L  ö 


42  Branoo: 


n.  Das  Yorries. 


A.  Emleitong. 

Lage  und  Name.  Wenn  wir  den  Steilabfall  des  südlichen  Riesrandes 
erklommen  haben  und  nun  über  die  Alb  gen  S.  wandern»  so  durchqueren 
wir  zunächst  ein  Gebiet ,  welches  bei  den  gewaltsamen  Vorgängen  der  Ries- 
bildung mehr  oder  weniger  unberührt  geblieben  zu  sein  scheint  (Zone  4  in 
Fig.  4,  S.  43). 

Wiederum  südlich  dieses  halbringfbrmigen  Albstreifens  aber  folgt  ein 
Gebiet  der  Alb ,  das  auf's  Neue  Störungen  seines  Baues ,  ausgedehnte  Brec- 
cienbildungen  (Griese)  des  Weifs- Jura- Kalkes,  vulcanische  Ausbrüche,  Auf- 
pressung  granitischer  Massen  und  Überlagerung  des  Weifs -Jura  durch 
Fetzen  von  Braun-Jura  und  Keuper  erkennen  läfst.  von  Gümbel  nannte 
dasselbe  die  Gürtelzone  (Zone  5  in  Fig.  4).  Da  jedoch,  wie  wir  zeigten*, 
auch  im  eigentlichen  Rieskessel  kreis-  bez.  gürtelförmige  Zonen  sich  er- 
kennen lassen,  so  kann  man  jetzt  nicht  mehr  von  »der«  Gürtelzone  kurz- 
weg sprechen ,  müfste  sie  vielmehr  unter  Beifögung  von  Namen  der  Orte, 
welche  in  derselben  liegen,  näher  kennzeichnen.  Die  in  Rede  stehende  Zone 
des  Vorrieses  müfste  also  als  »Gürtelzone  Amerdingen— Maiuren-Itzingen« 
bezeichnet  werden.  Um  diese  schleppende  Bezeichnungsweise  zu  vermeiden, 
haben  wir  daher  statt  des  von  Gümbel'schen  Ausdruckes  fiir  diese  ge- 
nannte Zone  die  kurze  Bezeichnung  »Vor-Ries«  angewandt  und  glauben 
auch  bei  derselben  verharren  zu  sollen. 

Dieses  Vorries  verläufl  im  S.  des  Rieses  über  Aufhausen,  Amerdingen, 
Unter-Ringingen ,  Diemantstein ,  Fronhofen ,  Mauren  und  nun ,  über  die  Wör- 
nitz  setzend,  bis  Itzingen  und  Sulzdorf. 

Selbständiges  Aiifbruchsgebiet.  In  unserer  unten  citirten  ersten  Arbeit 
über  das  Ries  hatten  wir  als  wahrscheinlich  ausgesprochen,  dafs  auch  in 
dem  Vorriese  ein  selbständiges  Ausbruchsgebiet  vorliege;  d.  h.  also,  daCs 
hier  sowohl  die  liparitischen  Tuffausbrüche  wie  auch  die  »granitischen« 
und  die  Gries-Breccien  autochthon  seien;  und  dafs  ebenso  auch  die  Massen 

^    Das  vulkanische  Ries.    S.  38,  Fig.  i  und  S.  41,  42. 


Das  mdcamsche  Vorries. 


43 


von  Braun* Jura  und  Keuper,  welche  dort  auf  Weifs- Jura  liegen,  nicht  etwa 
aus  dem  Riese  herrüliren,  sondern  aus  der  Tiefe  des  Vorrieses  heraufkamen/ 
Unsere  jetzigen  Untersuchungen  haben  diese  Ansicht  durchaus  bestätigt. 
Die  hier  und  da  zu  beobachtende  Schwärzung  des  Weiis- Jura -Kalkes  im 
Contacte  mit  den  Tuffen,  welche  niu*  möglich  war,  wenn  die  Asche  hierzu 
noch  die  erforderliche  Temperatur  von  wenigstens  etwa  600®  C.  besafs^, 
spricht  ebenfalls  für  Ausbruch  des  Tuffes  an  Ort  und  Stelle. 

Fig.  4. 


s. 

Der  Bau  des  Vorrieses  gleicht  durchaus  nicht  dem  des  Rieses.  Schon 
der  äufsere  Umrife  der  beiderseitigen  Gebiete  ist  ein  völlig  verschiedener. 
Bei  dem  Riese  ist  er  kreisförmig  bez.  polygonal.®  Bei  dem  Vorriese  kann 
man  ihn  als  ungefähr  halbringförmig  bezeichnen,  da  derselbe  eine  etwas 
im  Bogen  verlaufende,  gürtelförmige  Zone  im  S.  des  Rieskessels  bildet.  In- 
dessen der  Umriis  dieses  Halbringes  wird  dadurch  ein  unregelmäfeiger,  dafs 
einerseits  die  Breccienbildungen  des  Weifs -Jura  über  seinen  südlichen  Rand 
hinaus  gegen  die  Donau  hin  sich  erstrecken;  und  dafs  andererseits  die  »grani- 

^   Das  vulkanische  Ries.    8.  41,  42,  94  und  125. 

*  Schwabens  Vulcan- Embryonen.    Theil  II,  Abschnitt  II,  S.  547. 

*  Das  vulcanische  Ries.    S.  107. 


44  Branco: 

tisclien  Explosionsproducte«  auf  einer  südnördlichen  Zone,  von  Unter-Bis- 
singen  im  S.  an  auf  Klein -Sorheim  im  N.  und  im  Rieskessel  zu,  sich  hin- 
ziehen, d.  h.  auf  einer  Zone  liegen,  welche  nicht  nur  diese  vulcanische 
Gürtelzone  (5),  das  Vorries,  sondern  auch  die  mehr  oder  weniger  intaet 
gebliebene  Alb-Gürtelzone  (4)  durchquert,  die  das  Vorries  vom  Riese  trennt. 

Durch  diese  von  S.  gen  N.  verlaufende  Zone  »granitischer  Explosions- 
producte« wird  das  vulcanische  Vorries  in  einen  westlichen  und  einen  öst*- 
lichen  Theil  zerlegt.  In  dem  westlichen  liegen  die  ansehnlichen  Massen, 
bez.  Ausbruchspunkte  liparitischer  Tuffe,  die  sich  um  Auf  hausen,  Amer- 
(lingen.  Unter -Ringingen  und  Fronhofen  gruppiren.  In  dem  östlichen  liegt 
die  geringere  Masse  liparitischer  Tuffe,  die  um  Mauren  herum  zum  Aus- 
bruche gelangte.    (Vergl.  Taf.  I). 

Auf  solche  Weise  sind  die  Gebiete  liparitischer  Tuffe  und  granitischer 
Explosionsproducte  im  Allgemeinen  von  einander  geschieden;  denn  in  den 
beiden  eben  erwähnten  liparitischen  Ausbruchsgebieten  fehlen  diese  grani- 
tischen mehr  oder  weniger,  und  umgekehrt  in  der  Zone  »granitischer«  Ex- 
plosionsproducte treten  wiederum  fast  nur  diese  auf. 

Ostlich  von  Mauren  bez.  von  der  Wömitz  wiederholt  sich  das  noch- 
mals insofern,  als  hier  die  um  Itzingen  und  Sulzdorf  gruppirten  granitischen 
Explosionsproducte  wieder  ohne  Begleitung  liparitischer  Tuffe  auftreten. 

Wir  haben  somit  in  dem  von  W.  nach  0.  sich  hinziehenden 
Vorriesgürtel  einen  zweimaligen,  von  W.  nach  0.  erfolgenden 
Wechsel  der  Gebiete  liparitischer  Tuffe  und  granitischer  Ex- 
plosionsproducte, wie  Tafel  I  zeigt.  Die  Aufbruchsgebiete  der 
beiderseitigen  so  verschiedenen  Gesteinsarten  liegen  mithin 
nicht  in  regellosem  Durcheinander,  sondern  jedes  liegt  mehr 
oder  weniger  für  sich. 

Vergleicht  man  nun  die  Erscheinungsweise  des  Vorrieses 
mit  derjenigen  des  Rieses,  so  ergiebt  sich,  dafs  beide  zwar  in 
gleicher  Weise  gekennzeichnet  sind  durch  diesen  Gegensatz 
zweier  Arten  von  Explosionsproducten,  der  untergeordneten  gra- 
nitischen und  der  vorwiegenden  liparitischen  (vergl.  den  nächsten 
Abschnitt  B);  dass  aber  beide  gänzlich  verschieden  sind,  indem  das 
Vorries  oben  auf  der  Alb  liegt,  welche  relativ  wenig  zertrüm- 
mert scheint,  während  das  Ries  einen  weiten,  in  die  Alb  ausge- 
fressenen   und    eingesenkten    Kessel    bildet,    dessen    Boden    ein 


Das  tmlcanische  Varries.  45 

gänzlich  zertrümmertes,  regellos  dislocirtes  Feld  darstellt,  in 
dem  vielfach  der  Granit  entblöfst  ist;  endlich  darin,  dafs  am 
Riese  grofse  Überschiebungen  umfangreicher  Massen  statt- 
fanden, während  das  im  Vorriese  in  sehr  viel  geringerem  Mafse 
der  Fall  sein  dürfte. 

Im  Vorriese  ist  die  Alb,  wie  es  scheint,  ganz  besonders  nur  längs 
jener  N.-S.  verlaufenden  Linie  zerspalten,  auf  welcher  die  Aufpressung  von 
gänzlich  zerdrücktem  Granit  und  Zerblasung  gewisser  Theile  des  letzteren 
zu  »granitischen  Explosion sproducten«  erfolgten.  Möglicherweise  stehen 
diese  verschiedenen,  an  der  Alboberfläche  isolirt  erscheinenden  AuQ)res- 
sungen  des  Urgebirges  schon  in  relativ  geringerer  Tiefe  unter  einander  im 
Zusammenhange;  so  dafs  dann,  falls  das  richtig  wäre,  diese  isolirten  grar 
nitischen  Vorkommen  der  Oberfläche  nur  die  Spitzen  einer  zusammenhängen- 
den, rückenartigen  AuQ)ressung  sein  würden. 

Die  Breccien-  (Gries-)  Bildungen  des  Weifs -Jura- Kalkes  im  Vorriese 
flnden  sich  theils  in  der  Umgebung  der  liparitischen  Tuffe,  theils  aber  treten 
sie  an  Orten  auf,  an  welchen  keinerlei  Eruptivgestein  vorhanden  ist.  Ihre 
vermuthliche  Entstehung  durch  die  grofse  Contactexplosion ,  wurde  in  Ab- 
schnitt I  näher  besprochen. 


B.  Die  Eniptions-  und  Explosionsproducte. 

1.  Allgemeines. 

Nirgends  im  Vorriese  hat  der  Schmelzflufs  die  Form  eines  festen 
Gesteines  angenommen.  Auch  im  Riese  scheint  das  wohl  nur  an  einer 
einzigen  Stelle  der  Fall  gewesen  zu  sein,  bei  Amerbach  nahe  Wemding. 
Dort  setzt  eine  kleine  Kuppe  eines  Gesteins,  dessen  saure  Natur  und  lipa- 
ritische  Beschaffenheit  von  Knebel  neuerdings  hervorhebt,  in  dem  ge- 
hobenen altkrystallinen  Gebirge  auf. 

Der  Gedanke  liegt  nahe,  dafs  hier  dieselben  Verhältnisse  obwalten 
könnten ,  wie  am  Wenneberg.  Auch  dort  setzt  ein  noch  sehr  viel  gering- 
mächtigerer Gang  im  Granite  auf,  den  vonGümbel  anfllnglich  för  einen  Liparit, 
später  aber  für  einen  altkrystallinen  Gesteinsgang  erklärte,  von  Knebel 
betont  aber  bezüglich  jenes  Granges  bei  Amerbach,  dafs  derselbe,  abgesehen 
von  seiner  petrographischen  Beschaffenheit,  noth wendig  jünger  sein  müsse 


46  Branco: 

als  die  Hebung  des  Granits,  weil  bei  dieser  Hebung  der  Granit  voll- 
ständig zertrömmert  worden  ist,  während  das  ihn  durchsetzende  liparitische 
Gestein  ganz  unverletzt  erscheint.  Letzteres  kann  somit  erst  nach  Auf- 
hören des  Vorganges,  welcher  die  Zertrünunerung  bewirkte,  zur  Eruption 
gelangt  sein.  Von  Gümbel  glaubte  in  dem  Vorkommen  nur  eine  An- 
häufung von  Schlacken  sehen  zu  müssen,  nach  von  Knebel's  letzter 
Arbeit  bildet  dasselbe  indessen  eine  zusammenhängende  Gesteinsmasse. 
(Siehe  S.  4  Anm.  2.) 

Alle  übrigen  Vorkommen  eruptiven  Ursprunges  im  Vorriese  wie  im 
Riese  bestehen  nur  in  losen  Auswurfsmassen.  Aber  je  nach  dem  Materiale, 
welches  hierbei  zu  Tage  gefördert  wurde,  kann  man  zwei  Arten  von 
Eruptionen  unterscheiden,  deren  Erscheinungsweise  eine  sehr  verschiedene 
ist  und  deren  Alter  möglicherweise  ebenfalls  ein  verschiedenes  sein  könnte. 
Wir  wollen  sie  hier  als  »liparitische«  und  »granitische«  Eruptionen  be- 
zeichnen. 

Liparitische  Emptionen.  Dieselben  haben  auCser  dem  oben  besprochenen 
festen  Liparite  nahe  Wemding  nur  Tuffe  und  Schlacken  gebildet  und  führen 
auch  Brocken  der  durchbrochenen  Sedimentgesteine.  Schon  Deffner  hatte 
die  gewifs  sehr  kühn  klingende  Ansicht  geäulsert,  dafs  die  liparitischen 
Schlacken  und  Tuffe  des  Rieses  aus  der  Wiedereinschmelzung  von  Granit 
hervorgegangen  seien.  Vor  kurzem  war  aber  auch  Sauer  durch  mikrosko- 
pische Untersuchung  der  Schlacken  zu  der  Ansicht  gelangt,  dais  hier  in 
der  That  ein  basisches  Magma  durch  Einschmelzung  von  Granit  zu  einem 
liparitischen  geworden  sei. 

Das  in  diesem  Abschnitte  später  zu  besprechende  eigenartige  Vor* 
konunen  bei  Schmäh ingen,  welches  eine  Granitbreccie  darstellt,  die  über- 
aus stark  gehärtet  und  durch  eine  geschmolzene,  dichte  Masse  verkittet 
ist,  spricht  ebenfalls  dafür,  dals,  mindestens  in  dieser  Breccie,  Granit 
wieder  eingeschmolzen  sei.  Gregenwärtig  erfolgt  unter  Hm.  Sauer's  Lei- 
tung eine  Bearbeitung  aller  dieser  vulcanischen  losen  Auswur&massen  im 
Riese,  welche  auf  diese  interessante  Frage  hoffentlich  weiteres  Licht  werfen 
wird. 

Wir  haben  bereits  früher^  dargethan,  dafs  in  den  verschiedenen  Vor- 
kommen Uparitischer  Tuffe  und  Schlaeken  eine  Anzahl  kleiner,  isolirter, 
embryonaler  vulcanischer  Ausbruchsstellen  vorliegt,  ähnlich  denen  im  be* 

*   Das  vulcaoische  Bies.  S.  120 — 127. 


Das  vulcanische  Vorries.  47 

nachbarten  Gebiete  von  Urach.  Aber  im  Riese  und  Vorriese  dürfte,  ab- 
gesehen von  diesen  Ausbrächen  liparitischer  Massen  noch  eine  groJtse  Ex- 
plosion stattgefunden  haben,  bei  welcher  kein  Magma,  sondern  nur  an- 
stehendes Gestein  zerstiebt  oder  doch  zerschmettert  wurde;  wogegen  bei 
Urach  keinerlei  Andeutungen  dafilr  vorliegen,  dafs  auüser  den  vulcanischen 
Eruptionen  noch  eine  grofse  Explosion  stattgefunden  habe  (s.  Abschnitt  I). 

Granitische  Explosionsproducte.  Völlig  anderer  Art  als  diese  lipari- 
tischen  Auswurfsmassen  ist  das,  was  wir  hier  als  »granitische  Explosions- 
producte« bezeichnen  wollen.  Den  kürzeren  und  besser  klingenden  Aus- 
druck »granitische  Tuffe«  wagen  wir  nicht  «anzuwenden,  weil  man  denken 
könnte,  unter  diesem  Ausdrucke  solle  hier  eine  zu  tertiärer  Zeit  erfolgte 
Eruption  von  Granitmagma  und  gar  eine  Aschenbildung  desselben  ver- 
standen werden. 

Selbstverständlich  ist  davon  keine  Rede.  Es  soll  hier  nur  eine  zur 
Miocänzeit  durch  Explosion  erfolgte  Verarbeitung  des  längst  verfestigt  ge- 
wesenen Granites  bezeichnet  werden.  Durch  diese  Explosion  wurde  ein 
Theil  des  Granites  zerschmettert,  so  dafs  nun  inmitten  des  anstehenden 
(aber  gehobenen)  Granites  gangförmige  Massen  von  »granitischem  Explosions- 
materiale«  auftreten,  welche  aus  rundlichen,  gröberen  und  feineren  Brocken 
von  Urgesteinen,  meist  Granit  oder  Gneifs,  bestehen. 

Zu  diesem  stückigen  Materiale  aber  gesellt  sich  vielfach  noch  eine 
meist  untergeordnete,  ganz  erdige  Grundmasse  von  rother  Färbung;  die 
Deutung  dieser  Grundmasse  ist  schwierig. 

Wenn  man  in  derselben  einen  völlig  zersetzten  liparitischen  Tuff  er- 
blicken will,  dann  würden  die  granitischen  Stücke  in  einer  aus  wirklichem 
Schmelzflusse  hervorgegangenen  Grundmasse  liegen.  Wir  hätten  dann  also 
einen  echten  liparitischen  Tuff  vor  uns,  der  sich  von  dem,  was  wir  hier 
als  »liparitische  Tuffe«  bezeichnen,  lediglich  dadurch  unterschiede,  dafs  er 
so  sehr  viel  Stücke  von  Urgesteinen  fthrte,  ja  bisweilen  nur  aus  diesen 
bestände. 

Aber  einer  solchen  Deutung  stehen  drei  Bedenken  gegenüber: 

Einmal  ist  diese  Grundmasse  erdig,  ganz  zersetzt,  während  doch  die 
»liparitischen  Tuffe«   im  Vorriese  und  Riese  das  nicht  zu  sein  pflegen. 

Zweitens  kommt  eine  Vereinigung  der  beiderseitigen  Massen  vor,  so 
bei  Schmäh  ingen;  und  dann  kann  man  sehr  deutlich  den  dunkel  grauen, 
echten   »liparitischen  Tuff«   von  dieser  erdigen  Grundmasse  unterscheiden. 


48  B  R  A  N  c  o : 

Drittens  aber  sind  dieser  fraglichen,  zersetzten  Grundmasse  meist  so 
viel  Quarzkömer  beigemengt,  dafs  man  auch  aus  diesem  Grunde  doch  eher 
lediglich  an  fein  zerblasenes  granitisches  Gestein  denken  möchte,  als  an 
Liparitasche. 

Ist  dem  nun  wirklich  so,  dann  würde  bei  der  Bildung  dieser 
»granitischen  Explosionsproducte«  wirklicher  Schmelzfluss  gar 
nicht  betheiligt  sein;  sie  wären  dann  nicht  nur  in  ihrer  äufseren 
Erscheinung,  sondern  auch  in  ihrem  inneren  Wesen,  genetisch, 
etwas  ganz  anderes  als  die  liparitischen  Tuffe  des  Riesge- 
bietes. 

Das  aber  würde  ein  weiterer  Grund  fftr  die  Annahme  sein,  daüs  den 
»granitischen  Explosionsproducten «  ein  etwas  anderes  Alter  zukSme,  als 
den  »liparitischen  Tuffen«.  Die  ersteren  wären  dann  fi^er  und  durch 
die  grofse  Explosion  von  Wasserdampf  entstanden;  die  letzteren  später 
und  durch  die  relativ  kleinen  Explosionen  der  Gase  des  Magmas  (vergl. 
Abschnitt  I). 

Dabei  würde  es  natürlich  nicht  ausgeschlossen  sein,  dafis  an  ganz  der- 
selben Stelle,  an  welcher  früher  eine  blosse  Gasexplosion,  also  eine  »gra- 
nitische Eruption«,  stattfand,  später  nochmals  eine  liparitische  sich  voll- 
zogen haben  könnte ;  wie  sich  denn  in  der  That  auch  die  Produkte  Beider 
neben  einander,  z.  B.  bei  Schmäbingen ,  im  Riese  finden. 

Man  könnte  diese  granitischen  Explosionsproducte  vielleicht  auch  als 
eine  Reibungsbreccie  deuten  wollen,  welche  dadurch  entstanden  wäre,  dafs 
bei  der  Riesbildung  die  einzelnen  Granitschollen  nur  gegen  einander  ge- 
rieben wurden.  Indessen  solche  Vorkommen,  wie  wir  sie  z.  B.  bei  Itzingen 
finden,  sprechen  entschieden  gegen  eine  derartige  Deutung.  Dort  setzt  im 
Granite  ein  Gang  granitischer  Explosionsproducte  auf,  dessen  grobe  Be- 
standtheile  gar  nicht  aus  Granit,  sondern  wesentlich  aus  anderem  altkry- 
stallinen  Gesteine,  aus  Gneifs,  bestehen. 

Unmöglich  also  kann  dieses  Vorkommen  für  eine  Reibungs- 
breccie des  Granites  erklärt  werden.  Die  Stücke  müssen  vielmehr 
aus  der  Tiefe  durch  den  Granit  hindurch  in  die  Höhe  befördert  sein;  imd 
einen  solchen  Vorgang  wird  man  sich  nur  als  durch  eine  Explosion  von 
Gasen  hervorgebracht  erklären  müssen.  Allerdings  ist  die  Gangform  dieser 
granitischen  Tuffe  meist  nicht  deutlich  zu  erkennen;  aber  das  liegt  wohl 
nur  an  der  Mangelhaftigkeit  der  Aufschlüsse. 


Das  vtiloanische  Vorries.  49 

Auch  im  Rieskessel  setzen,  wie  wir  sehen  werden,  diese  granitischen 
Explosionsproducte  in  dem  Granite  auf,  welchen  man,  trotz  seiner  Hebung 
in  ein  höheres  Niveau,  doch  unbedenklich  als  anstehend  bezeichnen  wird. 

Die  Kraft ,  welche  das  bewirkte.  Unhaltbar  erscheint  uns  die  Deutung, 
wie  schon  gezeigt  wurde  (S.  1 9  und  50),  es  könnten  hier  ursprüngliche,  insel- 
förmige  Erhebungen  des  granitischen  Meeresbodens  vorliegen.  Die  zerprefste 
BeschajSenheit  des  Granites  der  Inseln  bliebe  unerklärt.  Unmöglich  hätten 
dann  auch  der  Keuper  und  Jura  sich  in  so  normaler  petrographischer  Be- 
schaffenheit hart  an  diese  kleinen  Inseln  angelagert  haben  können;  sie  wür- 
den sandsteinig  ausgebildet  worden  sein.  Auch  würde  die  Thatsache  völlig 
unerklärlich  bleiben ,  dafe  oft  neben  diesen  Granitvorkommen ,  also  im  Niveau 
des  Weiss -Jura,  sich  Bunte  Breccie  aus  Keuper-  und  Jurathon  befindet,  die 
ersichtlich  hier  aus  der  Tiefe  aufgeprefet  ist. 

Aber  auch  überschoben,  d.  h.  dem  Weife -Jura  aufliegend,  sind  diese 
Granitvorkommen  des  Vorrieses  sicher  nicht.  Die  Lagerungsverhältnisse 
lassen  erkennen,  dafs  die  Granitmassen  im  Körper  der  Alb  stecken.  Zum 
Überflusse  haben  wir  auch  noch  bei  Sulzdorf  eine  lo"  tiefe  Grabung  vor- 
nehmen lassen,  welche  das  Hinabsetzen  des  Granites  im  Weife-Jura  sicher 
feststellte. 

Diese  unzerblasenen  Granitmassen  sind  also  in  irgend  einer  Weise  durch 
das  sedimentäre  Gebirge  hindurch  in  die  Höhe  gefördert.  Dafe  der  Vor- 
gang ein  sehr  gewaltsamer  war,  ersieht  man  aus  der  völlig  mürben,  wei- 
chen zerprefeten  Beschaffenheit.  Aber  trotz  derselben  sind  diese  Granite 
doch  immer  noch  als  einheitliche  Massen  zu  erkennen,  ganz  wie  das  unten 
im  Riese  bei  den  unzerblasenen  Graniten  der  Fall  ist ;  nur  sind  sie  im  Vor- 
riese noch  weicher  als  im  Riese.  Das  Einheitliche  des  unzerblasenen  Theiles 
dieser  Granitvorkommen  steht  also  in  scharfem  Gegensatze  zu  dem  Stücki- 
gen des  zerblasenen  Theiles  derselben. 

Nun  ist  der  zerblasene  Theil  des  Granites  im  Vorriese  zweifel- 
los das  Product  einer  Explosion.  Folglich,  so  mufs  man  schliefsen, 
kann  der  unzerblasene  Theil  nicht  ebenfalls  das  Product  einer 
solchen  sein,  sondern  mufs  dasjenige  einer  Aufpressung  sein, 
die  er  als  Ganzes  erlitt,  wobei  er  vollkommen  zerdrückt  wurde. 

Selbst  wenn  man  aber  trotzdem  einmal  annehmen  wollte,  dafe  die  Ex- 
plosion zwei  so  völlig  verschiedene  Wirkungen  gehabt  haben  könnte,  an 
einer  und  derselben  Stelle  hier  den  Granit  völlig  zu  zerblasen,   dort  ihn 

Phys,Äbh.  1902.  L  7 


50  Branco: 

als  Granzes  in  die  Höhe  durch  die  Alb  hindurchzupressen,  so  mülste  doch 
jede  dieser  plötzlich  emporgeschleuderten  ganzen  Granitmassen  im  nächsten 
Augenblicke  wieder  in  die  Tiefe  zurückgefallen  sein.  Das  ist  nicht  der 
Fall;  also  kann  die  hebende  Kraft  nicht  in  der  Explosion  liegen. 

Ganz  anders  eine  durch  empordrängendeii  Schmelzfluß  hochgeprefste 
Granitmasse.  Diese  behielte  fortwährend  das  Magma  als  Stützpunkt  unter 
sich,   brauchte   daher  nicht  zurückzusinken,    solange   dieses   Stand   hielte. 

Man  sieht,  die,  von  Koken  übrigens  ganz  ebenso  wie  von  uns  für 
gesichert  erachtete  Thatsache,  dafs  diese  unzerblasenen  Theile  der  Granit- 
massen des  Vorrieses  aus  der  Tiefe  gewaltsam  in  die  Höhe  gerückt  worden 
sind,  läfst  sich  durch  die  Annahme  einer  Explosion  noch  schwerer  ver- 
stehen wie  durch  diejenige  empordrängenden  Schmelzflusses. 

Der  Vorgang  der  Au^ressung  wird  nun  imi  so  leichter  verständlich, 
je  gröfser  das  durch  den  Schmelzflufs  aufgeprefste  Gebiet  ist.  Daher  er- 
scheint im  Riese ,  in  welchem  ein  umfangreiches  Gebiet  von  der  Aufpressung 
betroffen  wurde,  diese  Vorstellung  durchaus  nicht  widersinnig;  und  nur 
im  Vorriese,  wo  es  sich  um  kleine,  inselformig  im  Weifs- Jura -Gebiete  auf- 
tretende Granitmassen  handelt,  widerstrebt  unser  Empfinden  einer  solchen 
Vorstellung,  weil  man  an  Granitcylinder  relativ  geringen  Umfanges  denkt, 
welche  auf  langer  Bahn  durch  die  Alb  hindurchgeprefst  sein  mülsten. 

Zur  Erleichterung  dieser  Vorstellung  kann  indessen  doch  Mehreres  dienen : 

Einmal  nämlich  könnte  man  denken,  dafs  die  aufgeprefste  Granitmasse 
nur  nahe  der  Oberfläche  der  Alb  in  einzelne ,  isolirte ,  kleine  zweigförmige 
Massen  zersplittert  sei ,  dafs  aber  in  gar  nicht  grofser  Tiefe  die  einzelnen 
Zweige  zusammenhängen ,  so  dafs  dann  in  Wirklichkeit  ein  von  N.  nach  S. 
langgestreckter  (S.  50),  zusammenhängender  Granitrücken  in  eine  entsprechend 
verlaufende  Zerspaltung  des  Albkörpers  hineingedrückt  wäre,  von  dem  nur 
einzelne  Ausläufer  noch  höher  hinauf  gelangten.  Hierbei  würde  man  für 
die  östlich  der  Wömitz  auftretenden  Granitmassen  bei  Itzingen  und  Sulz- 
dorf eine  solche  Annahme  wiederholen  müssen. 

Sodann  wird  man  zu  einem  besseren  Verständnisse  des  Au^ressungs- 
vorganges  im  Vorriese  gelangen,  wenn  man  sich  vergegenwärtigt,  dafs 
doch  der  Höhen  unter  scliied  zwischen  diesen  auf  der  Hochfläche  der  Alb 
auftretenden  Granitmassen  und  den  unten  im  Rieskessel  befindlichen  nur 
ein  gradueller  und  zudem  geringwerthiger  ist;  denn  diejenigen  des  Vorrieses 
ragen    durchschnittlich   und   ganz    ungefähr  nur  um  50"  höher  über   den 


Das  vukatttsche  Vorries.  51 

Meeresspiegel  (jetzt)  auf,  als  das  bei  denjenigen  des  Rieses  der  Fall  ist.' 
Zudem  ist  zu  bedenken,  dafs  im  Riese  der  Granit  gleich  nach  seiner  Auf- 
pressung, also  früher,  gewiis  höher  aufragte,  als  das  heute  nach  seiner 
theilweisen  Abtragung  nur  noch  der  Fall  ist*^;  denn  in  dem  weiten  Ries- 
kessel war  die  frei  aufragende  Granithöhe  wohl  der  Abtragung  durch  die 
Wasser  des  obermiocänen  Riessees  und  durch  die  Atmosphärilien  stärker 
ausgesetzt  als  in  dem  Vorriese  jene  im  Körper  der  Alb  steckenden,  daher 
diurch  letzteren  geschützten  Granitmassen  es  sind.  Aufserdem  aber  könnte 
auch  noch  der  Granit  im  Rieskessel  durch  den  späteren  Einsturz  desselben 
nach  seiner  Hebung  wieder  in  ein  tieferes  Niveau  gerückt  worden  sein, 
als  er  vor  dem  Einstürze  besafs. 

Wenn  dem  so  ist ,  dann  würde  der  ohnedies  nicht  grolse  heutige  Unter- 
schied von  50°*  in  dem  Betrage  der  Aufpressung  des  Granites  im  Riese 
(450")  und  im  Vorriese  (500")  noch  geringer  werden  oder  verschwinden 
oder  gar  in  das  Gegentheil  verkehrt  werden.  Jedenfalls  aber  ist  der  Unter- 
schied ,  auch  wenn  er  ursprünglich  bestand ,  nur  ein  gradueller  und  zudem 
kein  grofser,  kein  im  Wesen  der  Sache  begründeter. 

Das  Schwerbegreifliche  einer  Aufpressung  dieser  kleinen  Granitmassen 
im  Vorriese  wird  aber  noch  durch  die  weitere  Erwägung  herabgemindert, 
dais  ja  das  bekannte  Steinheimer  Becken  bezüglich  der  Grö&e  eine  ver- 
bindende Mittelstellung  zwischen  dem  grofsen  Rieskessel  und  den  in  Rede 
stehenden  kleinen  Granitmassen  des  Vorrieses  bildet.  Auf  Taf.  II  in  unserer 
untenstehenden  Arbeit^  ist  in  der  Ecke  unten  links  das  Steinheimer  Becken 
in  demselben  Mafsstabe  dargestellt  wie  das  Riesbecken.  Man  ersieht  daraus, 
wie  überaus  klein  bereits  das  Steinheimer  Becken  gegenüber  dem  Ries- 
kessel ist.  Nun  hat  im  Steinheimer  Becken  aber  ganz  zweifellos  eine  Auf- 
pressung  stattgefunden;  denn  der  Braun -Jura  ist  dort  durch  Überschiebung 
in  das  Niveau  des  Weifs-Jura  gehoben*,  und  erftÜlt  zudem  doch  nur  einen 


^  £s  lassen  sich  natürlich  nur  ganz  ungefähr  durchschnittliche  Zahlen  hierfür  angeben. 
Man  wird  vielleicht  den  Graniten  im  Riese  eine  durchschnittliche  Meereshöhe  bis  450" 
geben  können,  denen  im  Vorriese  von  500". 

•    Das  vulcanische  Ries  S.  47. 

'   Das  vulcanische  Ries. 

^  Dafs  er  dabei ,  wie  Fr  aas  zeigt,  gleichzeitig  auch  seitlich  auf  den  Weifs-Jura 
hinaufgeschoben  ist,  würde  an  der  Natur  dieser  Aufpressung  als  einer  solchen  nichts  ändern, 
da  eine  Überschiebung  hier  nichts  Anderes  ist  als  eine  Aufpressung  auf  schräger  Fläche.  Doch 
ist  das  für  unsere  jetzige  Betrachtimg  nebensächlich. 


?• 


52  Branco: 

kleinen  Theil  des  Beckens.  Wenn  das  nun  bei  dem  so  sehr  viel  klei- 
neren Steinheimer  Becken  ganz  ebenso  wie  bei  dem  grolsen  Riesbecken 
möglich  war,  so  mufs  es  auch  bei  den  abermals  kleineren  Granitmassen 
im  Vorriese  möglich  gewesen  sein ,  wenn  sie  auch  vielleicht  nur  ein  Viertel 
oder  gar  ein  Sechstel  des  Umfanges  vom  Steinheimer  Becken  besitzen 
mögen. 

Dieses  Steinheimer  Becken  bildet  also  gleichzeitig  das 
beste  Beweismittel  für  das  thatsächliche  Vorhandensein  von 
Aufpressungen,  und  gegen  die  Deutung  derselben  als  ursprüng- 
licher Inselbildungen,  im  Vorriese.  Der  Braun-Jura  dort  ist 
zweifellos  aufgeprefst,  wenn  auch  zugleich  überschoben;  durch 
Inselbildung  kann  man  sein  Auftreten  in  dem  zu  hohen  Niveau 
natürlich  nicht  erklären.  Wenn  nun  aber  dort  der  Braun-Jura 
gehoben  ist,  warum  sollte  hier  denn  der  Granit  nicht  gehoben 
sein  können? 

Zwar  könnte  man  vielleicht  annehmen  wollen,  die  Aufpressung  und 
Überschiebung  des  Braun -Jura  im  Steinheimer  Becken  seien  hervorgerufen 
durch  den  Einsturz  dieses  Beckens ,  bei  welchem  Vorgange  ein  Theil  des 
Gebietes  in  die  Höhe  gestofsen  sei ;  und  dann  müfste  natürlich  vom  Ries- 
gebiete dasselbe  gelten.  Indessen  einer  solchen  Deutung  widerspricht 
einmal  das  Verhalten  des  Vorrieses,  in  welchem  letzteren  kein  Einsturz 
und  demnach  eine]jAu^ressung  des  Granites  vorhanden  sind;  imd  zweitens 
das  Vorhandensein  der  sogleich  zu  besprechenden  magnetischen  Störungen, 
welche  das  Vorhandensein  einer  eisenreichen  Eruptivmasse  in  der  Tiefe  — 
die  Ursache  der  Aufpressung  —  sehr  wahrscheinlich  machen. 

Nach  dem  Gesagten  liegen  also  im  Vorriese  thatsächlich 
Granitmassen  vor,  welche  den  Körper  der  Alb  durchsetzen,  ohne 
dafs  diese  durchgreifende  Lagerung  erklärt  werden  könnte  durch 
die  Annahme,  es  handele  sich  hier  um  ursprüngliche  inselför- 
mige  Aufragungen  des  ehemaligen  granitischen  Meeresbodens, 
oder  durch  die  Annahme,  die  Granite  seien  durch  eine  Explo- 
sion in  die  Höhe  gedrückt  worden.  Es  bleibt  mithin  nur  die 
Annahme  einer  langsamen  Aufpressung  durch  Schmelzflufs. 

Das  aber  ist  von  entscheidender  Wichtigkeit  auch  für  die 
richtige  Erfassung  des  Granitproblemes  im  Rieskessel.  Wir 
gaben   die  Gründe    an   (s.  Abschnitt  I),    welche    im  Riese  gegen   die  An- 


Das  vtUcanische  Vorries.  53 

nähme  sprechen,  das  zu  hohe  Niveau  des  Granites  könne  verursacht  sein 
durch  ein  inselfÖrmiges  Aufragen  desselben  oder  durch  eine  Explosion. 
Nun  finden  wir  im  Vorriese  ebenfalls  ein  zu  hohes  Niveau  des  Granites, 
zugleich  aber  die  völlige  Unmöglichkeit,  dasselbe  durch  Inselbildung  zu 
erklären.  Folglich,  so  lautet  der  Analogieschlufs,  welcher  sich 
aufdrängt,  ist  auch  für  das  Ries  dieselbe  Unmöglichkeit  erwiesen, 
der  Granit  ist  auch  dort  sicher  aufgeprefst. 

Magnetische  Störungen  als  Beweis.  Dafe  in  der  That  eine  grofse 
basische  Eruptivmasse  in  jenen  Gegenden  in  der  Tiefe  sich  befindet  — 
und  das  wäre  doch  der  von  uns  angenommene  Laccolith  —  solches  scheint 
nun  bewiesen  zu  sein  durch  die  kartographische  Aufiiahme  der  magneti- 
schen Störungen  auch  des  Riesgebietes,  welcher  Hr.  Prof.  Haufsmann 
auf  unsere  Bitte  in  liebenswürdiger  Weise  sich  unterzogen  hat.  Die  be- 
treflFende  Arbeit  wird ,  wenn  möglich ,  in  den  Sitzungsberichten  dieser  Aka- 
demie erscheinen.  Es  läfst  sich  aus  der  Karte*  unzweideutig  erkennen, 
dafs  die  Störungen  der  magnetischen  Inclination  im  Osten  sich  im  Ries- 
imd  Vorriesgebiete  sehr  deutlich  aussprechen,  aber  auch  nach  Westen  hin 
bis  weit  jenseits  des  Steinheimer  Beckens  sich  erstrecken. 

Durch  tektonische  Bruchlinien,  wie  man  vielleicht  meinen  wollte,  sind 
diese  magnetischen  Störungen  unmöglich  zu  erklären,  denn  sie  sind  un- 
abhängig von  denselben.  Sie  fehlen  vor  Allem  gänzlich  an  dem  langen, 
südlichen  Bruchrande  der  Alb  gegen  Oberschwaben  hin ,  während  sie  doch 
gerade  dort  auftreten  müfsten,  wenn  sie  von  Brüchen  der  Erdrinde  in's 
Leben  gerufen  würden. 

Andererseits  lassen  sich  diese  magnetischen  Störungen  auf  der  Alb 
vom  Ries  aus  bis  weit  jenseits  Steinheim  im  Zusammenhange  verfolgen, 
obgleich  gerade  dort  in  der  Alb  keine  tektonischen  Störungen  sind. 

Die  Störungen  der  magnetischen  Inclination  fehlen  somit 
da,  wo  die  Hauptbruchlinie  ist;  und  sie  sind  vorhanden  zum 
Theil  da,  wo  Bruchlinien  fehlen.  Folglich  sind  sie  unabhängig 
von  solchen,  und  es  bleibt  für  ihre  Erklärung  nur  die  Annahme, 
dafs  ein  basaltischer  eisenhaltiger  Laccolith  unter  jenem  Ge- 
biete sich  befindet,  der  an  einer  Anzahl  von  Stellen:  Steinheim,  Ries, 
local  im  Vorriese,   das   über  ihm  liegende  Deckgebirge   hier  mehr,    dort 

^  Noch  in  letzter  Stunde  hat  uns  Hr.  Haufsmann  in  dankenswerthester  Weise  diese 
Karte  zur  Verfügung  gestellt,  so  dafs  wir  dieselbe  als  Anhang  hinten  beiheften  konnten. 


54  Brango: 

weniger  in  die  Höhe  schob ,  weil  er  eine  Intrusionsmasse  von  wechsehider 
Dicke  bildete  und  weil  das  Deckgebirge  an  verschiedenen  Orten  ein  Mini- 
mum von  Widerstandsfähigkeit  besafs. 

Im  vulcanischenKaiserstuhl  imBreisgau  zeigt  sich  das  Gleiche. 
Auch  dort  läfst  sich  nach  6.  Meyer's  Untersuchungen*  keinerlei 
Beziehung  der  erdmagnetischen  Anomalien  zu  Spalten  oder  Ver- 
werfungen feststellen.  Sondern  diese  Anomalien  sind  nach  dem  Ver- 
fasser zu  erklären  aus  einer  permanenten  Magnetisirung  des  Gesteins,  in- 
dem die  Basaltberge  als  Ganzes  sich  wie  annähernd  senkrecht  stehende 
Nordpole  verhalten. 

Auf  der  0. -Seite  des  Kaiserstuhles  lassen  dann  die  erdmagnetischen 
Anomalien  das  Auftreten  der  Sedimentgesteine  sofort  erkennen.  Auf  der 
SW.-Seite  dagegen  zeigen  sie  eine  unterirdische  Fortsetzung 
der  basaltischen  Massen  an,  also  ganz  wie  am  Riese,  von  welchem 
sich,  zufällig  auch  nach  SW.,  nach  Steinheim  hin,  ebenfalls  eine 
unterirdische  Fortsetzung  basaltischer  Massen  verräth. 

So  haben  wir  beim  Kaiserstuhlgebirge  magnetische  Anomalien,  die 
sicher  theils  durch  ober-,  theils  aber  auch  durch  unterirdische  eisenhaltige 
Eruptivgesteine  hervorgerufen  werden.  Warum  sollten  die  Anomalien  des 
Riesgebietes  nicht  ebenfalls  durch  solche  unterirdischen  Massen  bedingt  sein? 
Durch  Eisenerze  des  Braun -Jura  oder  des  Tertiär  lassen  sie  sich  jedenfalls 
nicht  erklären. 

Der  »spukhafte«  Laccolith  des  Riesgebietes,  wie  Koken  ihn  spottend 
benennt,  ist  somit  doch  wohl  kein  Phantasiegebilde,  sondern  eine  that- 
sächlich  in  der  Tiefe  liegende  Masse. 

Von  dieser  Au^ressung  im  Vorriese  mufs  natürlich  auch  die  über  den 
Graniten  ursprünglich  liegende  Decke  von  Sedimentgesteinen  betroffen  wor- 
den sein.  Wo  ist  diese  wiederzufinden?  Ganz  wie  im  Riese  diese  sedi- 
mentären Deckmassen  von  dem  gehobenen  Gebiete  abrutschen  mufeten  und 
ihr  Abgleiten  durch  eine  grofse  Explosion  zum  Theil  beschleunigt  wurde, 
so  mag  das  auch  an  den  betreffenden  Stellen  im  Vorriese  der  Fall  gewesen 
sein.  Und  wie  sie  dann  später  auf  dem  so  ausgedehnten  Gebiete  des 
Rieses  der  Erosion  gröfstentheils  zum  Opfer  fielen,  so  auch  auf  dem  so 
kleinen  Gebiete  des  Vorrieses;   denn  hier  fand  Au^ressung  ja  wesentlich 


Bericht  der  Naturforsch.  Ges.  Freiburg  i.  B.,  Bd.  12,  1902,  IS.  40  (173). 


Das  mUcanische  Vorries.  55 

nur  statt  in  dem  Gebiete  von  Itzingen-Sukdorf  und  auf  der  NS.  verlau- 
fenden Strecke  Sorheim— Unter-Bissingen.^ 

Es  wird  aber  auch  hier  wie  dort  nicht  ausgeschlossen  sein ,  dafs  dieses 
Deckgebirge  durch  die  groise  Explosion  zum  Theil  in  die  Luft  geblasen 
und  zerschmettert  worden  ist,  worauf  es  der  Erosion  um  so  leichter  zum 
Opfer  fallen  konnte.  Im  Vorriese  scheinen  in  der  That  viele  Fetzen  von 
Bunter  Breccie  und  von  Jura -Thonen,  die  sich  auf  dem  Weifs- Jura  finden, 
herausgeschleudert  zu  sein.  Auch  die  in  den  marinen  Sand  bei  Dischingen 
sowie  westlich  von  Donauwörth  eingebetteten  Fetzen  von  Jura-  und  Keuper- 
Thon  (Abschnitt  IV)  dürften  ausgeworfen  sein.  Es  ist  aber  selbstverständlich 
völlig  unmöglich  zu  trennen  das,  was  durch  langsame  Emporpressung  all- 
mählich gehoben  ward  und  dabei  allmählich  abglitt  und  überschoben  wurde, 
von   dem,   was  durch  die   gewaltige  Explosion  plötzlich  beseitigt  wurde. 

2.  Specielles. 

Nach  diesen  allgemeinen  Betrachtungen  wollen  wir  eine  Anzahl  von 
Aufschlüssen  vorfuhren,  an  denen  diese  aufgeprefsten  einheitlichen  Granit- 
massen und  die  granitischen  Explosionsproducte  des  Vorrieses  sich  beob- 
achten lassen.  Um  jedoch  die  Eigenart  und  den  Gegensatz  der  beidersei- 
tigen Erscheinungsformen  granitischer  Massen  möglichst  klar  vor  Augen  zu 
fuhren,  soll  ihrer  Schilderung  vorausgeschickt  werden  diejenige  zweier  Lo- 
calitaten  im  Riese,  an  welchen  uns  nur  unzerblasener  Granit  entgegentritt. 

Einheitlicher^  (unzerblasener)  Granit  im  Riese.  Wenneberg.  Genau 
östlich  von  Nördlingen  ragt  der  Wenneberg  ungeföhr  50"  über  die  Thal- 
ebene des  Rieskessels  empor.  Es  besteht  aus  anstehendem  Granit,  welcher 
eine  Krönung  von  obermiocänem  Süfswasserkalke  trägt,  die  bis  zu  470'" 
Meereshöhe  aufragt.  An  der  Nordseite  des  Berges  befindet  sich  ein  alter 
Steinbruch.  In  diesem  sieht  man  noch  heute  den  schmalen  Gang  von  Wenne- 
bergit  im  Granite  aufsetzen,  welcher  früher  (S.  45,56)  als  jungvulcanischer, 
liparitischer  Gang  erklärt  wurde,  bis  man  ihn  dann  als  altkrystallinisches 
Ganggestein  umdeutete. 

*  Das  ganze  übrige  Vorriesgebiet ,  d.  h.  der  überwiegend  gröfste  Theil  desselben,  blieb 
unberührt  von  einer  Aufpressung. 

*  Die  Bezeichnung  »einheitlicher«  oder  »unzerblasener«  Granit  mufste  gewählt  werden, 
weil  man  bei  der  vollkommenen  Zertrümmerung  des  Gesteins  von  einem  »festen«  Granite 
nicht  sprechen  darf. 


56 


Bramco : 


Wie  gewöhnlich  im  Kiese,  so  lälst  auch  hier  der  anstehende  Granit 
deutliche  Zerpressung  erkennen ;  aber  gegenüber  den  später  zu  betrachtenden 
Granitmassen  des  Vorrieses,  welche  mit  granitischen  Explosionsproducten  zu- 
sammen auftreten,  ist  er  entschieden  fester,  unzersetzter,  weniger  zerbroclien 
als  diese. 

Vor  Allem  aber  trägt  er  einen  durchaus  einheitlichen  Charakter.  Wenn 
auch  Differenzen  in  grob-  und  feinkörniger  Ausbildung  sich  zeigen ,  so  ist 
doch  die  Zusammengehörigkeit  der  ganzen  Masse  zu  einer  Einheit  ersicht- 
lich. Man  kann  z.  B.  noch  deutlich  eine  Apophyse  des  grobkörnigen  in 
den  feinkörnigen  Granit  hinein  erkennen ,  jedoch  ohne  jede  Zertrümmerung 


F*g.5. 


Weiineberg.     Anflagerung 


An  Farbe  itnng  dea  Gnmitw. 


der  Ränder.  Alle  Spuren  von  Zerblasung  und  von  tuffartiger  Bildung  fehlen 
an  dieser  LocaUtät  gänzlich. 

An  der  SO.-  und  O. -Seite  des  Wenneberges  ist  sehr  gut  das  Oberste 
dieser  Granitmasse  aufgeschlossen.  Man  sieht  die  Überlagerung  durch  ober- 
miocSne  Süfswasserschiehten  und  erkennt  die  Aufarbeitung  des  granitischen 
Materiales  zu  feinem  Sande,  losen  Geröllschichten  und  zu  fester  Breceie 
mit  kalkigem  Bindemittel,  sowie  den  allmählichen  Übergang  der  letzteren 
in  typischen  Suis  wasserkalk. 

Lieriicim.  Ein  zweiter  Aufschlufs  mit  einheitlichem,  anstehendem  Gra- 
nite des  Rieses  zeigt  sich  in  der  Sandgrube  von  Lierheim.'  Auch  hier  stellt 
sich  der  Granit  als  eine  zusammenhängende  Masse  heraus,  wenn  er  auch 


Das  vulcanische  Ries. 


ind  Abbildung. 


Das  vulcanische  Vorries.  57 

durch  die  starke  Pressung,  welcher  er  ausgesetzt  gewesen  ist,  in  viel  hö- 
herem Ma&e  vemischelt  ist,  als  am  Wenneberg. 

Zu  trennen  von  diesem  Granite  sind  auch  hier  die  über  demselben 
bez.  in  Taschen  desselben  liegenden  Verarbeitungsproducte  des  Granites. 
Diese  aber  sind  hier  wohl  weniger  durch  tertiäre  Gewässer,  sondern  mehr 
durch  Gebirgsbewegungen  bei  Entstehimg  der  darüber  liegenden  Bunten 
Breccie  gebildet  worden.  Das  hier  zwischen  den  einzelnen  Granitstücken 
liegende  feinkörnige  Material  läfst  sehr  deutlich  seine  Entstehung  aus  Granit 
erkennen;  es  ist  sandig,  nicht  aber  erdig  und  an  zerstäubtes  oder  zerrie- 
benes Grestein  erinnernd,  wie  das  umgekehrt  oben  auf  der  Alb  bei  den 
granitischen  Explosionsproducten  der  Fall  ist. 

Granitische  Explosionsproducte^  im  einheitlichen  Granite.  Balgheim. 
Es  treten  nun  aber  an  anderen  Orten  im  Riese,  inmitten  des  anstehenden 
einheitlichen  Granites ,  auch  granitische  Explosionsproducte  auf.  Wir  wollen 
als  Beispiel  zunächst  die  Localität  am  Keller  bei  Balgheim  wählen.  Hier 
ist  in  einer  Grube  die  Bunte  Breccie  aufgeschlossen.  Letztere  zeichnet  sich 
durch  vorwiegenden  rothen  Keuper-Thon  aus  und  besitzt  eine  gewundene 
Structur.  Ob  das  tertiäre  Verarbeitung  oder  aber  Auswalzung  bei  der  He- 
bung des  Riesgebietes  ist,  bleibt  zu  entscheiden,  ist  jedoch  fÄr  vorliegende 
Betrachtung  nebensächlich. 

In  der  oberen,  gröfseren  Abtheilung  der  Grube  ist  einheitlicher  Granit 
aufgeschlossen.  Aber  inmitten  dieses  einheitlichen,  wenngleich  völlig  zer- 
drückten Gesteins  setzt  ein  2°  mächtiger  Gang  granitischer  Explosionspro- 
ducte auf.  An  der  SW. -Seite  des  Hügels,  bei  den  dortigen  Häusern,  sind 
diese  letzteren  sogar  vorherrschend  und  zum  Theil  mit  Bunter  Breccie  ge- 
mengt. Deutlich  kann  man  den  Gegensatz  erkennen  zwischen  dem  ein- 
heitlichen Granite  und  dem  zerblasenen,  welch  letzterer  aus  Stücken  gra- 
nitischer Gesteine  besteht,  zwischen  denen  eine  feinerdige,  aber  Quarzkörner 
fährende  Grundmasse  liegt.  Wegen  dieses  Gehaltes  an  Quarzkömem  möchten 
wir  die  Grundmasse  nicht  als  Zersetzungsproduct  eines  liparitischen ,  also 
echt  vulcanischen  Tuffes  ansehen,  sondern  als  ein  verwittertes  Zerblasungs- 
product  des  Granites,  hervorgerufen  durch  die  grofse  Explosion  (s.  S.  47). 

Granitische  Explosionsproducte  in  Verbindung  mit  lipariiischem  Tuffe. 
Sehmähingen.  Eine  andere  sehr  interessante  Ortlichkeit  bietet  der  Kirch- 
berg bei  Schmähingen.     Dort  findet  sich  stark  zertrümmerter  Weifs-Jura- 

^    Über  diesen  Ausdruck  siehe  S.  47. 
Fhys.  Ahh.  1902.  I.  8 


58  Branco: 

Kalk,  der  in  Form  einer  grofsen  Scholle  auf  »Granit«,  wie  die  Karte  sagt, 
liegt.  Dieser  »Granit«  ist  aber  kein  einheitlicher,  sondern  ein  ganzlich  zer- 
blasener.  In  zahlreichen  Gruben  aufgeschlossen,  zeigt  er  überall  diesen 
selben  Typus. 

In  einer  feinkörnigen  Grundmasse ,  welche  mehr  oder  weniger  zurück- 
treten kann  imd  ausgezeichnet  ist  durch  ihren  Gehalt  an  Quarzkörnem, 
liegen  Stücke  altkrysta.lliner  Gesteine.  Die  Farbe  der  Grundmasse  ist  grau, 
grün  oder  roth.  Die  erdige  Beschaffenheit  macht  es  nicht  unmöglich ,  dafs 
hier  bereits  echter  vulcanischer,  liparitischer  Tuff  beigemengt  sein  könnte, 
w&hrend  die  Quarzkörner  aber  sicher  nur  von  zerblasenem  Granite  her- 
rühren. Weiter  bergaufwärts,  am  Wege  zum  Reimlinger  Berge,  stellen  sich 
denn  auch  deutlich  liparitische  Schlacken  ein,  und  schliefslich  hat  das  gra- 
nitische Explosionsproduct  ganz  dem  normalen  liparitischen  Tuffe  Platz 
gemacht.  Immerhin  aber  hat  der  liparitische  Tuff  eine  ganz  andere  Farbe 
als  diese  erdige  Grundmasse;  und  wenn  man  zudem  den  Gehalt  an  Quarz- 
kömern  in  der  letzteren  berücksichtigt,  so  möchte  man  auch  hier  mehr 
dazu  neigen,  diese  Gi*undmasse  nur  als  feinstes  Zerblasungsproduct  des 
Granites  zu  betrachten  (s.  S.  47). 

Hier  sehen  wir  also,  wie  an  derselben  Stelle,  an  welcher  festgewesene 
granitische  Gesteinsmassen  zerblasen  wurden,  gleichzeitig  oder  später  li- 
paritisches  Magma  im  zerstäubten  Zustande  seinen  Ausweg  fand. 

Besonders  interessant  sind  an  dieser  Localität  grofee,  überaus  harte 
Blöcke  von  Granit,  die  aus  dem  granitischen  Explosionsmateriale  heraus- 
gewittert sind.  Sie  bestehen  aus  eckigen  Stücken,  bilden  also  eine  rothe 
Granitbreccie ,  die  durchzogen  wird  von  einer  griinen  porphyrischen  Masse. 
Es  scheint,  als  ob  in  letzterer  ein  Einschmelzungsproduct  des 
Granites  vorliege,  welches  den  Stücken  der  Breccie  gegenüber 
die  Rolle  eines  Cementes  spielt. 

Granitische  Explosionsprodiicte  im  Vorricse.  Nachdem  wir  so  ein- 
heitlichen anstehenden  Granit  und  in  demselben  aufsetzende  zerblasene  Gra- 
nite im  Rieskessel  betrachtet  haben,  wollen  wir  uns  zu  den  entsprechenden 
Verhältnissen  im  Vorriese  wenden  und  auch  hier  eine  Reihe  von  Locali- 
täten  in's  Auge  fassen. 

Dieselben  liegen  zunächst  auf  einer  ungefähr  nordsüdlich  streichenden 
Linie  (S.  44),  welche  von  Bissingen  im  S.  bis  nach  Klein -Sorheim  im  süd- 
lichen Riese  sich  hinzieht  (Taf.  I). 


Das  vtUcanische  Vorries.  59 

Die  geologische  Karte  von  Bayern  zeigt  auf  dieser  Linie  inmitten  des 
Weifs- Jura -Gebietes  eine  Anzahl  von  »Granit  «vorkommen.  Indessen  han- 
delt es  sich,  wie  wir  sehen  werden,  bei  diesen  Massen  zum  Theil  nicht 
um  Granit,  sondern  um  granitische  Explosionsproducte. 

Bei  Unter -Bissingen,  südwestlich  des  Dorfes,  befindet  sich  ein  solcher 
» Granit «punkt  auf  der  Karte  verzeichnet,  welcher  freilich  nur  ganz  mangel- 
haft an  Wegböschungen  aufgeschlossen  ist.  Man  findet  nur  eine  lehmige, 
völlig  zersetzte  Schuttmasse,  in  welcher  sich  kleine  Granitstücke  und  Spuren 
von  Keuper,  Braun-  und  Weifs -Juj:a-6ri es  finden.  Die  Granitstücke  auf 
den  Feldern  sind  also  nur  Auswitterungen  aus  dieser  zusammengesetzten 
Masse.  Relativ  häufig  finden  sich  in  dem  Beschotterungsmateriale  des  Feld- 
weges aber  auch  Stücke  von  liparitischem  Tuffe  und  gebranntem  Weifs- 
Jura  neben  solchen  von  Granit.  Ganz  sicher  sind  diese  Stücke  von  den 
Feldern  abgesammelt,  unter  denen  diese  Masse  anstehen  mufs. 

Wenn  daher  auch  ein  Aufschlufs  fehlt,  so  kann  man  aus  den  aufge- 
führten Thatsachen  doch  nur  den  einen  Schlufs  ziehen,  dafs  dieses  » Granit «- 
vorkommen  keinen  einheitlichen  anstehenden  Granit,  sondern  nur  ein  Ex- 
plosionsproduct  darstellt,  aus  dem  die  Granitstückchen  ausgewittert  sind. 
Das  reichliche  Vorkommen  von  Stücken  liparitischen  Tuffes  spricht  daför, 
dafe  wir  hier  entweder  eine  Vereinigung  von  liparitischem  Tuffe  und  gra- 
nitischem Explosionsproducte  (Tj^us  Schmähingen  S.  57),  oder  aber  nur 
einen  liparitischen  Tuff  vor  uns  haben,  welcher  Granitstückchen  fiihrt. 

Südlich  von  Stillnau  findet  sich  ein  zweiter  Punkt.     Hart  am  Dorfe 

liegt  dort,  mitten  im  Weifs -Jura,  eine  grofse  Sandgrube,  welche  einen  um- 

pfangreichen ,  mit  roth er  Verwitterungsfarbe  überzogenen  Aufschlufs  in  Granit 

darbietet.     Der  letztere  fahrt  weifsen   und  röthlichen  Feldspath,    ist  sehr 

weich,   zu  Grus   und  Sand   zerfallend,   aber  doch   entschieden   einheitlich. 

Er  bildet  allem  Anschein  nach  eine  grofse,  überaus  gewaltsam  behandelte, 

daher   sehr  mürbe  Scholle.     An   einer  relativ  kleinen   Stelle,    nahe  dem 

Rande   dieses  Aufschlusses,   zeigt  sich   aber  ein   ganz   anderes  Verhalten: 

Gröbere  Stücke  von  Gneifs    und    von  Hornblendegestein   liegen  in   einer 

feinerdigen  Grundmasse,  welche  den  Eindruck  eines  völlig  zersetzten  und 

dadurch  roth  gefiLrbten  vulcanischen  Tuffes  hervorruft.    Aber  e«  fallen  in 

derselben   doch   viele  Quarzkörner  auf,   und   diese  wieder  sprechen  dafar, 

dafe  die  Grundmasse  mehr  als  zerriebenes  granitisches  Material,  denn  als 

echter  vidcanischer  Tuff  aufzufassen  ist  (Typus  Balgheim  S.  57). 

s* 


60  Branco: 

Bemerkenswerth  ist  der  Umstand,  dafs  an  der  Westspite  des  Auf- 
schlusses, nahe  der  Landstrafse,  neben  diesem  Granite  unvennittelt  Braun- 
Jura-Schutt  und  zahlreiche  gekritzte  Buchberg-GeröUe  liegen.  Diese  Ver- 
einigung der  granitischen  Massen  mit  thonigen,  schmierigen 
Massen  des  Braun-Jura  oder  des  Keupers  ist  für  das  Vorries  sehr 
kennzeichnend.  Ganz  ebenso  wie  wir  unten  im  Riese  auf  dem  Granite 
liegend  vielfach  eine  bunte  Masse  wesentlich  von  Braun-Jura  und  Keuper 
haben',  so  sind  auch  im  Vorriese  mit  den  granitischen  Massen  meist  Jura- 
und  Keuper-Schutt  verknöpft.  Ob  dieser  letztere,  so  wie  unten  im  Riese, 
auch  hier  oben  auf  den  granitischen  Massen  liegt,  oder  ob  er  neben  ihnen 


Brvntt 

Sandgrube  von  Stülnau. 

liegt,  indem  er  eine  Auskleidung  der  Spalte  bildet,  in  welcher  der  Granit 
emporgebracht  wurde,  das  ist  bei  ungenügenden  Au&chlüssen  schwer  zu 
entscheiden.  Es  dürft«  Beides  der  Fall  sein.  Wenn  Granit  aufgeprefst 
wurde ,  so  mufste  ja  auch  der  über  ihm  liegende  Pfropfen  von  Keuper-  und 
Jura-Gestein  aufgeprefst  werden;  und  wenn  durch  die  Explosion  Granit  zer- 
blasen  wurde,  so  mufste  auch  jenes  Deckgestein  herausgeschleudert  werden. 
Abermals  weiter  nördlich,  im  Norden  von  Stillnan,  findet  sich  hart 
am  Dorfe  eine  kleine  Grube,  in  welcher  ganz  dasselbe  aufgeschlossen  ist, 
was  in  der  soeben   besprochenen   grofsen  südlichen  Grube   zu  sehen  war. 

'  Die  freilich  dort  zum  einen  Theile  als  obermiocäne  Schicht  zu  betrachten  ist  und 
uur  lum  anderen  Theile  die  Bunte  Breccie  bildet,  welche  durch  die  gewaltsame  Entstehung 
des  Bieses  hervorgerufen  wurde.    Vei^l.  danlber  in  Abschnitt  IV. 


Das  vulcanische  Vorries.  61 

In  einem  granitischen  Explosionsproducte  das  hier  ziemlieh  sicher  nur  aus 
zerblasenem  Granitmateriale  bestehen  dürfte,  aber  vollkommen  zersetzt  ist, 
liegen  zahlreiche  Stücke  verschiedener  altkrystaUiner  Gesteine  und  von 
Keuper  (Jura-Thon?),  aber  nicht  von  Wei£s-Jura. 

Rohrbach.  Wiederum  nördlich,  in  einem  Hohlwege  am  Dorfe  Rohr- 
bach ,  sieht  man  einen  Aufschlui^ ,  der  abermals  ganz  dieselbe  Bildung  er- 
kennen lälfit,  wie  sie  nördlich  und  südlich  von  StiUnau  vorliegt.  Inmitten 
des  Weife -Jura- Gebietes  föhrt  der  Weg  unvermuthet  in  einen  Hohlweg 
hinein,  der  eine  einheitliche  Granitmasse  durchfährt.  Auch  hier  setzt  in 
deren  Mitte  ein  ungefähr  5"  mächtiger  granitischer  Tuff  auf. 

Interessant  ist  die  Thatsache,  dafs  in  diesem  granitischen  Explosions- 
producte mächtige  Blöcke  von  vergriestem  Weifs- Jura  liegen.  Möglich  wäre 
es  freilich,  dafs  dieselben  nur  später  von  oben  in  diesen  Aufschlug  hin- 
abgefallen sein  könnten,  so  dafs  sie  lediglich  Stücke  von  Gehängeschutt 
darstellen  würden.  Möglich  ist  es  aber  auch,  dafs  sie  im  Augenblicke  der 
Explosion,  also  der  granitisehen  Tuffbildung,  von  demselben  eingeschlossen 
wurden,  denn  man  findet  solche  Stücke  ja  auch  im  liparitischen  Tuffe. 

Auch  hier  liegt  neben  dem  Granite  eine  völlig  zersetzte  schmierige 
Masse  von  Braun -Jura  und  Keuper -Thon.  Es  wäre  das  wieder  die  vermuth- 
liche  Auskleidungsmasse  der  Spalte,  in  welcher  der  Granit  aufgeprefst 
wurde  (S.  22,  23). 

Schon  bei  dem  vorigen  Aufschlüsse  erwähnten  wir,  dafs  auch  Buch- 
berg-GeröUe  mit  dieser  thonigen  Masse  zusanmien  aufträten.  Dasselbe 
wiederholt  sich  hier,  und  man  möchte  daraus  wieder  folgern,  dafs  die 
Buchberg- GeröUe  bereits  zur  Zeit  der  Explosion,  bezüglich  der  Aufpressung 
des  Granites,  hier  oben  auf  dem  Weifs -Jura  gelegen  haben  (S.  79  Absclin. 
ni.  B.  I). 

Der  nächste  Punkt,  an  welchem  die  Karte  abermals  weiter  nördlich 
Granit  verzeichnet,  bei  Sperbersloh-Bergele,  ist  nicht  aufgeschlossen. 

Wohl  aber  zeigt  sich  dann  noch  weiter  nördlich ,  nun  bereits  im  Riese, 
und  zwar  südlich  von  Klein -Sorheim,  ein  Aufschlufs,  welcher  ganz  das- 
selbe granitische  Explosionsmaterial  besitzt,  wie  wir  es  vorher  anstehend 
fanden. 

Wir  haben  in  diesen  Aufschlüssen  eine  Anzahl  derartiger  Vorkommen 
einheitlicher  und  zerblasener  Granitmassen  im  Vorriese  besprochen,  welche 
sich  von  Unter- Bissingen  im  S.  bis  gegen  Klein  -  Sorheim  im  N.  und  schon 


62 


Branco: 


im  Riese  hinziehen.  Nun  setzt  aber  das  Vorries,  wie  wir  sahen,  nach  0. 
hin  über  die  Wörnitz  hinweg,  und  neue  derartige  granitische  Massen  finden 
sich  dann  östlich  der  Wörnitz  bei  Sulzdorf  und  Itzingen. 

Sulzdorf.  Nördlich  des  Dorfes  Sulzdorf  ist  eine  grolse  Grube  im 
»Granite«  eröffnet.  Die  Erscheinungsweise  desselben  erinnert  im  Wesent- 
lichen ganz  an  die  soeben  besprochenen.  Auch  hier  steht  völlig  zu  Grus 
zerdrückter,  aber  einheitlicher  Granit  an.  Auch  hier  aber  zeigen  sich  in 
demselben  Stellen,  an  denen  Granitstücke  eingebettet  in  eine  rothe  erdige 
Grundmasse  liegen.  Allem  Anschein  nach  haben  wir  in  diesen  Stellen  eben- 
falls das  Ergebnifs  der  Gasexplosion  vor  Augen ,  welche  diese  aufgeprefsten 
Granitmassen  durchschlug.    Auf  bez.  neben  dem  Granite  findet  sich  dann 

F%g.7. 


bunte  Breecu^ 


obertrWeila --Junv 


lSandgrub€iü 


Profil  auf  der  Hohe  von  Sulzdorf. 


in  gleicher  Weise  an  mehrfachen  Punkten  die  oben  erwähnte  Bunte  Breccie; 
auch  im  Orte  selbst  liegt  eine  Masse  von  Braun -Jura. 

Aulser  dieser  Grube  ist  der  Granit  jedoch  noch  in  anderen  Sandgruben 
aufgeschlossen,  welche  alle  dasselbe  Bild  ergeben.  Überall  ist  er  in  einen 
sandigen  Grus  zerfallen,  so  dafs  auch  nicht  ein  kleines  Handstück  sich 
schlagen  liefse,  welches  fest  wäre.  Einige  Brunnengrabungen  im  Dorfe, 
in  der  Nähe  des  Baches ,  lieferten  bei  4"  Tiefe  einen  rothen  Keuperthon ; 
d.  h.  also  Bunte  Breccie,  welche  aus  der  Tiefe  mit  heraufgeprefst  wurde 
und  entweder  oben  auf  dem  Granite  liegt ,  oder  neben  demselben  als  Aus- 
kleidung der  Aufpressungsspalte. 

Itzingen.  Bei  dem  Dorfe  Itzingen  befinden  sich  zwei  getrennte  gra- 
nitische Vorkommen.  Das  eine  liegt  östlich  vom  Dorfe  am  Keller.  Hier 
zeigt  sich  nur  granitisches  Explosionsmaterial;  dasselbe  wird  aufgeschlossen 


Das  mUcanische  Vorries.  63 

durch  einen  tiefen  Wasserrils.  Gegenüber  den  bisher  besprochenen  Vor- 
kommen, bei  welchen  vorwiegend  Granitstücke  erseheinen,  ist  dieses  aus- 
gezeichnet durch  grofse  Blöcke  von  vorwaltendem  Gneifs  neben  Granit. 
Das  ist  sehr  wichtig,  denn  es  verräth  sich  dadurch,  dafs  nicht 
eine  Reibungsbreccie  des  Granites  vorliegt,  sondern  eine  aus 
der  Tiefe  heraufgeförderte,  durch  den  Granit  hindurch  gebla- 
sene Gneifsmasse,  d.h.  das  Ergebnifs  einer  Explosion  (S.  48). 

Die  zweite  Localität  befindet  sich  westlich  vom  Dorfe  Itzingen.  Sie 
ist  in-  einer  grolsen  Sandgrube  aufgeschlossen.  Hier  läfst  sich  ganz  vor- 
züglich und  durch  einen  grofsen  Theil  des  Aufschlusses  erkennen,  dafs  der 
■Granit«   keine    einheitliche  Ma.sse  bildet,   sondern   nichts  Anderes  ist  als 

Bg.S. 


Profil  bei  Itungen. 

ein  Haufwerk  kleinerer  Stücke  von  Granit,  auch  von  Keuperthon  und  Stuben- 
sandstein, die  zum  Theil  in  eine  feinkörnige  Grundmasse  eingebettet  sind. 
Auch  hier  liegt  also  das  Ergebnifs  einer  Explosion  vor. 

Fassen  wir  das,  was  uns  alle  diese  Aufschlüsse  zeigen,  zusammen, 
so  ergiebt  sich  das  Folgende: 

Genau  wie  im  Riese  einheitliche,  wenngleich  völlig  zer- 
drückte Granitmassen  sich  unterscheiden  lassen  von  graniti- 
schen Explosionsproducten,  so  tritt  uns  auch  im  Vorriese  der 
Granit  in  beiderlei  Gestalt  entgegen.  Hier  wie  dort  sind  die 
einheitlichen  Massen  aufgeprefst,  daher  mehr  oder  weniger  zu 
Grus  zerdrückt;  hier  wie  dort  sind  die  granitischen  Explosions- 
pro du  cte  ein  durch  blofse  Explosion  von  Gasen  zertrümmer- 
tes altkrystallinisches  Gestein,  bei  welchem  Vorgange  der  lipa- 
ritische  Schmelzflufs  noch  zumeist  in  der  Tiefe  blieb. 


64  B  R  A  N  c  o : 

3.  Altersverhältnisse. 

Schon  in  unserer  früheren  Arbeit  haben  wir  gewisse  Anhaltspunkte 
gefunden,  welche  daför  sprechen  könnten,  dafs  die  Eruptionen  des  vul- 
canischen  Tuffes  nicht  gleichzeitig  mit  oder  auch  nur  sehr  schnell  hinter 
der  Breccienbildung  der  Weifs  -  Jura  -  Kalke  erfolgt  sind.  Es  finden  sich 
Stücke  von  bereits  wieder  verfertigter  Weifs- Jura -Breccie  als  Einschlufs  in 
den  lipari tischen  Tuffen.  Daraus  aber  folgt,  dafs  nicht  nur  die  Vergrie- 
sung  bereits  entstanden  war,  als  der  Aschenausbruch  erfolgte,  sondern  dafs 
auch  diese  doch  ursprünglich  locker  gewesene  Breccie  sich  wohl  schon 
wieder*  verfestigt  hatte,  bevor  sie  in  den  Tuff  gelangte. 

Wenn  nun  die  Vergriesung  der  Weifs  -  Jura  -  Kalke  älter  ist  als  die 
Eruptionen  der  liparitischen  Tuffe,  so  mufs  natürlich  auch  die  Ursache  der 
Vergriesung  älter  sein  als  diese.  Diese  Ursache  aber  glauben  wir  vorwie- 
gend in  der  grofsen  Explosion  suchen  zu  müssen,  wie  wir  in  Abschnitt  I 
darlegten.  Wir  möchten  somit  diese  grofse  Explosion  und  jene  Eruptionen 
der  liparitischen  Tuffe  als  zwei  getrennte  Acte  auffassen.  Anders  ausge- 
drückt: Es  scheint  uns,  dafs  im  Vorriese  wie  im  Riese  die  Explosionen 
der  vulcanischen  Aschen-  und  Schlackenausbrüche  weder  die  Vergriesung 
des  Weifs -Jura  bewirkt  haben,  noch  das  Herausschleudern  der  grofsen  Fetzen 
von  Braun -Jura  und  Keuper,  sondern  dafs  sie  nichts  Anderes  gethan  haben, 
als  die  ihnen  durch  die  vorhergegangene  grofse  Explosion  schon  früher  ge- 
lockerten Wege  zu  benutzen,  sie  auszuräumen  und  den  Weifs -Jura  durch 
ihre  hohe  Temperatur  local  etwas  zu  schwärzen. 

Für  eine  solche  Auffassung  spricht  auch  weiter  der  Umstand,  dafs 
einmal  im  Vorriese  jene  Fetzen  von  Keuper-  und  Jura-Thon  im  mittelmio- 
cänen  Meeressande  eingebettet^  liegen  und  dafs  zweitens  im  Vorriese  wie 
im  Riese  die  vulcanischen  Tuffe  vieler  Orte  relativ  wenig  Bruchstücke  von 
Weifs -Jura  wie  von  anderen  Juraschichten  enthalten;  jedenfalls  viel  weniger, 
als  das  im  Gebiete  von  Urach  der  Fall  ist.  Dort  ging  den  Asehenausbrüchen 
eben  keine  andere  Explosion  vorher,  welche  ihnen  die  Wege  geöffnet  hätte; 
daher  die  ungeheuren  Massen  jurassischer  Gesteine  im  vulcanischen  Tuffe. 

^  Man  mQfste  denn  annehmen  wollen,  dafs  auch  im  Tuffe  die  Stücke  lockeren  Griese.s 
ganz  ebenso  allmählich  sich  zu  einer  verfestigten  Breccie  durch  Kalkinfiltration  umgewandelt 
hätten,  wie  sie  das  aufserhalb  des  Tuffes  thaten. 

'  von  Knebel  fand  dieselben  bei  Wolperstetten  und  an  mehreren  Stellen  bei 
Dischingen  im  Meeressande. 


Das  mlcanische  Vorries.  65 

Aber  noch  ein  anderer  Grund  kann  daför  geltend  gemacht  werden, 
dafs  die  gro&e  £xplosion  bez.  der  Act  der  Breccienbildung  zu  einer  an- 
deren Zeit  erfolgte  als  die  Explosionen  der  liparitischen  Tuffe.  Wie  die 
Karte  (Taf.  I)  zeigt,  finden  sich  Breccienbildungen  der  Weifs- Jura -Kalke 
auch  an  solchen  Orten,  an  welchen  weit  und  breit  nichts  von  Tuffen  zu 
bemerken  ist.  Hier  ist  also  eine  Explosion  erfolgt,  ohne  dals  das  Magma 
bereits  genügend  hoch  gestiegen  w&re,   um  mit  zerschmettert  zu  werden. 

Somit  haben  wir  vier  Gründe  für  die  Annahme,  dafs  die 
grofse  Explosion  bez.  die  Breccienbildung  (Vergriesung)  und  die- 
jenigen Explosionen,  durch  welche  die  liparitischen  Tuffe  ge- 
bildet wurden,  als  zwei  verschiedene  Acte  aufzufassen  sind,  von 
denen  der  erstgenannte  der  altere  ist:  Einschlüsse  von  verfestigter 
Breccie  im  liparitischen  Tuffe;  Einschlüsse  ausgeworfener  Keuper-  und  Jura- 
Thone  bereits  im  mittehnioc&nen  Meeressande;  die  an  vielen  Orten  sich  zei- 
gende Seltenheit  des  Auftretens  von  Weils- Jurastücken  im  liparitischen 
Tuffe;  Auftreten  ausgedehnter  Breccienbildungen  auch  an  Orten,  die  fem 
von  liparitischen  Tuffen  liegen. 

Wir  sind  aber  auch  geneigt,  die  Entstehung  der  granitischen 
Explosionsproducte  für  älter  als  diejenige  der  liparitischenTuffe 
und  für  gleichaltrig  mit  der  grofsen  Explosion  und  Breccien- 
bildung anzusehen. 

Als  ältester  Act  würde  dann  die  ausgedehnte  Aufpressung 
der  Granite  bez.  die  Bergbildung  im  Riese  anzusehen  sein,  wäh- 
rend es  im  Vorriese  nur  bei  einem  ganz  beschränkten,  localen 
Aufpressungsversuche  granitischer  Massen  verblieb. 

An  dieser  Stelle  ist  femer  ebenfalls  nur  kurz  nochmals  auf  den  durch 
von  Knebel  gemachten  wichtigen  Fund  hinzuweisen,  welcher  als  Ein- 
schlufs  im  •  liparitischen  Tuffe  von  Burgmagerbein  einen  2"  langen  Fetzen 
von  Geröllsand  mit  Buchberg -Gerollen  ergab.  Da  diese  GeröUe  zum  Theil 
durch  die  Hitze  des  Tuffes  geröthet^  waren,  so  folgt  hinsichtlich  ihres 
Alters  daraus  so  viel,  dafs  dieser  Tuffausbruch  jüngeren  Alters  war  als 
die  Entstehung  dieser  umstrittenen  Geröllsande ,  welche  eine  so  grofse  Rolle 
in  der  Biescontroverse  spielen  (s.  Abschn.  lU,  B.  i  S.  78). 

^  Über  die  Verhftitnisse,  welche  theils  eine  Schw&rzung,  theils  eine  Röthung  der 
Weifs -Jura -Kalke  durch  hohe  Temperatur  bedingen,  siehe  Schwabens  Vulcan- Embryo- 
nen S.  541. 

Phjf8.Abh.  1902.  L  9 


66  Branco: 

Es  dürfte  mithin  auch  die  Entstehung  der  Buchberg-Gerölle 
älter  sein  als  diejenige  der  liparitischen  Tuffe.  Aber  nicht  nur 
das;  sie  mufs  nothwendig  schon  mindestens  der  mittelmiocänen 
Zeit  angehören;  denn  von  Knebel  fand  in  Lehm  eingebettete  Buch- 
berg-Gerölle  in  den  mittelmiocänen  marinen  Sauden  westlich  von 
Donauwörth,  wie  am  Schlüsse  dieses  Abschnittes  näher  zu  besprechen  ist. 

Das  geologische  Alter  dieser  Vorgänge  im  Vorriese,  ganz  speciell  der 
Entstehung  der  Breccien  des  Weife -Jura,  wird  durch  die  Lagerungsver- 
hältnisse oben  auf  der  Alb  in  ein  eigenthümliches  Licht  gestellt.'  Es  kann 
scheinen,  als  ob  hier  die  Entstehung  der  Griesbreccien  jüngeren  Datums 
wäre,  als  das  unten  im  Rieskessel  der  Fall  ist.^  In  dem  Kranze  von  Gries- 
breccien, welcher  das  Steinheimer  Becken  umgiebt,  ebenso  bei  Schlofe  Taxis 
auf  Blatt  Nattheim  haben  sich  im  Weife -Jura- Griese  obermiocäne  Land-  imd 
Süfewasserschnecken  gefunden.  Man  konnte  daher  zu  der  Vorstellung  kom- 
men, dafe  der  Gries  über  allem  Alb -Tertiär  liege,  jünger  als  dieses  sei. 

Sodann  finden  sich  an  einer  ganzen  Zahl  von  Orten,  so  z.  B.  bei 
Hohen- Memmingen,  vergrieste  Kuppen  von  Weife -Jura -Kalk,  zwischen 
denen  die  Senken  mit  marinem  Tertiär  ausgefüllt  sind.  Der  obermiocäne 
Süfewasserkalk  dagegen  liegt  am  Fufee  der  Kuppen,  d.  h.  nie  oben  auf 
diesen.  Das  ist  gerade  umgekehrt  wie  unten  im  Riese,  wo  er  oben  auf 
den  Grieskuppen  lagert,  mithin  ganz  sicher  jünger  als  der  Gries  ist.  Warum, 
so  mufe  man  fragen ,  liegt  er  nun  nicht  auch  oben  auf  der  Alb ,  im  Vor- 
riese, auf  diesen  vergriesten  Kuppen,  sondern  nur  an  deren  Fufee? 

Die  Erklärung,  das  sei  auch  ujrsprünglich  der  Fall  gewesen,  durch  die 
Erosion  aber  sei  der  Süfewasserkalk  von  den  Kuppen  überall  wieder  weg- 
gewaschen worden,  würde  so  unwahrscheinlich  klingen,  dafe  man  sie 
schwerlich  anwenden  dürfte. 

Eine  zweite  Erklärung  könnte  dahin  gehen,  dafe  der  Süfewasserkalk 
von  Anfang  an  nur  an  den  Fufe  der  vergriesten  Kuppen  angelagert  worden 
sei.  Wie  das  mittelmiocäne  Meer  zwischen  den  Weife -Jura -Kuppen  seichte 
Arme  gebildet  haben  dürfte,  auf  deren  Boden  sich  die  marinen  Sande 
absetzten,  so  könnten  auch  in  obermiocäner  Zeit  auf  dem  nun  Festland 
gewordenen  Gebiete   zwischen   den  Kuppen  seichte  Süfswasserbecken  und 

^    Das  vulcanische  Ries.     S.  105,  Fig.  10  und  11. 

*  Vergl.  Erläuterungen  zu  Blatt  Heidenheim  der  wurttembei^chen  geologischen 
Specialkarte  S.  13. 


Das  fyukanische  Vorries.  67 

Tümpel  entstanden  sein.  Auf  deren  Boden,  also  nur  am  Fufse  der  Kuppen, 
hätten  sich  die  Süfs  wasserkalke  gebildet.  Auch  diese  Erklärung  klingt 
gezwungen. 

In  beiden  Fällen  war  die  stillschweigende  Voraussetzung  die,  dafe  der 
Weils-Jura-Gries  anstehend  sei.  Wollte  man  davon  absehen,  so  könnte 
man  als  dritte  Erklärung  die  geben,  dafs  diese  vergriesten  Kuppen  gar 
nicht  anstehend  seien,  sondern  nur  in  Form  überschobener  Klippen  auf 
dem  Söls wasserkalke  lägen.  Dann  wäre  dieser  Gries  im  Vorriese  sicher 
jünger  als  der  Süüswasserkalk ,  verhielte  sich  also  umgekehrt  wie  im  Riese. 

Das  ist  nun  aber  von  vom  herein  nicht  wahrscheinlich.  Auch  ist 
es  nicht  recht  wahrscheinlich,  dafs  gerade  im  Vorriese  so  viele  und  grofse 
vergrieste  Weife -Jura -Klippen  überschoben  sein  sollten;  denn  im  Vorriese 
fehlt  nicht  nur  die  vorhergehende  Bildung  eines  Berges,  von  welchem 
diese  Klippen  bei  der  grofsen  Explosion  hätten  abfahren  können,  sondern 
es  fehlt  auch  die  Bildung  eines  Einsturzkessels,  in  dessen  zertrümmertem 
Boden  die  Schollen  in  der  verschiedensten  Weise  dislocirt  wurden  und  da- 
durch  zum  Theil  auch  Überschiebungen  und  Abrutschungen  erlitten. 

Da  natürliche  Aufschlüsse  mangeln,  so  ergab  sich  die  Noth wendigkeit 
des  Versuches,  durch  künstliche  Aufschlüsse  festzustellen,  ob,  wie  im  Riese, 
so  auch  im  Vorriese  der  Weife -Jura -Gries  Slter  ist  als  der  obermiocäne 
Süfewasserkalk  oder  jünger.  Hr.  Dr.  von  Knebel  hatte  daher  freundlichst 
die  Aufgabe  übernommen,  Schürfungen  vornehmen  zu  lassen,  durch  welche 
das  gegenseitige  Lagerungsverhältnife  zwischen  Weife -Jura -Gries  und  Süfe- 
wasserkalk ,  wenn  möglich ,  endgültig  festgestellt  würde.  Leider  haben  die 
diesjährigen  Untersuchungen  noch  kein  völlig  unzweideutiges  Ergebnife 
geliefert  insofern,  als  die  directe  Überlagerung  des  Einen  durch  das  Andere 
aufgedeckt  worden  wäre. 

Immerhin  ergaben  sich  doch  die  folgenden  Anhaltspunkte  fOr  die  Ent- 
scheidung dieser  Frage.' 

Es  fand  sich  zunächst,  dafe  am  Michaelsberg  bei  Dischingen  der  ober- 
miocäne Planorbis-  und  Helix-Kalk  zum  Theil  aus  Gries  hervorgegangen 
ist,  da  er,  zumal  in  seinen  unteren  Lagern,  zahlreiche  eckige  Bruchstücke 
von  oberem  Weife -Jura  umsehliefst.  Das  deutet  ganz  entschieden  auf  ein 
höheres  Alter  des  Grieses,  falls  man  nicht  etwa  zu  dem  Einwände  greifen 


'    Veif;!.  von  Knebel  in  Zeitsciirift  der  Deutsohen  Qeolog.  Ges.  1903,  Heft  i. 

9* 


68  Branco: 

wollte,  diese  eckigen  Stücke  stammten  nicht  vom  Griese,  sondern  seien 
durch  ganz  normale  Verwitterung  vom  Weife -Jura -Kalk  abgesprengt.  Der 
Augenschein  der  Stücke  spricht  jedoch  entschieden  gegen  eine  solche 
Auslegung. 

Eine  im  Süfswasserkalk  angesetzte  Grabung  erreichte  leider  nicht  das 
anstehende  Liegende  desselben,  auf  welches  es  abgesehen  war,  also  den 
Gries.  Sie  stiefs  und  endete  aber  immerhin  auf  einen  grollsen  Block  von 
Weifs-Jura-Gries.  Dieser  Block  mufste  folglich  entweder  in  dem  Süfe- 
wasserkalke  liegen ,  was  von  Knebel  wahrscheinlicher  erschien,  oder  bereits 
der  Vorbote  des  liegenden  Grieses  sein. 

Eine  andere  Grabung,  welche  in  der  dicht  neben  dem  Süfewasser- 
kalk  liegenden  Bunten  Breccie  angesetzt  war,  erreichte  in  2?6o  Tiefe  noch 
nicht  deren  Liegendes. 

Eine  dritte  Grabung,  im  Weife -Jura- Griese  am  Armenhause  bei  Di- 
schingen  angesetzt,  durchstiefe  mit  3?6o  Tiefe  den  Gries,  imd  traf  auf 
den  feinen  Sand,  unter  welchem  dann  der  grobe  Meeressand  liegt. 

Alter  und  Herkunft  dieses  feinen  Sandes  sind  durch  Versteinerungen 
nicht  festzustellen.  Sehr  wahrscheinlich  ist  aber  doch  die  Annahme,  dafs 
derselbe  ebenfalls  noch  mariner  Entstehung  ist,  also  auch  noch  dem  mitt- 
leren Miocän  angehört.  Die  ganz  ähnlichen  feinen  Sande,  welche  westlich 
von  Donauwörth  auf  der  Allee  liegen,  hat  von  Gümbel  jedenfalls  als 
marin  bezeichnet.  Denkbar  wäre  es  freilich,  dafe  dieser  feine  Sand  bei 
Dischingen  durch  eine  zu  jung  miocäner  Festlandszeit  erfolgte  Umarbeitimg 
des  marinen  Sandes  entstanden  sein  könnte;  indessen  das  Fehlen  der  sonst 
so  häufigen,  obermiocänen  Schnecken  in  dem  Sande  wäre  dann  doch  höchst 
aufißlllig.  Ein  solches  Fehlen  würde  sich  anstandslos  nur  erklären  lassen 
in  dem  Falle,  dafe  der  Sand  eine  Dünenbildung  wäre.  Indessen  die  deut- 
liche Schichtung  desselben  macht  eine  solche  Auslegung  unmöglich.  Man 
wird  daher  auch  den  feinen  Sand  nocli  als  eine  marine  mittelmiocäne 
Bildung  ansehen  müssen. 

Es  wäre  mithin  am  Armenhause  bei  Dischingen  mariner,  d.  h.  mittel- 
miocäner  Sand  unter  dem  Weife -Jura- Griese  erschürft.  Damit  aber  ist  die 
Alters -Beziehung  des  Grieses  zum  marinen  Sande  noch  nicht  völlig  ein- 
wandsfrei  entschieden.  Liegt  nämlich  der  Gries  thatsächlich  auf  dem  Sande, 
wie  es  nach  der  Schürfung  erscheint,  so  haben  wir  nicht  anstehenden  Gries, 
sondern  eine,  wenn  auch  wohl  nur  wenig  dislocirte  Griesklippe  vor  uns. 


Das  vulcanische  Vorries.  69 

die  bei  der  grofsen  Explosion  auf  den  Sand  geschoben,  bez.  geworfen  ist.^ 
Die  Vergriesung  w8xe  somit  nach  der  mittelmiocänen  Zeit  erfolgt. 

Aber  das  Loch  wurde  nur  6"  vom  Rande  der  Griesmasse  angesetzt, 
weil  in  weiterer  Entfernung  von  demselben  eine  zu  gro&e  Mächtigkeit  zu 
durchteufen  gewesen  wftre.  Es  ist  daher  die  andere  Möglichkeit  immer 
noch  nicht  völlig  ausgeschlossen,  dafs  der  vergrieste  Weifs-Jura  hier  ganz 
normal  anstehen  und  der  marine  Sand  nur  an  denselben  angelagert  sein 
könnte ,  in  der  Weise ,  dafs  der  Sand  unter  einer  gesimsartigen  Hervor- 
ragung des  Ersteren  zur  Ablagerung  gelangt  w&re.  In  diesem  Falle  wäre 
es  unentschieden,  ob  die  Vergriesung  dieses  Felsens  bereits  eingetreten 
war,  bevor  der  Sand  an  denselben  angelagert  wurde,  oder  ob  sie  erst 
nachher  erfolgte. 

Nach  dem  Gesagten  haben  die  Ergebnisse  der  durch  von  Knebel 
ausgeführten  Grabungen  zwar  bisher  noch  nicht  zu  dem  angestrebten  Er- 
gebnisse geführt,  den  Weils-Jura-Gries  direct  unter  dem  Suis  wasserkalk 
zu  erschürfen.  Aber  das  Wahrscheinlichere  dürfte  eine  solche  Lagerung 
doch  wohl  sein,  wie^  des  weiteren  noch  aus  einem  von  von  Knebel  her- 
vorgehobenen Grunde  hervorgeht.  Der  Süfswasserkalk  flihrt  zahlreiche 
Schnecken,  deren  zarte  Schalen  völlig  unverletzt  erhalten  sind.  Wäre  die 
Vergriesung  des  Weils- Jura -Kalkes  —  gleichviel,  ob  sie  durch  Explosion 
oder  durch  Gebirgsdruck  erfolgte  —  erst  nach  Bildung  des  Sülswasser- 
kalkes  entstanden ,  so  wäre  letzterer  in  Mitleidenschaft  gezogen  und  seine 
Schalen  wären  zertrünmiert  worden. 

Spätere  Grabungen  werden  hoffentlich  zu  einem  völlig  entscheidenden 
Ergebnisse  fahren. 

^  Denn  eine  lediglich  in  Folge  ihrer  Schwere  am  Geh&nge  etwas  abgerutschte  Scholle 
scheint  hier  nicht  vorzuliegen. 

*  Auch  Ro liier  ist  in  seinen  Untersuchungen  Ober  das  Alter  der  Sylvanakalke  zu 
dieser  Ansicht  gelangt,  dafs  der  jüngere  Süfswasserkalk  über  dem  Griese  liegt.  Kollier 
(Sur  l'ftge  des  calcaires  a  Helix  sylvana.  Bulletin  soc.  g^olog.  France,  4«s^rie,  t.  2,  T902, 
p.  378.  Daselbst  ist  auch  die  weitere  neuere  Litteratur  von  Miller  und  Koken  citirt.) 
hebt  hervor,  dafs  diese  »sogenannten  Sylvanakalke«  des  Hegau,  Randen  etc.  allerdings  auf 
der  mittelmiocänen  Meeresmolasse  mit  Ostrea  crassissima  liegen  und  dem  Obermiocän  an- 
gehören ;  aber  er  machte  geltend ,  dafs  auch  noch  ältere  Süfswasserkalke  mit  Helix  sylvana 
existirten.  Nur  von  jenem  jüngeren  Sylvanakalke  soll  also  das  Gesagte  gelten.  Auch  Koken 
läfst  Helix  sylvana  schon  vor  der  obermiocänen  Zeit  auftreten.  Miller  dagegen,  der  sehr 
genaue  Kenner  der  schwäbischen  Tertiär -Fauna,  verneint  das  entschieden. 


70  Branco: 


m.  Gegenwärtiger  Grad  der  Übereinstmmiung  der  beider- 
seitigen Erklärungsversuche  der  Riesphänomene. 

Wenige  Tage  nach  dem  Vortrage  des  Vorstehenden*  und  Fertigstellung 
des  Manuscriptes  erschien  eine  neue  Arbeit  von  Koken*,  in  welcher  einer- 
seits die  Auflagerung  des  Braun -Jura  auf  den  Weifs-Jura  vom  Buchberge, 
andererseits  das  mannigfache  Vorhandensein  von  Überschiebungen  im  Riese 
anerkannt  werden. 

Wenn  von  zwei  verschiedenen  Standpunkten  aus  an  der  Lösung  einer 
Aufgabe  gearbeitet  wird,  so  ist  natürlich  ungünstig,  wenn  die  beiderseitigen 
Arbeiten  sich  kreuzen.  Dieser  Fall  war  hier  bereits  einmal  eingetreten.  Es 
schien  uns  daher  jetzt  nothwendig,  den  Druck  unserer  Arbeit  zurückzustellen, 
um  ihr  diesen  vorliegenden  Abschnitt  noch  einfugen  zu  können,  in  welchem 
mit  Rücksichtnahme  auf  Koken 's  neueste  Arbeit  der  gegenwärtige  Stand  der 
Übereinstimmung  wie  des  Auseinandergehens  der  beiderseitigen  Anschau- 
ungen dargelegt  werden  soll. 

Für  die  der  Sache  Fernerstehenden ,  welche  einen  Überblick  über  diese 
Fragen  erlangen  wollen,  dürfte  dies  sogar  eine  Nothwendigkeit  sein.  Un- 
vermeidlich ist  es  freilich ,  dafs  in  einer  solchen  Darlegung  Wiederholungen 
sich  nicht  völlig  umgehen  lassen. 

Wir  müssen  dem  jedoch  ein  Wort  der  Abwehr  vorausschicken.  Unser 
verehrter  College  beginnt  seine  neueste  Arbeit  mit  den  Worten',  dafe  er  ȟber 
die  Form  der  neueren  (d.  h.  unserer)  Untersuchungen  im  Ries  hinwegzusehen« 
bereit  sei.    Die  in  diesen  Worten  liegende  absprechende  Kritik  der  Form 

unserer  Arbeiten  sind  wir  gezwungen  als  eine  gänzlich  ungerechtfertigte  zu- 

.« 

rückzuweisen.  Weder  die  Überschätzung  der  eigenen  Ansicht,  mit  welcher 
gleich  im  Beginne  der  beiderseitigen  Untersuchungen  unsere,  nun  doch  als 
richtig  erwiesene  Auffassung  der  Lagerungsverhältnisse  als  »Rückschritt« 
proclamirt  wurde,  noch  die  bisweilen  spöttelnde  und  gereizte  Schreibweise* 
haben  in  unseren  Arbeiten  ein  Echo  gefunden. 

^    31.  Juni  1903.    Sitzungsberichte  dieser  Akademie  1902.  S.  927. 
*    Geologische  Studien  im  frankischen  Ries.   Zweite  Folge.   Neues  Jahrb.  f.  Min.,  OeoL, 
Paläont    Beilage  Bd.  XV  S.  422—472. 
'    A.  a.  O.  S.  423. 
^   Z.  B.  Neues  Jahrb.  für  Min.,  QeoL,  Paläont  1901.    S.  128. 


Das  vukanische  Vorries.  71 

Sie  haben  uns  aber  selbstverständlich  gezwungen,  deutlich  hervorzu- 
lieben,  dafs  die  von  uns  vertretene  Auffassung  der  Lagerung  am  Buchberg, 
von  dem  Vorhandensein  von  Überschiebungen  und  vom  Alter  der  eine  so 
grofse  Rolle  spielenden  Buchberg -Grerölle  in  der  That  die  richtige  ist.  Wenn 
unser  verehrter  College  dem  gegenüber  nun  wieder  tadelnd  bemerkt,  es  sei 
den  Fachgenossen  doch  gewifs  gleichgültig,  ob  Koken  oder  wir  recht  be- 
hielten ,  so  müssen  wir  auch  hier  zur  Abwehr  bemerken ,  dafe  wir  nicht  von 
ihm  und  von  uns ,  sondern  stets  nur  von  seinem  oder  unserem  Erklärungs- 
versuche, seiner  oder  unserer  Meinung,  Auffassung  und  Deutung  gesprochen 
haben,  selbstverständlich  aber  auch  weiter  so  zu  sprechen  gezwungen  sein 
werden ,  um  die  beiden  sich  gegenüberstehenden  Anschauungen  für  den  Leser 
zu  kennzeichnen. 

Wir  wollen  zuerst  die  Punkte  der  Übereinstimmung,  dann  die  des  Aus- 
einandergehens der  Ansichten  darlegen. 

A.  Übereinstimmendes  der  beiderseitigen  Anschannngen. 

I.  Vor  Beginn  der  Riesbildung  hatte  bereits  eine  starke  Erosion  in 
diesem  Gebiete  stattgeftmden.' 

Beide  Theile  werden  zu  dieser  Annahme  darum  gedrängt,  weil  bei  dem 
gewaltigen,  25^"  betragenden  Durchmesser  des  Rieskessels,  ebenso  far  die 
glaciale  wie  f&r  die  rein  vulcanische  Erklärungs weise  der  Riesbildung,  sich 
die  grofse  Schwierigkeit  ergiebt,  die  Beseitigung  so  enormer  Massen  von 

Schichtgesteinen  der  Keuper-  und  Juraformation   zu  erklären.     Unmöglich 

.. 

können  solche  Massen  durch  die  eine,  zudem  enge  Öffnung  des  Wömitz- 
Thales  aus  dem  Kessel  hinausgeschafft  sein.  Nimmt  man  dagegen  an,  dafs 
ein  centrales,  gro&es  Erosionsgebiet  im  Ries  bereits  vor  Beginn  der  vul- 
canischen  Eruptionen  ausgearbeitet  gewesen  sei,  so  brauchen  beide  Theile 
nur  die  Beseitigung  der  peripherisch  gelegenen  Theile  des  heutigen  Ries- 
kessels durch  ihre  Hypothese  zu  erklären,  was  für  jeden  derselben  die  Er- 
klärung ungemein  erleichtert. 

Ganz  davon  abgesehen  aber  föliren  wir^  auch  als  sicheren  Beweis  für 
das  thatsächliche  Vorhandensein  eines  vormiocänen,  grofsen  Erosionsgebietes, 
wenigstens  im  nördlichen  und  nordwestlichen  Theile  des  Rieses,  die  Lagerung 

^   Koken,  a.  a.  O.  S.  426. 

*   Das  vulcanische  Ries.  S.  43,  59,  95. 


72  Brango: 

der  überschobenen,  aus  Mittlerem  oder  Oberem  Weifs- Jura  bestehenden  Klip- 
pen direct  auf  Unteren  oder  Oberen  Braun -Jura  an.  Es  mWs,  wenn  eine 
solche  Überschiebung  auf  Braun -Jura -Gelände  an  allen  diesen  Orten  möglich 
sein  sollte,  natürlich  dort  der  Weifs -Jura  bereits  ganz  und  auch  der  Braun- 
Jura  schon  zum  Theil  durch  Erosion  entfernt  gewesen  sein,  als  die  Über- 
schiebungen erfolgten.  Dals  freilich  diese  Erosion  damals  bereits  tief  in  das 
Innere  des  heutigen  Rieskessels  sich  hineingefiressen  hatte,  und  bis  wie  weit 
sich  das  erstreckte,  wird  dadurch  nicht  klargestellt. 

Wer  eine  solche  bis  in  das  Herz  des  Rieskessels  ausgedehnte,  prä- 
miocäne  Erosion  nicht  annehmen  wollte,  der  würde  noth wendig  zu  der  An- 
nahme gedrängt,  das  Ries  sei  lediglich  ein  ungeheures  Maar.  Es  sei  also 
das  ganze,  heut  vom  Rieskessel  eingenommene  Riesgebiet  von  25^  Durch- 
messer in  die  Luft  geflogen  und  zerschmettert  und  liege  nun  auf  dem  Boden 
des  Rieskessels,  bedeckt  und  den  Augen  entzogen  durch  diluviale  und  tertiäre 
Sedimente. 

Eine  solche  Annahme  aber  trifft  auf  die  sehr  gro&e  Schwierigkeit,  dafs 
doch  die  nothwendigen  feinen  Producte  einer  solchen  Zerschmetterung  und 
Zerstäubung  der  Sedimentärgebilde  weder  im  Innern  des  Rieses  noch  in 
seiner  Umgebung  irgendwo  sichtbar  sind.  Man  findet  ganz  im  Gegentheil 
nur  grofee  bis  riesige  Schollen  und  Fetzen  von  Sedimentgesteinen. 

2.  Beide  Theile  sind  ferner  darin  einig,  dafs  zuerst  eine  AuQ)ressung, 
also  Emporwölbung  des  betreffenden  Riesgebietes  zu  einem  Riesberge,  und 
dann  ein  Einsturz  desselben  erfolgt  sind. 

Die  zahlreichen  Gründe,  welche  für  die  Aufpressung  sprechen,  haben 
wir  schon  in  unserer  ersten  Arbeit  erörtert'  und  in  dieser  vorliegenden 
(S.  19,  49)  erweitert. 

3.  Auch  in  der  Art  und  Weise,  wie  beide  Theile  sich  den  Vorgang 
der  Hebung  vorstellen,  herrscht  Übereinstimmung. 

Nach  Koken^  äufserte  sich  die  Au^ressung  so,  »dafs  die  nur  langsam 
das  Übergewicht  gewinnende  vulcanische  Spannung,  die  sich  zunächst  in 
Hebung  und  AuQ)ressung  versuchte,  das  Material  des  Deckgebirges  nicht 
zerschmetterte  und  zerstäubte,  sondern  in  gröfsere  Schollen  zerlegte,  welche 
in  buntester  Weise  dislocirt  wurden « . 


^   Das  vulcanische  Ries.  S.  45 — 60. 
*   A.  a.  O.  S.  426. 


Das  vukanische  Vorries.  73 

Gan2  ebenso  haben  wir  den  Vorgang  gedacht;  eine  Meinungsverschie- 
denheit findet  also  lediglich  darin  statt,  da(s  wir  die  Aufpressung  durch  einen 
Laccolith  zu  erklären  suchen,  während  Koken  »vulcanische  Spannung«  an 
Stelle  dessen  setzt.  Es  scheint  aber  doch,  dafs  das  nur  ein  Streiten  um 
Worte  sei,  während  in  der  Sache  selbst  beide  Theile  ganz  derselben  Ansicht 
sein  dürften. 

Für  dieses  von  uns  gewählte  Wort  machen  wir  das  Folgende  geltend: 

Wir  kennen  bei  vulcanischen  Vorgängen  nur  entweder  plötzliche  Auf- 
pressung, die  durch  Explosion  von  Gasen  entsteht,  oder  langsame,  die 
durch  Laccolithe  entsteht. 

Laccolithe  sind  femer  die  einzige  Form ,  unter  welcher  die  heutige  Geo- 
logie überhaupt  dem  Vulcanismus  die  Kraft  zuzugestehen  geneigt  ist,  das 
Deckgebirge  langsam  emporzupressen.  Dem  extrusiv  werdenden  Schmelz- 
flüsse, also  den  eigentlichen  Vulcanen  gegenüber  verhält  sie  sich  in  dieser 
Beziehung  durchaus  ablehnend,  spricht  ihnen  eine  solche  Kraft  durchaus  ab. 
Wer  also  eine  langsame  Aufpressung  durch  vulcanische  Kräfte  im  Riese  an- 
nimmt, der  sagt  damit  indirect,  dais  er  einen  Laccolith  im  Sinne  habe. 

Wer  jedoch  diese  Au^ressung  als  Folge  tektonischer  Vorgänge  betrachten 
wollte ,  die  gar  nicht  mit  dem  Vulcanismus  in  Beziehung  ständen ,  der  würde 
wohl  hierbei  nur  das  zwischen  Alb  und  Alpen  abgesunkene  Gebiet  im  Auge 
haben  können.  Diese  von  W.  nach  0.  langgestreckte  Scholle  würde  in  der 
That  durch  ihren  Druck  unter  Umständen  an  ihrem  nördlichen  Rande  nach 
N.  hin  gleitende  Übei*schiebungen  hervorgerufen  haben  können  (S.  36).  Aber 
sie  würde  nicht  die  von  N.  nach  S.  langgestreckte,  schmale  Au^ressungszone 
der  Granite  im  Vomese  (S.  39)  und  das  kreisälmliche  Aufpressungsgebiet  im 
Riese  erzeugt  haben  (S.  39). 

4.  Über  den  später  erfolgten  Einsturz  bez.  das  Absinken  des  RieskesseLs 
sind  wiederum  beide  Theile  derselben  Auffassung,  dafs  dieser  Vorgang  lange 
Zeit*  andauerte  und  in  seinen  letzten  Nach  wehen  sogar  bis  in  die  neuere 
Zeit  hinein  bemerkbar  war^  dafs  aber  in  diluvialer  2^it  der  Kessel  bereite 
ungefähr  ähnlich  ti^f  war  wie  heute.^ 

Koken  hat  allerdings  einmal  in  einer  seiner  Arbeiten  die  gegentheilige 
Ansicht  geäufsert,  dafs  der  Riesberg  noch  in  diluvialer  Zeit  bestanden  habe, 

'   Das  vulcanische  Ries.  S.  114. 

*  Koken,  a.a.O.  S. 443. 

*  Koken,  a.a.O.  S. 443. 

Phys.Ahh.   1902.   L  10 


74  Branco: 

von  dem  aus  dann  die  Gletscher  auf  die  umgebende  Alb  h erabgeflossen  wären. 
Indessen  in  einer  vorhergehenden  Arbeit  war  er  zu  der  entgegengesetzten 
Überzeugung  gelangt,  dafs  der  Rieskessel  zu  diluvialer  Zeit  doch  im  Grofsen 
und  Ganzen  bereits  in  seiner  heutigen  Tiefe  bestanden  habe;  und  auch  in 
einer  späteren  Arbeit  hat  er  derselben  Ansicht  Ausdruck  gegeben.  Auch  wir 
haben  ^  angeführt,  dafs  das  Vorhandensein  einer  von  prähistorischen  Menschen 
bewohnten  Grotte  in  der  Offenet  fiir  eine  solche  AufiTassung  spreche. 

Ob  freilich  Koken  in  seiner  neuesten  Arbeit*  nicht  doch  wieder  eine 
andere  Ansieht  vertreten  will,  läfst  sich  nicht  klar  erkennen.  Er  sagt,  »dafs 
in  nachmiocäner  Zeit  eine  nicht  unbeträchtliche  Vertiefung  des  Riesbodens 
stattgefunden  hat«.  Da  aber  nach  der  miocänen  Zeit  erst  die  pliocäne  ver- 
lief, bevor  die  diluviale  herankam,  so  ist  jener  Ausdruck  »nachmiocän« 
mehrdeutig. 

Wenn  nun  aber  vom  glacialen  Standpunkte  aus  ein  drei-  bez.  gar 
viermaliger  Wechsel  der  Ansicht  über  die  Gestaltung  des  Rieses  zu  diluvialer 
Zeit  uöthig  wurde  —  so  spricht  diese  Thatsache  doch  deutlich  dafür,  dafs 
der  glaciale  Standpunkt  den  Riesphänomenen  gegenüber  ein  sehr  unsicherer 
sein  mufs. 

5.  In  gleicher  Weise  betrachten  beide  Theile*  das  Vorries  als  ein  selb- 
ständiges Aufbruchsgebiet,  welches  sich  gen  NO.  bis  über  die  Wörnitz  hin 
ausdehnt.*  Die  liparitischen  und  granitischen  Explosionsproducte,  dieKeuper- 
imd  Jura-Massen  des  Vorrieses  sind  also  nach  beiderseitiger  Auffassung  nicht 
etwa  vom  Riese  aus  dorthin  geschoben  bez.  geworfen,  sondern  sie  sind  im 
Vorriese  in  die  Höhe  gefördert.  Gewisse  Einwürfe,  welche  Koken  in  einer 
früheren  Arbeit  gegen  uns  geltend  machte,  beruhten  auf  der  irrthümlichen 
Annahme,  wir  hielten  diese  Vorriesmassen  für  vom  Riese  dorthin  überschoben. 
Das  ist  und  war  aber  nicht  von  uns  gesagt  worden ,  jene  Einwüi-fe  sind  somit 
erledigt. 

6.  Auch  darin  herrscht  Übereinstimmung,  dafs  Explosionen  bei  den 
fraglichen  Ereignissen  eine  grofse  Rolle  gespielt  haben. 

Demgegenüber  erscheint  es  hierbei  mehr  nebensächlich,  dafs  wir  an 
einen  gesonderten  Act,  eine  einzige,  gewaltige  Explosion  denken,  welche 

'  Das  vulcanische  Ries.   S.  115. 

•  A.  a.  O.  S.  445. 

*  Das  vulcanische  Ries.  S.  94. 
^  Koken,  a.  a.  O.  S. 440. 


Das  mUoamsche  Vorries.  75 

mit  den  Explosionen  der  vulcanischen  Tuffe  nichts  giemein  hatte ,  wenn- 
gleich die  Gase  auch  hei  ihr  an  verschiedenen  Stellen  herausbrachen,  in 
deren  N&he  dann  die  Zerstörung  besonders  stark  war.  Oder  ob  Koken 
sich  eine  Anzahl  einzelner,  kleiner  vulcanischer  Centren  und  Ausbruchs- 
gebiete vorstellt',  unter  welchen  er  die  liparitischen  Tufferuptionen  im 
Auge  zu  haben  scheint. 

Als  f&r  unsere  Ansicht  sprechend  glauben  wir  betonen  zu  dürfen ,  dals 
die  relativ  kleinen  vulcanischen  Eruptionen,  welche  die  liparitischen  Tuffe 
und  Schlacken  lieferten,  schwerUch  die  Ursache  dieser  gewaltigen  Zer^ 
schmetterungen  (Griesbildung) ,  Verrutschungen  und  der  grolsen  Überschie- 
bungen im  Riese  sein  konnten ,  sondern  dals  sie  zurückgeführt  werden  müssen 
auf  die  vereinigte  Wirkung  dreier  Dinge:  Einer  ganz  gewaltigen  Explosion 
von  Gasen,  einer  vorhergehenden  Bergbildung  und  einer  Schichtenfolge,  bei 
welcher  harte  Kalke  auf  einer  Unterlage  von  mächtigen  Thonmassen  (Keuper, 
Lias,  Braun-Jura,  Unterer  Weifs- Jura)  lagerten.  Der  Umstand,  dals  nicht 
nur  Fetzen  von  bereits  verfestigter  Weife- Jura- Breccie  (Gries)  im  vulcani- 
schen Tuffe  eingeschlossen^  liegen,  sondern  dafs  auch  Fetzen  von  Keuper^ 
und  Jura-Thon  im  mittelmiocänen  Meeressande'  eingebettet  sind,  scheint 
ebenfalls  dafar  zu  sprechen,  dafs  diese  Breccien  schon  vorher  durch  eine 
grolse  Explosion,  nicht  aber  erst  spftter  durch  die  kleinen  Tuffausbrüche 
entstanden  sind. 

7.  Des  weiteren  stimmen  beide  AuflFassungen  jetzt  wohl  darin  überein, 
dals  die  Braun -Jura -Scholle  des  Buehberges  nicht  aufgeprefst  ist,  sondern 
wirklich  den  Weils-Jura  überlagert. 

8.  Ebenso  findet  nun  Übereinstimmung  statt  in  der  Erkenntnils ,  dafs 
wirklich  Überschiebungen  vorliegen;  dafs  dieselben  eine  Folge  der  Auf- 
pressung und  der  Explosion  waren;  und  dafs  bei  der  Zertrümmerung  des 
Bodens  des  Rieskessels  in  einzelne  Schollen  diese  letzteren  in  buntester 
Weise  dislociert  werden  mufsten. 

Von  »Verrutschimgen«  in  Folge  dieser  AuQ>ressung  spricht  somit 
Koken*  jetzt  ganz  ebenso  wie  wir.  Ebenso  von  Überschiebungen:  »Im 
Süden  des  Rieses  sind  die  Überschiebungen  der  aufgeprefsten  Schollen  eine 


*  A.  a.  O.  S.  436. 

*  S.79. 
»   S.80. 

^   A.  a.  O.  S.  429. 

10* 


76  Brango: 

oft  beobachtete  Erscheinung.«*  Auch  die  Überschiebungen  der  Weife -Jura- 
Klippen  bei  Dirgenheim  u.  s.w.  werden  anerkannt^  und  nur  gesagt,  dafe 
diese  Klippen  nicht  aus  dem  »inneren«  Riese  herrühren,  was  übrigens 
von  uns  nicht  behauptet  worden  ist.  Auch  darin  findet  Übereinstinunung 
statt,   dafe  nun   gesagt  wird^,    »Hebxuig    setzte    sich  in  Seitenschub  um, 

darüber  ist  kein  Zweifel« ,   »und  bei  Grofe-Sorheim«   geht  die  Aufpressung 

**  . 

in   eine  mit  Faltung  und  Verwerfung  verbundene  Überschiebung  über.  « 

Eine  Abschwächung  dieser  erfreulichen  Übereinstimmimg  könnte  in 
dem  Folgenden  gefunden  werden:  »Bedeutende  Horizontalverschiebungen 
sind  freilich,  aber  wohl  nur  scheinbar,  nirgends  nachweisbar«.^  »Immer 
haben  wir  (bei  den  überschobenen  Schollen)  an  einer  Seite  gebundene 
Schichtenfolge ,  an  der  anderen  in  Folge  einer  Verkippung  oder  Drehung 
Verwerfung.«®  Koken  will  damit  also  sagen,  dafe  diese  SchoUen  nicht 
weit  über  andere  hinüber  geschoben  seien. 

Einmal  dürfte  es  indessen  doch  schwer  sein,  die  Länge  des  Weges 
genau  festzustellen,  den  die  verschiedenen  überschobenen  Schollen,  die 
hier  gemeint  sind ,  zurückgelegt  haben ,  und  zweitens  wäre  das  auch  neben- 
sächlich ;  denn  eine  Überschiebung  bliebe  natürlich  eine  solche ,  auch  wenn 
der  Betrag  derselben  kein  grofeer  wäre.^ 

Wir  bestreiten  übrigens  durchaus  nicht,  dafe  in  dem  zertrümmerten 
Rieskesselboden  einzelne  Schollen  nur  in  Folge  von  Kippung  oder  Drehung 

^  A.  a.  O.  8. 469. 

'  A.  a.  O.  S.  436. 

'  A.  a.  0.  S.  432. 

^  Vergl.  auch  S.  432  und  457. 

*  A.  a.  O.  S.  434. 

•  A.  a.  O.  S.  435. 

^  Die  berühmte  Lausitzer  Überschiebung  besitzt,  wie  ich  der  liebenswürdigen  Mit- 
theiiung  des  Hrn.  H.  Crsdnsr  verdanke,  in  dem  Gebiete  Königstein,  Lilienstein,  Hohnstein, 
entsprechend  der  Mächtigkeit  des  Quadei's  daselbst,  eine  Höhe  von  400 — 450"*.  Weiter  im 
Osten,  bei  Zittau,  hat  die  dort  recht  steile  Überschiebung  eine  Höhe  von  nur  noch  280 
bis  300°*.  Nimmt  man  nun  ein  rechtwinklig  gleichschenkliges  Dreieck  an ,  dessen  Hypotenuse 
die  Uberschiebungsfläche  wäre,  was  folglich  eine  Neigung  der  letzteren  von  45®  bedingt,  und 
rechnet  man  die  Höhe  zu  ungefthr  300",  so  wäre  die  Länge,  welche  die  Uberschiebungsmasse 
zurücklegte,  ungefähr  rund  424™.  Das  ist  wahrlich  ein  winziger  Weg  gegenüber  den  gewal- 
tigen  Strecken,  welche  die  später  immer  zahlreicher  als  solche  erkannten  Überschiebungen 
zurücklegten;  und  doch  wird  jene  ältest  bekannte  Lausitzer  Überschiebung,  die  bekanntlich 
auf  eine  Erstreckung  von  170  km  sich  vollzogen  liat,  natürlich  stets  als  eine  echte  Über- 
schiebung gelten. 


Das  pulcanische  Vorries.  77 

ein  wenig  aus  ihrer  Lage  gerOckt  sind.  Das  kann  ja  kaum  anders  sein. 
Aber  abgesehen  von  solchen  findet  sich  eine  ganze  Anzahl  richtiger  Über- 
schiebungen. Zu  letzteren  gehört  unter  anderen  auch  die  stattliche^Reihe 
von  Weifs- Jura -Klippen,  die  auf  Braun -Jura  liegt  und  von  Dirgenheim 
im  N.  bis  zur  Eger  im  S.  sich  hinzieht.  Unmöglich  könnte  man  von  diesen 
sagen  wollen,  dafs  sie  auf  einer  Seite  die  vollständige  Schichtenreihe  bis 
hinab  zum  Niveau  ihrer  Braun -Jura -Unterlage  besitzen,  auf  der  anderen 
aber  nicht;  denn  das  ist  eben  nicht  der  Fall,  es  sind  vielmehr  ganz  richtige, 
überschobene  Klippen. 

9.  Sodann  zeigt  sich  Übereinstimmung  in  der  Auffassung,  dafs  die 
oben  auf  der  Hochfläche  der  Alb  auftretenden  Breccien  (Griese)  der  Weife- 
Jura -Kalke  im  Allgemeinen  anstehend  sind. 

Deffner  freilich  hatte  die  Vorstellung,  da6  die  oben  auf  der  Alb  auf- 
tretende Weife -Jura- Breccie  in  Form  von  Schutt  auf  diese  hinaufgeschoben, 
also  nicht  anstehend  sei.  Koken^  bekämpft  mit  Recht  diese  Auffassung. 
Doch  irrthümlicherweise  meint  er  weiter,  dafs  Deffner 's  Vorstellung  »vom 
miocänen  Juraschutt  uns  in  neuer  Gewandung  bei  Branco  entgegentritt«. 

Dem  ist  aber  nicht  so.  Wir  haben  ganz  im  Gegentheil  gesagt^,  dafe 
die  Griesmassen  oben  auf  der  Alb,  bis  auf  die  überschobenen  Klippen, 
anstehend  seien,  d.  h.  dafe  der  Kalk  nur  an  seiner  Oberfläche  vergriest 
sei.^  Es  hat  uns  daher  auch  durchaus  fem  gelegen,  die  ausgedehnten 
Griesmassen,  die  sich  oben  auf  der  Alb  »von  Grözingen,  Amerdingen  bis 
Giengen«  hinziehen  und  auch  an  anderen  Orten  erscheinen,  als  überschobenen 
Schutt  erklären  zu  wollen,  wie  Koken  das   irrthümlich  uns   zuschreibt.* 

Mit  vollster  Berechtigung  haben  wir  aber  von  dem  anstehenden  ver- 
griesten  Weife -Jura  die  überschobenen  Weife -Jura- Klippen  unterschieden, 
welche  ebenfalls  vergriest  sind.  Solche  finden  sich  in  unzweideutigster 
Weise,  Koken  erkennt  ja  selbst  an,  dafe  dieEÜppen,  die  sich  nördlich 
der  Eger  nahe  dem  Riesrande  gen  N.  hinziehen,  überschoben  sind;  diese 
aber  sind  mehr  oder  weniger  zerrüttet  bis  vergriest. 

Folglich  ist  unsere  Unterscheidung  von  anstehendem  Gries  und  über- 
schobenem  Gries  (letzteres   sind  die  Klippen)  völlig  berechtigt,  weil  den 


'  A.  11.0.  S.  457. 

*  Das  vulcanische  Ries.     8.  60 — 70. 
'  A.  a.  O.  S.  65  unten. 

*  A.  a.  0.  S.  457. 


78  Branco: 

Thatsachen  entsprechend.  Aber  damit  haben  wir  keineswegs  gesagt ,  da(s 
die  Vergriesung,  die  sich  so  ausgedehnt  oben  auf  der  Alb  zeigt,  von  uns 
im  Allgemeinen  als  aus  überschobenem  Schutte  im  Sinne  Deffner's  be- 
stehend erklärt  wird.  RoUier^  hat  unsere  Auffassung  auch  durchaus 
richtig  verstanden. 


B.   Punkte  mangelnder  übereinstimmang  der  beiderseitigen 

Anschaunngen. 

Wir  kommen  nun  zu  einer  Reihe  von  Punkten,  bei  denen  eine  "Über- 
einstimmung noch  mangelt.  So  sehr  verschieden  diese  Punkte  aber  auch 
erscheinen  mögen,  sie  zielen  in  letzter  Linie  doch  alle  ab  auf  die  eine 
Streitfrage:  Sind  die  gro&en  auf  dem  Weifs-Jura  liegenden  Braun -Jura- 
Massen  durch  Eis  oder  durch  vulcanische  Kraft  überschoben? 

I.  Bnchberg-GeröUe.  Nach  beiderseitiger  Auflassung  hat  man  in 
den  Buchberg- »Gerollen«,  wie  wir  sagen,  »Geschieben«,  wie  Koken  sie 
benennt,  eine  ursprünglich  im  Wasser  gebildete  Ablagerung  zu  sehen. 
Darin  herrscht  völlige  Übereinstimmung.  Gänzliche  Verschiedenheit  herrscht 
aber  bezüglich  der  Herkunft,  des  Alters  dieser  GeröUe  und  der  Ursache 
ihrer  Kritzung. 

Was  zunächst  die  Herkunft  anbetrifft,  so  leitet  Koken^  die  Buchberg- 
Gerölle  aus  dem  Rieskessel  ab.  Sie  sind  »nicht  eine  externe,  sondern  eine 
interne  Bildung  des  Riesbeckens«;  und  aus  diesem  lä&t  er  sie  auf  die  Alb 
durch  Eis  hinaufgeschoben  werden ,  wobei  sie  geglättet  und  gekritzt  wurden. 

Wir  dagegen  meinen  zunächst  einmal,  dafs  sie  offenbar  von  gewissen 
Weifs- Jura -Kalken  Frankens  herrühren.  Ihre  auffallende  Braunf&rbung 
dürfte  das  mit  Sicherheit  anzeigen,  denn  in  Scliwaben  führt  der  Weifs- 
Jura  wohl  nicht  solche  braunen  Kalke.  Nun  liegt  allerdings  das  Ries  an 
der  Grenze  zwischen  Schwaben  und  Franken,  und  es  könnte  daher  diese 
braune  fränkische  Facies  sehr  wohl  bereits  da,  wo  heute  das  Ries  liegt, 
ausgebildet  gewesen  sein. 

Allein  die  Buchberg -GeröUe  finden  sich  durchaus  nicht  nur  im  W.  und 
S.  des  Rieskessels  auf  der  Alb,  sondern  auch  im  0.  desselben.  Hier,  im  0. 
beginnt  aber  Franken  mit  diesen  seinen  braunen  Weils- Jura-Kalken;  und  von 


'    Bulletin  soc.  g6ol.  France  4^  s6r.  T.2, 1902.     S.  278. 
•    A.  a,  O.  S.  461. 


Das  tmloanische  Vorries,  79 

dorther,  nicht  aber  aus  dem  Riese,  scheinen  sie  uns  darum  hergekommen 
zu  sein.  Wenn  dem  so  ist,  dann  erklärt  es  sich  freilich  leicht,  dafs  sie 
auf  ihrem  Wege  gen  W.  dann  auch  über  das  Gebiet  des  heutigen  Rieskessels 
ausgebreitet  werden  mufsten,  als  dieser  (bis  auf  das  bereits  früher  vor- 
handen gewesene  Erosionsgebiet,  s.  Abschn.  VI,  3)  noch  nicht  bestand. 
Bei  den  späteren  Explosionen  in  diesem  Gebiete  sowie  bei  dem  Einstürze 
desselben   wurden  sie  dann  natürlich  auch  in  den  Kessel  hinabgesenkt. 

Viel  wichtiger  als  ihre  Herkunft  ist  die  Frage  nach  dem  Alter  ihrer 
Entstehung  und  nach  der  Zeit,  in  welcher  sie  gekritzt  wurden.  Koken 
giebt  ihnen  ein  obermiocftnes  Alter,  d.  h.  er  verlegt  ihre  erste  Entstehung 
als  Gerolle  in  die  Zeit  nach  der  Entstehung  des  Rieskessels,  der  Über- 
schiebungen ,  der  Rieseruption  und  der  Weüs-Jura-Breccien ;  und  ihre  Kritzung 
l&fet  er  in  diluvialer  Zeit  durch  das  Eis  geschehen. 

Wir  dagegen  meinen,  dafs  es  sich  hier  um  eine  Nagelfluh  ähnliche  Ab- 
lagerung handle,  welche  bereits  vor  der  Entstehung  des  Rieskessels  u.  s.  w. 
auf  der  Alb  ausgebreitet  war,  und  dafs  die  Kritzung  der  Gerolle  ebenfalls 
schon  vor  oder  bei  derselben  erfolgte.  Der  Beweis,  dafs  letztere  Ansicht 
die  richtige  ist,  wird  durch  einen  Fund  vonKnebel's  geliefert.  Als  Ein- 
schlufs  im  vulcanischen  Tuffe  von  Burgmagerbein  fand  derselbe  einen  4*° 
grofsen  Fetzen  von  Buchberg-GeröUen.  Um  jeden  Zweifel  darüber  zu  be- 
seitigen, ob  dieser  Fetzen  nicht  etwa  nachträglich  von  oben  her  auf  den 
Tuff  gestürzt  sei,  wurde  hier  gegraben.  Es  zeigte  sich,  dafs  er  im  Tuffe  lag 
und  dafe  die  am  äufseren  Rande  befindlichen  GeröUe  rothgebrannt  ^aren. 
Folglich  liegt  ein  echter  Einschluls  vor.  Die  Buchberg- GeröUe  müssen  also 
älter  sein  als  der  vulcanische  Ausbruch  an  diesem  Punkte;  und  da  alle 
diese  vulcanischen  Ausbrüche  wohl  gleichaltrig  und  zwar  älter  als  die  ober- 
miocänen  Süfswasserkalke  sind,  so  müssen  die  Buchberg -GeröUe  mehr  oder 
weniger  alter  sein  als  obermiocän. 

Aber  diese  Buchberg- GeröUe  im  vulcanischen  Tuffe  sind  auch  bereits 
ganz  ebenso  gekritzt,  wie  die  zahlreichen  übrigen  gekritzten  Buchberg- 
GeröUe  im  Riesgebiete  es  sind.  Nur  bei  den  am  äulseren  Rande  steckenden 
rothgebrannten  war  die  Kritzung  verschwunden.  Folglich  sind  die  Buch- 
berg-GeröUe  nicht  erst  in  diluvialer  Zeit,  und  aus  dem  Riese  heraus,  auf 
die  Albhochfläche  gelangt;  und  folgUch  ist  die  Kritzung  der  Buch- 
berg-Gerölle  zweifellos  nicht  in  diluvialer  Zeit,  d.  h.  nicht  durch 
Eis,  erfolgt,  sondern  schon  vor  der  obermiocänen  Zeit. 


80  Brango: 

von  Knebel  fand  dann  weiter,  da6  westlich  von  Donauwörth*  Fetzen 
von  in  Lehm  eingehüllten,  hier  nicht  gekritzten  Buchberg -GerOllen  auch 
in  den  obersten  Schichten  des  Meeressandes  liegen.  Die  Buchberg -GerOUe 
haben  daher  schon  zu  mittelmiocäner  Zeit  und  oben  auf  der  Alb  existirt! 

Wenn  aber  hervorgehoben  wird,  dafe  Stücke  von  Braun -Jura  und 
Granit  in  dem  GeröUsande  zusammen  mit  den  Buchberg- Gerollen  liegen, 
was  beweisend  sei  för  ihr  jüngeres,  obermiocanes  Alter,  so  erklären  sich 
diese  localen  Vorkommen  auf  die  Weise,  dals  jene  Stücke  durch  die  Über- 
schiebungen und  Explosionen  in  den  GeröUsand  hinein  gelangten.  Auf  ganz 
dieselbe  Weise  sind  ja  auch  im  Vorriese  Fetzen  von  Keuper  und  Jura  sowie 
von  Buchberg- Geröllmasse  in  den  mittelmiocSnen  marinen  Sand  gebettet 
worden. 

Wir  haben  die  Krit^sung  der  Buchberg- GeröUe  durch  den  Druck  er- 
klärt, welchen  die  über  sie  hinweg  geschobenen  Massen  auf  diese  ihre  Unter- 
lage ausübten.  Spöttelnd  wirft  uns  demgegenüber  Koken  ein:  »Unter  der 
Riesenwalze  wurden  sie  gekritzt.  Dieser  Mechanismus  bedürfte  wohl  einer 
ebenso  gründlichen  Erörterung,  wie  sie  dem  spukhaften  LaccoUthen  zu 
Theil  geworden  ist«. 

Wir  müssen  zugeben ,  dafs  wir  allerdings  diesen  Vorgang  nicht  so  ein- 
gehend erörtert  haben,  wie  das  unser  verehrter  College  hier  fordert.  In- 
dessen haben  wir  das  nur  darum  unterlassen,  weil  wir  der  Meinung  waren, 
es  werde  uns  der  Vorwurf  imnützer  Weitschweifigkeit  gemacht  werden ,  wenn 
wir  einen  Vorgang,  der  sich  so  von  selbst  versteht,  dafs  er  keiner  Erläu- 
terung bedarf,  dennoch  ausfiihrlich  erörtern  wollten. 

Die  Einwirkung  einer  schweren,  überschobenen  Masse  auf  das  unter- 
liegende Gestein  ist  eine  so  allgemein  bekannte,  so  häufig  beobachtete 
Thatsache,  da£s  wir  diese  krittelnde  Stellungnahme  unseres  verehrten  Col- 
legen  gegenüber  der  Möglichkeit  einer  solchen  auch  in  diesem  Falle  nicht 
verstehen.  Je  nach  der  Natur  des  liegenden  Gresteines  werden  natürlich 
die  Veränderungen  desselben  verschiedenartig  sein  müssen;  und  je  nach 
der  Zeit,  welche  seit  der  Überschiebung  vergangen  ist,  werden  sich  diese 
Veränderungen  eventuell  durch  Verfestigung  noch  verstärken. 

Wenn  doch  harte  Kalke  durch  den  Druck  der  Überschiebungsmasse 
an  vielen  Orten  zu  Dislocationsbreccien  zertrünunert  werden ,  deren  Typus 

1    Siehe  Abschnitt  II  8.  64—67. 


Das  vuhamsche  Vorries.  81 

der  Lochseitenkalk  ist,  wenn  die  Stftcke  dabei  geglättet,  gefurcht,  zerpre£st 
werden,  warum  sollte  dann  eine  Überschiebung  am  Riese  das  nicht  be- 
wirken können?^ 

Man  denke  sich  über  die  dortige ,  aus  hartem  Kalke  bestehende  Alb  aus- 
gebreitet die  lose  Ablagerung  der  Buchberg -GerOUsande,  in  welcher  Kalk- 
gerölle  eingebettet  liegen  in  einer  theils  thonigen ,  theils  aus  Quarzkörnem 
bestehenden  Sandmasse.  Wenn  jetzt  die  schwere  Uberschiebungsmasse  über 
diese  in  ihren  Theilen  zu  einander  bewegliche  Ablagenmg  hinübergeht ,  so 
müssen  unter  deren  Drucke  nothwendig  die  KalkgerOlle  durch  den  Thon 
geglftttety  durch  den  Quarzsand  gekritzt  werden.  Es  müssen  aber  dieselben 
beiden  Erscheinungen  auch  an  dem  unterliegenden  Gesteine,  dem  anstehen- 
den Weife -Jura -Kalke  sich  zeigen;  denn  diese  GerOllsand- Ablagerung  wird 
durch  den  Druck  der  darüber  hinweggehenden  »Riesenwalze«  natürlich  auch 
vorwärts  geschoben  werden. 

Ein  Augenblick  des  Überschiebungs  -Vorganges  genügt,  um  diese  pseudo- 
glacialen  Erscheinungen  hervorzurufen.  Es  wird  aber  sehr  leicht  auch  dabei  zu 
einer  Zerpressung  der  Gerolle,  deren  Th eilstücke  sich  späterhin  wieder  ver- 
kitten, kommen  können,  sowie  zu  einer  beginnenden  Anschleifung  von  Fa- 
cetten: beides  Merkmale ,  welche  sich  an  Buchberg -GrerOlIen  ebenfalls  zeigen. 

Man  sieht,  der  Mechanismus,  welcher  unserer  Ansicht  nach  diese  Er- 
scheinungen hervorrief,  ist  ein  so  leicht  begreiflicher,  dafe  es  keiner  noch 
weiter  eingehenden  Darlegung  desselben  bedarf,  und  dafs  einer  Spöttelei 
gegenüber  unserer  auf  ihn  gegründeten  Vorstellung  die  Berechtigung  fehlt. 

^  Daubree  hat  schon  im  Jahre  1857  experimentell  nachgewiesen,  dafs  sich  Schrammung 
und  Politur  ganz  ebenso  wie  durch  Eis  auch  durch  andere  Mittel  erzeugen  lassen.  Es  wurden 
Kieselsteine  in  einen  Holzblock  eingelassen  und  dann  unter  verschiedener  Belastung  mit  ver- 
schiedener Geschwindigkeit  über  einen  Granitblock  fortbewegt.  Wenn  die  Geschwindigkeit 
geringer  als  o"V"i  in  der  Secunde  war,  bedurfte  es  eines  Druckes  von  wenigstens  100^  auf 
den  Kieselstein,  um  eine  Schramme  auf  der  Granitplatte  zu  erzeugen.  Bei  einer  Geschwin- 
digkeit von  40"™  in  der  Secunde  genügte  dagegen  bereits  ein  Druck  von  5^,  um  dasselbe 
Ergebnifs  zu  erzielen.  Diese  Schrammen  sind  anfanglich  in  der  Regel  rauh ,  zerrissen ,  aber 
der  entstehende  feine  Staub  wirkt  bald  glättend  ein.  (Recherches  experimentales  sur  le 
striage  des  roches.     Annales  des  mines,  6«  livraison  1857.     Paris  1858  p.  9,  11). 

Ein  Autor,  dem  man  wahrlich  mangelnde  Kenntnifs  der  glacialen  Erscheinungen  nicht 
nachsagen  kann,  A.  Penck(Penck,  Pseudoglaciale  Erscheinungen.  Das  Ausland  1884,  S.  641 
bis  646)  hat  schon  1884  seine  Bedenken  gegen  eine  glaciale  Deutung  dieser  Erscheinungen 
am  Riese  ausgesprochen  und  davor  gewarnt,  •Schliffe  auf  horizontalen  Felsfl&chen,  sowie 
gekritzte  Geschiebe  und  regellose  Lagerung  für  ausschlieüslich  glaciale  Phänomene  zu  halten. 

PhjfS.Äbh.  1902,  L  II 


82  Branco: 

Weiteres  über  die  Buchberg -GeröUe  wird  bei  Besprechung  der  Lauch- 
heimer  Breccie  gesagt  werden.     (Siehe  Abschnitt  IV.) 

In  derselben  Weise  erledigt  sich  eine  weitere  Meinungsverschiedenheit. 
Nach  Koken  liegen  am  Lauchheimer  Tunnel  die  Buchberg -GeröUe  über  der 
Schlififläche.  Das  gilt  aber  doch  nur  von  den\jenigen  Theile  der  GeröUe, 
welcher  secundär  in  die  Lauchheimer  Masse  hineingearbeitet  wurde.  Dieser 
Theil  Uegt  natürUch  mit  dieser  Masse  über  der  Schlifffläche.  Primär  da- 
gegen liegen  dieselben  ( Abschn.  IV)  unter  der  Schlifffläche ;  denn  das  feste 
Gonglomerat  mit  Buchberg -GeröUen  ist  ja  in  Folge  der  Überschiebung,  wie 
wir  zeigen  werden,  ebenso  abgeschliffen,  wie  der  Weifs-Jura.  Das  spricht 
also  ebenfalls  für  ein  höheres  Alter  der  Buchberg -GeröUe. 

Wir  können  somit  drei  verschiedene  Beweisgründe  für  die 
Richtigkeit  unserer  Auffassung  erbringen,  dafs  die  Buchberg- 
Gerölle  ein  mindestens  mittelmiocänes  Alter  besitzen,  dafs  sie 
also  bereits  vor  Entstehung  der  Riesbildung  auf  der  Alb  abge- 
lagert Waren:  Sie  finden  sich  bereits  gekritzt  im  mittelmiocänen 
liparitischen  Tuffe  bei  Burg  Magerbein.  Sie  liegen  im  wohl- 
geschichteten, also  nicht  etwa  zu  diluvialer  Zeit  umgearbeite- 
ten, mittelmiocänen  Meeressande.  Sie  sind  durch  die  Über- 
schiebung der  Lauchheimer  Masse,  die  über  sie  hinwegging,  als 
Ganzes,  als  festes  Conglomerat,  an  dessen  Oberfläche  geglättet 
worden. 

Die  von  Koken  aufgestellten  Sätze:  Diese  Buchberg-GeröUe 
sind  obermiocänen  Alters;  folglich  mufs  »eine  Dislocation\ 
welche  diese  Gerolle  verarbeitete,  doch  wohl  nachmiocän«,  d.  h. 
nothwendig  nach  der  Riesbildung,  erfolgt  sein;  ihre  Kritzung 
erfolgte  in  diluvialer  Zeit  durch  glaciale  Kräfte*  —  diese  Sätze 
sind  nicht  mehr  haltbar. 


^   A.  a.  0.  S.  462. 

^  Koken  sagt  von  dem  Gerollsande  mit  den  Buchberg -Gerollen:  «Die  Gletscherb&che 
des  vorrückenden  Eises  überschQtteten  den  Untergrund  (Weifs-Jura  der  Alb)  mit  fluvio- 
glacialem  Material,  das  später  wieder  in  die  Grundmor&ne  aufgenommen  wurde ,  so  dals 
man  es  nur  in  Klüften  des  weilsen  Jura  eingeprelst  erhalten  findet  oder  als  dünnen  Über- 
zug der  SchlifTKläche.  Die  Anreicherung  der  Grundmoräne  mit  Quarzsand  in  ihren  tiefsten 
Lagen  eiinoglichte  die  wundervolle  Schrammung  der  Felsen«.  Gletscherspuren  im  Bereiche 
der  schwäbischen  Alb.    8.  38. 


Das  mdcamsche  Vorries.  83 

Damit  aber  fällt  die  hauptsRchlichste  Stütze  für  eine  Auf- 
fassung, welche  in  glacialen  Kräften  die  Ursache  des  Trans- 
portes der  grofsen  überschobenen  Massen  am  Riese  erblicken 
wollte. 

2.  Beiburg.  Eine  weitere  Differenz  der  Auffassungen  zeigt  sich  darin, 
dafs  wir  die  Weifs-Jura-Masse  der  Beiburg,  welche  nahe  dem  Buchberge 
auf  Weilj9-Jura  ß  liegt,  f&r  überschoben,  also  för  eine  Klippe,  erklären; 
wogegen  Koken  das  als  normale  Lagerung  ansieht.^ 

An  und  f&r  sich  könnte  das  völlig  nebensächlich  erscheinen,  insofern, 
als  das  Vorhandensein  noch  einer  weiteren  Überschiebung,  bez.  das  Fehlen 
einer  derselben,  nichts  an  der  von  beiden  Seiten  ja  anerkannten  Thatsache 
der  Überschiebungen  ändern  würde.  Falls  aber  Koken  jetzt  wirklich  ge- 
neigt sein  sollte^,  die  Braun -Jura -Masse  des  Buchberges  dennoch  als  durch 
Eis  verfrachtet  anzusehen,  so  erlangte  gerade  diese  Weifs- Jura -Klippe  der 
Beiburg  eine  erhöhte  Bedeutung  in  dieser  Frage.  Handelt  es  sich  nämlich 
bei  der  Beiburg-Klippe  wirklich  um  eine,  gleichviel  wie  weit,  geschobene 
Weils- Jura-Masse,  die  oben  auf  der  Alb  liegt,  so  wird  man  ganz  unmög- 
lich diese  und  die  dazu  gehörige  Braun -Jura -Masse  des  benachbarten  Buch- 
berges, welche  ganz  zweifellos  dorthin  geschoben  worden  ist,  auf  glacialen 
Transport  zurückf&hren  können;  denn  dazu  sind  diese  beiden  Massen  zu- 
sammen viel  zu  grois.  Bereits  die  Braun-Jura-Kappe  des  Buchberges  allein 
ist  viel  zu  umfangreich,  als  dafs  man,  unseres  Erachtens,  ihren  Transport 
auf  einen  hypothetischen,  relativ  kleinen  Riesgletscher  zurückfahren  könnte.^ 
Wie  viel  weniger  aber  könnte  das  der  Fall  sein,  wenn  nicht  allein  diese 
Braun -Jura -Masse,  sondern  zugleich  auch  jene  Weifs-Jura-Masse  der  Bei- 
burg geschoben  wären. 

Es  stehen  hier  Behauptung  gegen  Behauptung.  Oberer  Weifs -Jura 
liegt  auf  Unterem  Weifs-Jura;  die  Frage  ist  also  schwer  zu  entscheiden. 
Nach  Koken  ist  die  Schichtenfolge  dieser  zerrütteten,  vergriesten  Oberen 
Weifs-Jura-Masse  der  Beiburg  bis  auf  den  Unteren  Weifs-Jura  hinab  eine 


*  A.  a.  O.  S.  435. 

'  Wir  verweisen  hier  auf  das,  was  wir  an  anderer  Stelle  über  die  Schwierigkeit 
sagen  werden,  eine  ganz  klare  Vorstellung  über  Koken 's  jetzige  Ansicht  zu  erlangen,  ob 
er  die  Buchberg- Kappe  nun  wirklich  für  durch  Eis  überschoben  ansieht  oder  nicht.  Vergl. 
Abschnitt  VI.    Schlulswort. 

*  Das  vulcanische  Ries.     S.  76,  Fig.  4;  S.  79  ff. 

n* 


84  B  R  A  N  G  o : 

lückenlose ,  daher  liegt  keine  überschobene  Masse  vor.  Nach  unserer  An- 
sicht ist  das  nicht  der  Fall ;  daher  liegt  eine  Überschiebung  vor.  Andere 
müssen  also  entscheiden.  Als  Unterstützung  ftlr  unsere  Ansicht  können 
wir  anfuhren,  dafs  ein  auf  dem  Grebiete  alpiner  Überschiebungen  so  er- 
fahrener Forscher  wie  Rottpletz  auf  Grund  eigener  Untersuchimg  der  Lage- 
rung die  Beiburg-Masse  ebenfalls   f&r  eine  überschobene  Klippe  erklärte. 

3.  Ein  weiterer  Unterschied  der  Auffassungen  besteht  in  der  Frage, 
ob  man  bestimmte  Erscheinungen  im  Riese  als  durch  glaciale  ErSite  her- 
vorgerufen  anzusehen  habe.  Für  den  Standpunkt,  welcher  die  Überschiebung 
der  grofeen  Braun -Jura -Massen  auf  der  Alb  durch  Eistransport,  der  aus 
dem  Riese  heraus  erfolgt  sei,  erklären  will,  ist  es  natürlich  eine  unerlSis- 
liche  Noth wendigkeit ,  die  Spuren  dieses  Eises  vor  Allem  und  zuerst  im 
Rieskessel  bez.  in  den  in  ihn  mündenden  Thftlem  nachzuweisen.  Für  den 
gegentheiligen  Standpunkt,  welcher  die  Überschiebungen  als  das  Ergebnifs 
vulcanischer  ErSite  ansieht,  ist  es  dagegen  nebensachlich,  ob  sich  Spuren 
glacialer  Thätigkeit  finden  oder  nicht.  Denn  wenn  in  tertiärer  Zeit  diese 
vulcanischen  Vorgänge  mit  ihren  Überschiebungen  sich  vollzogen  hatten, 
so  ist  es  nicht  von  Belang,  ob  in  diluvialer  Zeit  auch  noch  Eis  vorhanden 
gewesen  ist  oder  nicht.  Im  ersteren  Falle  wird  das  Eis  die  Oberfläche 
der  überschobenen  Schollen  etwas  umgearbeitet  haben;  im  letzteren  wird 
dem  Wasser  diese  Aufgabe  zugefallen  sein;  aber  in  beiden  Fällen  hat  diese 
Umarbeitung  nichts  mit  der  Entstehxmg  der  Überschiebung  zu  thun. 

So  sind  wir  der  Ansicht,  dafs  Spuren  von  Eiswirkung,  wenn  man 
sie  auch  wirklich  nachweist,  nichts  gegen  die  von  uns  vertretene  Auf- 
fassung beweisen. 

Fragliche  GnindmorSne.  Bei  seinen  Forschungen  nach  dem  Vor- 
handensein solcher  Gletscherspuren  im  Rieskessel  und  in  den  in  ihn  mün- 
denden Thälern  glaubte  nun  Eoken  eine  Grundmoräne  gefunden  zu  haben. 
Die  Ortlichkeit  befindet  sich  im  Egerthale  bei  der  neuen  Papierfabrik 
am  Buchberge  bei  Bopfingen.  Dort  war  beim  Bau  derselben  die  Bergwand 
angeschnitten  worden,  so  dafs  eine  wirr  struirte  Masse,  gekritzte  Buch- 
berg-GeröUe  fiihrend,  blofsgelegt  wurde.  Wir  konnten  in  derselben  jedoch 
keine  Grundmoräne  erblicken,  sondern  nur  einen  ganz  tjrpischen  Gehänge- 
schutt,  wie   er  allerorten   am   Rande   der  Alb   sich   findet;   und  wie  die 

^    Das  vulcanische  Ries.     S.  147  ff. 


Das  vukanische  Vorries.  85 

thonigen  Massen  desselben  von  oben  herabgerutscht  waren,  so  waren, 
unserer  Auffassung  nach,  auch  die  in  denselben  liegenden  Buchberg- Ge- 
rolle in  bereits  gekritztem  Zustande  von  oben  herabgefallen. 

In  seiner  neuesten  Arbeit  kommt  Koken  nochmals  auf  diesen  Punkt 
zurflck  und  meint S  wir  hfttten  den  Aufschluiä  »vielleicht  nicht  frisch  ge- 
sehen. Die  oberste  Lage  war  allerdings  eine  Art  Gehängeschutt«,  aber 
die  tieferen  I^iagen  h&tten  aus  Grundmoräne  bestanden.  Wir  können  dem- 
gegenüber nur  aussagen,  dafs  wir  den  Aufschlufs  im  völlig  frischen  Zu- 
stande bis  in  seine  tiefste  Lage  hinab  gesehen  haben,  und  da&  weder 
wir  beide  noch  Hr.  Baurath  Wundt  —  der  in  Folge  seiner  langjährigen 
amtlichen  Thätigkeit  beim  Bau  der  Staatsbahnen  diese  Gehängeschuttmassen 
der  Alb  aus  vielfachen  Aufschlüssen  kennt  —  hier  etwas  Anderes  zu  er- 
kennen vermochten  als  Gehängeschutt. 

Ablagemng  zerprefster  Gerolle  und  Schliffe  im  Wömitzthale.  Ein 
zweiter  Punkt,  der  strittiger  Natur  zu  sein  scheint,  befindet  sich  in  dem 
Thale  der  Wörnita ,  welche  den  Rieskessel  entwässert  und  aus  diesem  gen  S. 
der  Donau  zuflieüst.  Nahe  der  Stelle,  an  welcher  die  Wömitz  den  Kessel 
verlassen  hat  und  nun  die  das  Ries  umgebende  Alb  durchbricht,  liegt  im 
Wömitzthale  die  Stadt  Harburg.  Gerade  gegenüber  letzterer  findet  sich 
auf  dem  linken  Gehänge  des  Flusses  dos  untenstehende,  zum  Theil  durch 
einen  grofsen  Steinbruch  aufgeschlossene  Profil.  Es  sei  hier  gleich  voraus- 
geschickt, dafs  sich  dasselbe  oben  am  Gehänge  zeigt,  wogegen  sich  das 
später  zu  besprechende  andere  Profil  unterhalb  des  ersteren  am  Gehänge 
über  dem  Flusse  zeigt. 

Wenn  man  in  den  Bruch'  eintritt,  so  sieht  man  zur  Rechten  (S.) 
und  gerade  vor  sich,  sowie  unter  den  Füfsen,  eine  Ablagerung,  die  aus 
zahlreichen  rundlichen,  zum  Theil  recht  grofsen  Weifs- Jura -Gerollen  be- 
steht. Dieselben  zeigen  in  hohem  MaXse  alle  Spuren  einer  gewaltsamen 
Pressung.  Sie  sind  geglättet,  geschrammt,  mit  Eindrücken  versehen  und 
vielfach  zerbrochen,  manche  derselben  mehrmals. 

Die  nächste  Ursache  dieser  Erscheinung  liegt  in  einer  grofsen  Klippe 
aus  Weiss -Jura  {f,  welche  zur  Linken  (N.)  im  Steinbruche  liegt  und  den 

»  A.  a.  0.  S.  463. 

*  Leider  wird  der  Weifs -Jura -Kalk  dessielben  immer  mehr  abgebaut,  so  dafs  schliels- 
lich  derselbe  ganz  verschwunden  sein  wird  und  nur  die  OeröUe  noch  übrig  geblieben 
sein  werden. 


86  Branco: 

Cregenstand  des  Abbaues  bildet.  Diese  Masse  ist  ungefthr  von  N.  nach  S. 
bewegt  und  dabei  gegen  die  Geröllablagerung  gepreist  und  zugleich  etwas 
auf  dieselbe  hinaufgeschoben  worden,  denn  ihre  zerütteten  Gesteinslagen 
überlagern  im  Hintergründe  des  Bruches  noch  gegenwärtig  die  Gerolle, 
während  sie  vom  bereits  von  denselben  durch  Abbau  entfernt  worden  sind. 
Die  Weifs- Jura -Klippe  hat  also  von  der  Seite  und  auch  von  oben  her 
gegen  die  GerOlle  gedrückt  und  dadurch  alle  jene  Fressungsersch  einungen 
derselben  bewirkt. 

Auf  diese  Weils- Jura- f- Klippe  ist  nun  wieder  Braun-Jura,  ebenfalls 
von  N.  her,  geschoben.  Man  sieht  also  von  N.  nach  S.  untereinander 
liegend:  Braun-Jura,  WeUs-Jura,  GierOlle.    Je  das  Ältere  liegt  immer  auf 


OavlUfObaflä^x. 


Steinbruch  auf  dem  liaken  Ufer  der  Wörnitz,  gegenOber  Harburg. 

dem  Jüngeren;  denn  die  GrerOUe  sind  wohl  tertiären  Alters,  vielleicht  gleich- 
altrig den  Buchberg-GeröUen. 

Wenn  man  bedenkt,  da&  das  hier  die  Alb  durchbrechende  Wömitz- 
tbal  einen  Grabenbruch  oder  doch  mindestens  ein  Spaltenthal  bildet,  so 
liegt,  unseres  Erachtens,  nichts  näher,  als  jene  starke  Zerpressung  der 
GeröUe  sowie  die  Schichtenstörung  überhaupt  als  Folge  der  Entstehung 
dieser  Versenkung  zu  erklären;  wie  denn  zerpreCste,  mit  Eindrücken  und 
Schrammen  versehene  GerÖlle  gar  nicht  seltene  Folge  gebirgsbildender 
Vorgänge  sind.     Das  ist  unsere  gewifs  ungezwungene  Deutung  des  Profiles. 

Koken  äufsert  sich  nicht  völlig  klar  über  seine  Auflassung  dieser  Er- 
scheinung. Wir  glauben  jedoch  aus  seinen  Worten  entnehmen  zu  müssen, 
dals  er,   wenngleich  der  gewaltsame  Einbruch  des  Thaies  bei  ihm  betont 


Das  viilcanische  Vorries.  87 

—  

wird,  dennoch  diese  Überschiebung  wie  die  Zerpressung  der  Gerolle  filr 
Wirkung  des  Riesgletschers ,  welcher  durch  das  Wörnitzthal  abflols ,  zu 
erklären  beabsichtigt.' 

Wenn  dem  so  sein  sollte,  dann  würden  auch  hier  wieder  AufiTassung 
und  Auffassung  gegenüberstehen;  denn  ein  positiver  Beweis  för  die  eine 
oder  andere  ist  bisher  von  keiner  Seite  erbracht;  nur  das  geologische  Gre- 
fiihl  kann  also  entscheiden.  Wir  glauben  aber,  dafs  dieses  GreÄhl  viel 
eher  sich  dahin  neigen  mufs,  den  gewaltsamen  Vorgang  des  Einbruches, 
wie  er  hier  quer  durch  den  Körper  der  Alb  hindurch  sich  vollzogen  hat, 
als  Ursache  dieser  Uberschiebungs-  und  zugleich  Pressungserscheinungen 
aufzufassen,  zumal  da  dieselben  an  dem  Gehänge  des  Einbruchsthaies  sich 
zeigen,  als  dahin,  in  glacialen  Kräften  die  Ursache  dieser  Uberschiebungs- 
und  Pressungserscheinungen  zu  erblicken. 

Ganz  dieselbe  Sprache  spricht  wohl  auch  der  weitere,  ebenfalls  von 
Koken^  betonte  Umstand,  dafs  dort  die  geschrammten  Schichtenköpfe  »blen- 
dend« polirt  sind  und  dafs  an  den  Gerollen  oft  »Eindrücke«  und  »an 
Stylolithen  erinnernde  feine  Furchen ,  die  för  Juranagelfluhe  charakteristisch 
sind« ,  auftreten.  Gerade  die  Harnische  oder  Rutschflächen  sind  ja  in  so 
blendender  Weise  polirt;  gerade  die  Eindrücke  in  GeröUen  und  die  stylo- 
lithenähnlichen  Drucksuturen  sind  als  Folge  von  Gebirgsdruck  bekannt; 
gerade  die  Juranagelfluhe,  welche  Koken  als  Analogen  citirt,  hat  diese 
selben  Erscheinungen  doch  nicht  durch  Eisdruck,  sondern  durch  Gebirgs- 
druck erlangt. 

Selbst  wenn  in  diesem  Thale  ganz  sichere  Spuren  eines  Gletschers 
nachgewiesen  werden  sollten,  würden  wir  doch  meinen,  dafs  obige  Er- 
scheinungen ungezwungener  dem  Gebirgsdrucke  als  dem  Eise  zuzuschreiben 
wären. 

Nach  Koken  sollen  diese  Gletscherspuren,  zum  Theil  gerade  hart 
unterhalb  jenes  bisher  besprochenen  Profiles,  am  Gehänge  vorhanden  sein 

^  Allerdings  wird  das  in  Koken's  Arbeit  a,  a.  0.  S.  449  nicht  direct  ausgesprochen. 
Aber  man  wird  den  Sinn  seiner  Worte  kaum  anders  deuten  können,  als  dafs  er  die  Ent- 
stehung dieser  Erscheinungen  bei  Harburg  in  diluviale  Zeit  verlegen ,  also  auf  glaciale  Ej*äfte 
zurückfiihren  will.  Es  geht  das  aus  dem  Satze  hervor,  in  dem  gesagt  wird:  »Damit  scheint 
aber  auch  das  Alter  der  .  .  .  SchliffHäche  .  .  .  dem  Tertiär  entrückt  zu  sein«.  Jedenfalls  ist 
in  einer  früheren  Arbeit  Koken's  bereits  gesagt  worden,  dafs  er  in  diesem  Theile  des 
Wörnitzthales  Gletscherspuren  deutlich  erkennen  könne. 

»   A.a.O.  S.  8,  21. 


88  B  R  A  N  c  o : 

und  aus  Rundhöckern  sowie  Schliffen  mit  Schrammen  bestehen. 
In  der  That  sieht  man,  nur  etwa  5"  über  dem  Flusse,  an  dem  steilen 
Gehänge  aui*  dem   abgebrochenen  Weiüs- Jura -Kalke  eine  kleine  Terrasse 

mit  Schlififläche.    Das  Ganze  ist  zwar  überdeckt  mit  überschobenem  Braim- 

« 

Jura -Schutt;  indessen  findet  man  nach  Abräumung  des  letzteren  leicht  die 
Schlifffläche  mit  Schrammen,  welche  parallel  dem  Thale,  dort  N.  40  W., 
verlaufen.  Sie  gleicht  ganz  den  geschrammten  Schlififflächen,  welche  unter 
den  überschobenen  Schollen  vom  Buchberg,  Hertsfeldhausen  und  Lauch- 
heim auftreten. 

Bei  dem  Versuche,  mit  der  Hacke  Stücke  dieser  Schlifffläche  für  die 
Sammlimg  herauszubrechen,  ereignete  sich  nun  aber  das  Auffallende,  dalis 
die  Stücke  sich  parallel  zu  dieser  Fläche  ebenfalls  mit  einer  gerieften  Fläche 
vom  Gesteine  ablösten. 

Diese  Stücke  hatten  demzufolge  oben  und  unten  je  eine 
Schlifffläche.  Allerdings  war  nicht  zu  bestreiten,  dafs  die  obere  voll- 
kommener war  als  die  untere;  sie  war  besser  geschliffen,  während  die 
untere  nur  eine  Ablösungsfläche  war. 

Aber  woher  kommt  diese  letztere?  In  der  Natur  des  WeiXs -Jura- 
Kalkes  liegt  eine  solche  Absonderungserscheinung  parallel  der  Schicht- 
fläche nicht.  Sie  ist  vielmehr  sicher  erst  später  durch  Druck  von  oben, 
verbunden  mit  Schub  von  vorn  nach  hinten,  hervorgerufen  worden. 

Kennt  man  Derartiges  als  Erzeugnifs  des  Druckes  und  Schubes  von 
Gletschern?  Wir  wissen  es  nicht,  uns  ist  es  nicht  bekannt.  Andererseits 
aber  ist  es  leicht  zu  verstehen,  dafs  eine  solche,  parallel  der  Schichtfläche 
sich  vollziehende  Ablösung,  d.  h.  eine  Spiegelbildung,  durch  dei^enigen 
Druck  und  Schub  sich  herausbilden  kann,  der  mit  der  gewaltsamen  Ent- 
stehung eines  Grabenbruches  verbunden  ist.  Wenn  dann  über  die  obere 
Fläche  noch  die  sandig -thonigen  Braun -Jura -Massen  hinweg  geschoben 
wurden,  von  welchen  sie  bedeckt  ist,  so  erklärt  es  sich  ebenfalls  unge- 
zwungen, dafs  diese  obere  Fläche  besser  abgeschliffen  und  geschrammt 
wurde  als  die  untere  im  Gestein  sitzende,  also  nur  durch  Bewegung  von 
Kalkstein  auf  Kalkstein  hervorgerufene. 

Zudem  ist  es  auffällig,  was  Koken  selbst  bemerkt,  dafs  diese  Schliff- 
fläche nur  in  so  geringer  Höhenlage,  nur  einige  Meter  über  dem  Wasser- 
spiegel der  Wörnitz,  sieh  findet»  Ein  Gletscher,  der  dieses  Thal  erfüllte, 
würde  doch  auch  höher  hinauf  seine  Schliffe  hervorgerufen  haben. 


Das  vuloanische  Vorries.  89 

Darum  erfüllen  uns  auch  diese  Schliffe  mit  Bedenken  gegen 
ihre  glaciale  Natur. 

Es  ist  nicht  uninteressant,  dafs  herrliche  pseudoglaciale  Po- 
lituren der  Schichtenkopfe  dieser  selben  Weifs-Jura-Schichten 
sich  ebenda  finden.  Sie  sind  zugleich  rundhöckerartig  abge- 
schliffen,  aber  nicht  auf  ihrer  oberen,  sondern  auf  ihrer  seitlichen  Fl&che; 
auch  liegen  sie  alle  in  gleicher  Höhe ,  etwa  40"^  über  einem  schmalen  Pfade, 
der  am  steilen  GehSnge  entlang  zieht.  Das  Alles  erklftrt  sich  leicht,  denn 
sie  sind  entstanden  durch  das  Scheuem  der  Schweine,  deren  Herden  am 
Geh&nge  geweidet  werden.  Auf  einem  dieser  RundhOcker  lag  zum  Be- 
weise noch  der  frische,  schwarze  Schlamm,  den  ein  kurz  vorher  dem  mo- 
rastigen Uferwasser  der  Wömitz  entstiegenes  Schwein  sich  dort  abgescheuert 
hatte.  Auf  einer  Viehweide  nahe  Appetshofen  im  Rieskessel  sahen  wir  einen 
Weils- Jura -Block,  der  offenbar  absichtlich  dorthin  gebracht  war,  um  von 
den  weidenden  Schweinen  benutzt  zu  werden;  er  war  bereits  Ähnlich  ge- 
schliffen. 

Andere,  wirklich  glaciale  RundhOcker,  von  denen  Koken  schreibt, 
sind  ims  in  dem  Wömitzthale  bisher  nicht  aufgefallen. 

Steile  Schliffnäche  bei  Wemding.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daCs  man 
in  einem  Gebirgsstücke ,  welches  derartig  zertrümmert  und  dessen  Schollen 
so  verschoben  wurden  wie  das  Riesgebiet,  überaus  vorsichtig  wird  sein 
müssen  mit  einer  glacialen  Deutung  von  Schliffflächen  und  Schrammen. 
Koken  schildert*  an  der  äufseren  Mühle  bei  Wemding  im  Riese  eine  sehr 
steil  einfallende  Schlifffl&che  im  Weifs-Jura  und  bemerkt  selbst,  dafs 
sie  weder  durch  eine  Bewegung  des  Gletschers  aus  dem  Rieskessel  hin- 
auf zur  Höhe,  noch  durch  eine  solche  von  der  Höhe  hinab  in  den  Kessel 
sich  erkl&ren  lasse,  sagt  aber  doch:  »der  Laccolith  kann  uns  hier  auch 
schwerlich  fördern«. 

Die  Deutung  dieser  sehr  steil  einfallenden  Schlifffläche  als 
einer  Spiegelbildung,  hervorgerufen  durch  die  Gebirgsbewe- 
gungen,  liegt  jedenfalls  sehr  viel  näher  als  eine  glaciale.  Fafst 
man  nun  den  aufwärts  gedrängten  Schmelzflufs  als  letzte  Ursache  dieser 
Gebirgsbewegungen  im  Riesgebiete,  erst  der  Hebung,  dann  des  Einsturzes, 
auf,  dann  wird  er,  also  der  Laccolith ,  uns  doch  wohl  diese  Bildung  leicht 
erklären  können.    Denn  selbst  wenn  hier  bei  der  Bildung  dieses  Harnisches 

'   A.  a.  0.  S.  454. 
Phys.Abh.  1902.   I.  12 


90  Bbanco: 

eine  grofee  Explosion  mitgewirkt  haben  sollte,  auch  die  Ursache  dieser 
Explosion  würde   doch  immer  der  aufgestiegene  heiJCse  Schmelzfluls  sein. 

Wir  kommen  nun  zu  einem  Punkte,  bei  dem  es  zwar  zunächst  scheinen 
könnte,  dafs  völlige  Übereinstimmung  bestehe,  bei  dem  eine  solche  jedoch 
noch  durchaus  zu  fehlen  scheint.  —  Es  ist  das 

Die  Frage,  ob  die  überschobenen  Massen  rom  Buchber^,  von 
Hertsfeldhauseu  und  rom  Lanchheimer  Tunnel  gleichwerthig  sind  oder 
nicht.  Unsere  bejahende  Ansieht  wurde  bisher  von  Koken  bekämpft,  der 
die  ersteren  beiden  Massen  för  aufgeprefst,  die  letztere  för  durch  Eis  trans- 
portirt  ansah.  Jetzt  aber  finden  sich^  die  Worte:  »Es  ist  ohne  Discussion 
anzuerkennen,  dafs  Hertsfeldhauseu  mit  dem  Buchberg  zusammen  gehört, 
während  am  Lauchheimer  Tunnel  einige  Züge  dazu  kommen,  welche  das 
Bild  etwas  ändern .  .  .  «.  »Demnach  wäre  der  Lauchheimer  Tunnel  in  die 
Gruppe  Buchberg — Hertsfeldhauseu  zu  stellen.« 

Diese  Sätze  bilden  eine  volle  Bestätigung  unserer  oben  ausgesprochenen 
Ansicht  von  der  Gleichwerthigkeit  der  drei  Massen.  Trotzdem  aber  er- 
giebt  sich  sofort  wieder  ein  fiir  uns  unlösbarer  Widerspruch. 

Einmal  nämlich  erkennt  Koken  an,  dafs  die  Buchberg -Masse  nicht 
aufgeprefst  sei,  sondern  den  Weifs-Jura  überlagere.'  Folglich  müfste  nach 
den  oben  citirten  Worten  Gleiches  doch  auch  von  Hertsfeldhauseu  gelten. 
Aber  ganz  im  Gegentheil,  Koken  sagt  an  anderer  Stelle:  »Hertsfeldhauseu 
ist  sicher  aufgeprefst«. 

Abermals  verstärkt  wird  der  Widerspruch  dadurch,  dafe  Koken  die 
Lauchheimer  Masse  durch  glaciale  Kräfte  an  Ort  und  Stelle  transportirt 
werden  läfet. 

Die  Gleichwerthigkeit  der  fraglichen  Massen  am  Buchberg, 
bei  Hertsfeldhauseu  und  am  Lauchheimer  Tunnel  wird  daher 
von  Koken  zwar  an  einer  Stelle  voll  anerkannt,  an  der  anderen 
aber  ebenso  bestritten.  Wir  werden  daher  die  Frage  im  folgenden 
Abschnitte  nochmals*  eingehend  darlegen  und  an  der  Hand  der  von  uns 
neuerdings  vorgenommenen  Aufgrabungen  besprechen  müssen. 

*  A.  a.  O.  S.  458.  460. 
'   A.  a.  O.  S.  463. 

•  Das  vulcanische  Ries,  S.  135 — 147. 


Das  vuloanische  Vorries,  91 


IV.  Die  Lauchheimer  Breccie. 

Im  W.  des  Rieses  liegen  oben  auf  dem  Weife -Jura  ziemlich  nahe 
bei  einander  die  beiden  grofsen  überschobenen  Braun-  und  Weifs- Jura- 
Massen  von  Buchberg  und  von  Hertsfeldhausen.  Beide  haben  gemeinsam, 
dafs  sie  je  als  eine  ganze  im  Schichten  verband  gebliebene  Scholle  auf 
den  Weifs -Jura  geschoben  sind;  dafs  folglich  Gesteinsstücke  obermiocänen 
Alters  unmöglich  in  ihnen  vorkommen  können  (S. 96  ff.),  sondern  dafs  sie, 
wenn  überhaupt,  dann  nur  auf  ihnen  aufgelagert  sein  könnten. 

Diesen  beiden  Schollen  gegenüber  steht  eine  dritte,  ebenfalls  in  der 
Nähe  gelegene  Scholle,  die  sogenannte  »Lauchheimer  Breccie«.  Als  wirr 
struirte  Masse,  die  aus  Stücken  und  Fetzen  zahlreicher  Gesteinsarten ,  dar- 
unter auch  tertiärer,  besteht,  überlagert  sie  ebenfalls  den  Weife -Jura.  Sie 
war  es,  welche,  im  Verein  mit  der  unter  ihr  zum  Vorschein  gekommenen 
Schlififläche  des  Weife -Jura,  Deffner  zuerst  den  Gedanken  erweckte,  dafe 
hier  eine  Wirkung  diluvialer  Gletscher  vorliege;  dafs  aber  nicht  nur  diese 
»Lauchheimer  Breccie«,  sondern  auch  alle  anderen  Über  Schiebungsmassen 
durch  Eis  an  Ort  und  Stelle  geschoben  seien. 

Auch  Koken  hält  für  die  Lauchheimer  Breccie  den  Transport  durch 
Eis  för  sicher.     Wir  sehen  in  ihr  eine  überschobene  Masse. 

So  sind  also  beide  Theile  zwar  darin  einig,  dafs  die  Lauchheimer 
Masse  auf  dem  Weife -Jura  liege.  Aber  die  Frage  nach  der  Krafl,  durch 
welche  diese  abnorme  Lagerung  bewirkt  wurde,  findet  noch  zwei  völlig 
entgegengesetzte  Lösungen:  Eis  und  Vulcanismus. 

Seit  jener  Zeit,  im  Anfang  der  siebziger  Jahre  des  vorigen  Jahrhun- 
derts, zu  welcher  Deffner  diese  »Lauchheimer  Breccie«  gesehen  hatte, 
war  dieselbe  dem  Auge  wieder  entzogen  worden;  denn  nachdem  man  sie 
damals  mit  einem  tiefen  Eisenbahneinschnitte  und  einem  Tunnel  durch- 
fahren hatte,  wurden  die  Böschungen  des  Einschnittes  unter  Bedeckung 
gehalten,  die  mehr  und  mehr  heranwuchs.  Penck^  sah,  wie  es  scheint, 
noch  gröfsere  Theile  des  Aufschlusses,  Koken  konnte  vor  einigen  Jahren 
ein  durch  Abrutsch ung  zufällig  entblöfetes  Stück  sehen.    Ein  gröfeerer  Ein- 


^   Das  Ausland  1884. 

12- 


92  Bhanco: 

blick   aber   in  das  Innere  dieser  umstrittenen  Masse  fehlte  und  war  doch 
im  höchsten  Malse  wünschenswerth. 

Zu  aufrichtigstem  Danke  fühlen  wir  uns  daher  der  General-Direction 
der  Königl.  württ.  Staatseisenbahnen  verpflichtet,  welche  uns  die  Eriaub- 
nüs  gab,  Grabungen  an  den  Bahnböschungen  vorzunehmen.  Es  wurden 
in  solcher  Weise  zwei  grolse  Profile  freigelegt,  an  der  O.-Seite  des  Lauch- 

Fig.  10. 


Profil  östlich  vom  Laachbrimer  Tniinel.  Profil  Im  Bnchberg- Schachte. 

heimer  Eisenbahntunnels    und   an   seiner  W.-Seite.'     Diese  Profile  zeigten 
nun  die  folgenden  Verhältnisse: 

Die  Unterlage  der  Lanchheimcr  Breccie.  Die  an  der  O.-Seite  des 
Lauchheimer  Tunnels  aufgedeckte  Auflagerungsfl&che  der  fraglichen  »Lauch- 
heimer  Breccie«  auf  dem  Weifs-Jura  ß  liefs  deutlich  erkennen,  dafs  der 
letztere  hier  keine  ebene  Fläche  gebildet  hatte.  Derselbe  war  vielmehr 
in  N.  70.  O.-Richtung  zerklüftet,  und  die  so  entstandenen  kleinen  Sehollen 
waren  vertical  ein  wenig  gegen  einander  verschoben.  Profil  loa  und  li 
geben  ein  Bild  dieser  Verhältnisse. 

*  Wiederum  hatten  Hr.  Baurath  Wundt,  dessen  Verwendung  wir  die  Erwirkung 
der  oben  erwShnten  Erlaubnifs  verdanken,  sowie  Hr.  College  Sauer  die  Li ebens Würdigkeit, 
nach  Ltiuchheim  zu  reisen ,  um  bei  der  Feststellung  der  Lagerongs Verhältnisse  der  erforderlichen- 
falles  schnell  wieder  zuzuschüttenden  Au&dilQsse  als  unparteiische  Zeugen  mitzuwirken. 


Das  vubxmische  Vorries.  93 

Die  in  solcher  Weise  unebene  Oberfläche  des  "Weifs-Jura  ß  erwies  sich 
nun  ganz  ebenso  glatt  geschliffen,  wie  wir  das  in  unserem  Schachte  auf 
dem  Buchberg  festgestellt  hatten;  nur  mit  dem  Unterschiede,  da&  auf 
dem  Buchberg  der  Weils-Jura  ß  keine  Zerklüftung  erkennen  liels,  sondern 
eine  ebene  Oberfläche  besals.' 

In  den  Kluftfugen,  sowie  in  den  Vertiefungen,  welche  durch  die  etwas 
tiefer  liegenden  kleinen  Schollen   des  zerklüfteten  Weils-JuTa  ß  gebildet 

rig.it 


gegUtieie  Flilclie 
lertinrea  Conglomenit 


Aarschlnlj  bn  Einschnitt  ftn  d«r  Bahnltote  Ssttieh  vom  I^nchheimer  Tunnel. 

waren,  also  in  kleinen  Mulden  dem  Weifs-Jura  ß  aufgelagert,  fand  sich 
ein  sehr  festes  Conglomerat.  Dasselbe  war  gebildet  durch  gerundete  Weifs- 
Jura-Gerölle,  welche  in  einer  quarzsandigen,  auch  thonigen  Grundmasse 
eingebettet  lagen.  Diese  GeröUe  bestanden  aus  den  sogenannten  ■Buchberg- 
Geschieben*  Koken 's  und  aus  Oberem  Weifs-Jura.  Bemerkenswerth  ist 
der  Umstand,  dafe  die  Oberfläche  dieses  festen,  den  WeUs-Jm-a  ß  über- 
lagernden Conglomerates  sich  als  ganz  ebenso  geglättet  und  geschrammt 
erwies,  wie  die  Oberfläche  des  Weife-Jura  ^  es  an  deiyenigen  Stellen  war, 

'    Siehe  diese  Sitsungsberichte   1901.     S.  505. 


94  Branco: 

an  welchen  sie  von  dem  Conglomerate  nicht  bedeckt  wurde.  Im  Innern 
des  letzteren  waren  die  Gerolle,  offenbar  in  Folge  des  Druckes,  den  die 
Überschiebung  der  darüber  liegenden  Masse  ausgeübt  hatte,  vielfach  zer- 
borsten oder  mit  Spiegeln  und  Facetten  versehen. 

Während  auf  der  O.-Seite  des  Lauchheimer  Tunnels  unter  der  Breccie 
sich  das  besprochene  feste  Conglomerat  fand,  zeigte  sich  in  den  Aufgra- 
bungen der  W.- Seite  des  Timnels  unter  der  Breccie  nur  eine  lose  Masse. 
Dieselbe  war  gebildet  durch  vorherrschenden  weifsen  und  gelben  Sand, 
in  welchem  Buchberg -GeröUe  lagen.  Aber  letztere  waren  hier  nicht  ge- 
kritzt.  In  der  darüber  liegenden  Lauchheimer  Breccie  fanden  sich  da- 
gegen gekritzte  Buchberg- GeröUe,  ganz  wie  das  auch  an  der  O.-Seite  der 
Fall  war. 

Diese  Erscheinung  erklärt  sich  leicht,  wenn  man  erwägt,  dafs  die 
Laucliheimer  Breccie  von  0.  nach  W.  über  eine  kleine  Höhe  hinwegge- 
schoben worden  ist.  An  der  O.-Seite  der  letzteren,  beim  Anstieg,  pflügte 
sie  unter  sich  die  soeben  geschrammten  GeröUe  auf  und  brachte  sie  mit 
auf  die  W.- Seite;  hier  aber  war  ihre  Vorwärtsbewegung,  wenigstens  an 
der  betreffenden  aufgegrabenen  Stelle,  nicht  mehr  stark  genug,  um  die 
Unterlage  derart  zu  pressen  und  zu  bewegen,  dafs  die  GeröUe  geschrammt 
wurden. 

Man  braucht  nicht  anzunehmen,  dafs  sich  das  an  der  ganzen  W.- 
Seite des  Tunnels  nothwendig  in  gleicher  Weise  verhalten  müsse.  Dicht 
neben  dieser  zufallig  aufgegrabenen  Stelle  könne  der  Druck  sehr  wohl 
stark  genug  gewesen  sein,  imi  dennoch  die  Unterlage  zu  bewegen  und  die 
GeröUe  zu  kritzen.  Bei  dem  grofsen  Gewichte,  welches  diese  Lauchheimer 
Breccie,  ebenso  auch  die  anderen  überschobenen  Massen,  besitzen,  mufe 
erklärlicherweise  in  der  Regel  bereits  eine  geringe  Bewegung  derselben 
genügt  haben,  um  unter  ihr  auch  die  Geröll sandmassen  in  Bewegung  zu 
versetzen  und  so  die  KalkgeröUe  durch  den  Quarzsand  zu  kritzen.  Die 
Kritzung  dürfte  sich  vieUeicht  sehr  schneU,  in  einem  Augenblicke  voll- 
zogen haben;  so  läfst  sich  denken,  dafs  der  vorderste  Theil  der  über- 
schobenen Lauchheimer  Masse  die  Kritzung  bewirkte,  während  der  hin- 
tere Theil  der  Masse  die  soeben  gekritzten  GeröUe  emporrifs  und  in  sich 
einwickelte. 

Aus  dem,  was  diese  beiden  grofsen,  neuerdings  hergestell- 
ten,  künstlichen  Aufschlüsse    am   Lauchheimer  Tunnel    zeigen. 


Das  vulcanische  Vorries.  95 

ergeben  sich  nun  für  uns  die  nachstehenden  Folgerungen,  die 
eine  Ergänzung  zu  dem  vorher  (S.  78 — 82)  über  die  Buchberg- 
Gerölle  Gesagten  bilden. 

Das  unter  der  Lauchheimer  Breccie  liegende,  feste  Conglomerat  ist 
ident  mit  dem  Geröllsande,  welcher  sich  auch  an  verschiedenen  anderen 
Orten  (Buchberg,  Hertsfeldhausen)  unter  den  überschobenen  Massen  findet; 
es  bildet  lediglich  einen  verfestigten  Geröllsand  mit  Buchberg-Geröllen  gegen- 
über jenem  losen.  Das  von  dem  festen  Conglomerate  zu  Sagende  gilt  da- 
her auch  von  dem  losen  Geröllsande. 

Das  Gonglomerat  bez.  diese  Geröllsande  sind  älter  als  die  über  ihnen 
liegenden,  durch  irgend  eine  Kraft  überschobenen  Massen.  Sie  bildeten 
also  in  der  That  ehemals  eine  weiter  ausgedehnte  Ablagerung,  eine  Decke 
auf  dem  Weifs-Jura.  Dafs  diese  Decke  von  Geröllsanden  zu  der  Zeit,  in 
welcher  sich  die  Überschiebungen  vollzogen,  bereits  zum  gröfseren  oder 
geringeren  Theile  durch  Erosion  wieder  entfernt  gewesen  sein  mag,  würde 
nichts  an  ihrem  ehemaligen  allgemeineren  Vorhandensein  ändern. 

Erst  durch  die  Überschiebungen  bez.  durch  den  Druck  der  überscho- 
benen Massen  erfolgten  die  Glättung  und  Schrammung  dieses  Conglome- 
rates  an  seiner  Oberfläche,  sowie  die  Facettirung  seiner  Gerolle  in  seinem 
Innern,  erfolgten  die  Kritzung  und  Schrammung,  sowie  die  Facettirung 
und  Zerbrechung  der  GeröUe  in  den  Geröllsanden.  Die  KalkgeröUe,  welche 
in  Quarzsand  eingebettet  lagen,  wurden  noth wendig  gekritzt,  sowie  der 
Druck  der  darüber  hinweggehenden  »Riesen walze«  sie  in  Bewegung  setzte  — 
wie  das  bereits  früher  eingehender  dargelegt  ist  (S.  80). 

Auch  in  der  über  dem  Conglomerate  liegenden  Lauchheimer  Breccie 
finden  sich  wiederum  gekritzte  und  geglättete  Buchberg- Gerolle.  In  dieser 
liegen  sie  aber  unserer  Ansicht  nach  bereits  auf  secundärer  Lagerstätte, 
d.  h.  ihre  Kritzung  und  Glättung  entstand  nicht  etwa  erst  in  der  Breccie, 
wie  das  der  Fall  wäre,  wenn  es  Geschiebe  wären,  wenn  also  die  Breccie 
eine  Grundmoräne  wäre;  sondern  sie  entstand  schon  vorher  an  anderer 
Stelle  auf  die  im  Vorhergehenden  geschilderte  Weise  unter  der  überschobe- 
nen Masse  durch  deren  Druck;  und  dann  erst  wurden  die  so  gekritzten 
Gerolle  von  der  Schuttmasse  der  Breccie  aufgepflügt,  aufgenommen  und 
mit  der  Breccie  hierher  geschoben. 

Auf  ganz  dieselbe  Weise  wurden  aber  auch  umgekehrt  in  den  Geröll- 
sand  an   anderen   Orten  Tlieile    der  überschobenen  Masse  hineingeprefst. 


96  Brango: 

So  erklärt  es  sich,  dafs  am  Buchberge  der  dort  jedenfalls  schon  eine 
Strecke  weit  vorwärts  geschobene  Geröllsand  eckige  Stücke  von  Weife- 
Jura -Kalk  u.  s.  w.  enthielt. 

Dafs  nicht  das  Eis,  sondern  nur  der  Druck  der  Uberschiebungsmassen 
hier  wirksam  waren,  wird  recht  wahrscheinlich  durch  die  Zerpressung  der 
Gerolle,  die  hier  wie  an  verschiedenen  anderen  Stellen  des  Riesgebiete« 
ebensowohl  von  uns  beiden,  wie  von  Koken  und  von  Knebel  beobachtet 
worden  sind;  denn  zerprefste  GeröUe  und  Gesteine  sind  eine  ebenso  häu- 
fige Erscheinung  da,  wo  der  Gebirgsdruck  gewirkt  hat,  wie  sie  selten 
sind  in  Moränen.  Auch  die  beginnende  Facettirung,  welche  diese  GeröUe 
nicht  selten  erkennen  lassen,  spricht  unserer  Ansicht  nach  gegen  Eis. 
Vor  Allem  aber  geht  das  hervor  aus  dem  Umstände,  dafe  das  feste  Con- 
glomerat  unter  der  Lauchheimer  Breccie  selbst,  weil  es  eben  fest  war,  an 
seiner  Oberfläche  ebenso  wie  der  Weifs-Jura  abgeschliffen  und  geschrammt 
ist.  Es  kann  mithin  keine  zu  diluvialer  Zeit  erst  dorthin  geschobene  Grund- 
moräne sein,  sondern  stellt  eine  alte  verfestigte,  aus  dem  Wasser  abge- 
setzte Schotterablagerung  dar,  die  schon  lange  an  dieser  Stelle  lag.  Dafs 
diese  Ablagerung  aber  nicht  etwa  obermiocän  war  (Koken),  d.  h.  erst 
nach  der  Riesbildung  abgesetzt  wurde,  sondern  mittel-  oder  altmiocän, 
das  wird  mit  Sicherheit  bewiesen  durch  den  grofsen  Einschluls  eines 
Fetzens  dieser  Schottermasse,  den  von  Knebel  mitten  im  vulcanischen 
Tuffe  von  Burgmagerbein  fand  (S.  66);  denn  dieser  Tuffausbruch  fand  zu 
mittelmiocäner  Zeit  statt;  es  mufs  also  damals  bereit«  fiber  ihm  der  Geröll- 
sand mit  Buchberg -Gerollen  gelegen  haben.  Dasselbe  geht  auch  weiter 
hervor  durch  das  Auftreten  von  Fetzen  von  Buchberggeröllsand  im  mittel- 
miocänen  marinen   Sande,    welche   ebenfalls  von  Knebel  fand.     (S.  66). 

Aus  allen  diesen  vorhergehenden  Schlüssen  ergiebt  sich  also  hinsicht- 
lich der  gekritzten  und  geglätteten,  bisweilen  facettirten  und  zerprefsten 
Buchberg -Gerolle  för  uns  weiter  das  Folgende: 

Gleichviel,  ob  die  Buchberg-Gerölle  heute  noch  in  dem  Ge- 
röllsande liegen  oder  ob  sie  bereits  aus  demselben  herausge- 
spült  sind.  Gleichviel  ob  sie  heute  noch  unter  den  überscho- 
benen  Massen  liegen,  wie  am  Lauchheimer  Tunnel,  am  Buch- 
berg und  bei  Hertsfeldhausen;  oder  ob  sie  nach  Abtragung 
dieser  Massen  durch  die  Erosion  heute  schon  an  die  freie  Tages- 
fläche   gelangten,   wie   an  vielen  Orten  dort  der  Fall  ist;   oder 


Das  vulcanische  Vorries.  97 

ob  sie,  von  oben  her  an  den  Gehängen  herabgestürzt,  heute  am 
Fufse  der  letzteren  in  Gehängeschuttmassen  gefunden  wurden, 
wie  bei  der  Papierfabrik  Bopfingen;  oder  ob  sie  von  der  über- 
schobenen  Masse  der  »Lauchheimer  Breccie«  an  anderer  Stelle 
aufgepflügt  und  umhüllt  hierher  geschoben  wurden:  Überall 
sind  diese  Ralkgerölle  nur  durch  den  Druck  der  über  sie  fort- 
geschobenen Massen,  und  zwar  vom  Quarzsande,  in  dem  sie 
liegen,  geschrammt,  bez.  etwas  facettirt  oder  zerbrochen  wor- 
den; nirgends  sind  sie  erst  in  diesen  Massen,  bez.  im  Geh&nge- 
schutt,  geschrammt,  bez.  facettirt  oder  zerbrochen  worden; 
nirgends  also  darf  man  aus  ihrer  Kritzung  u.  s.  w.  den  Schlufs 
ziehen,  dafs  sie  Geschiebe  seien;  nirgends  können  mithin  die 
überschobenen  oder  die  Gehängeschuttmassen,  in  denen  sie 
etwa  gefunden  werden,  durch  die  Führung  dieser  gekritzten 
Gerolle  zu  Moränen  gestempelt  werden.  Man  nenne  diese  Bil- 
dungen daher  pseudoglacial,  aber  nicht  glacial. 

Das  Gestein  der  Lanchheimer  Breceie.  Über  dem  soeben  besprochenen 
Conglomerate  bez.  Geröllsande  liegt  nun  die  Masse,  welche  man  als  Lauch- 
heimer  Breceie  bezeichnet  hat.  Dieselbe  wird  gebildet  durch  eine  erdige 
Masse,  welche  erfüllt  ist  einerseits  von  nicht  abgeschliffenen,  nicht  ge- 
schrammten ,  eckigen  Bruchstücken  bez.  Thonfetzen  der  verschiedensten  Ge- 
steinsarten von  geringer  bis  zu  bedeutendster  Gröfse  und  andererseits  von 
gekritzten  Buchberg -Gerollen,  welche  letztere  aus  dem  Conglomerat  bez. 
dem  Greröllsande  im  Liegenden  der  Breceie  stammen. 

Die  Buchberg -Gerolle  sind  von  oben  bis  unten  gleichmäfsig  (aber 
doch  spärlich)  durch  die  Breceie  vertheilt  und  erreichen  zum  Theil  recht 
bedeutende  Grölse.  Aufser  diesen  relativ  seltneren  Buchberg-GeröUen  fanden 
sich  grofse  Massen  von  WeÜs-Jura,  hauptsächlich  den  oberen  Kalken  des- 
selben angehörig,  aber  auch  aus  den  tieferen  Horizonten  stammend.  Braun- 
Jura  war  seltener  und  ebenso  Lias,  Keuper  und  Urgestein;  doch  war  die 
mächtige  Gröfee  der  Schichtenfetzen  aus  diesen  Horizonten  bemerkenswerth. 

Von  besonderem  Interesse  erscheinen  die  keineswegs  seltenen  tertiären 
Gesteine  in  der  Breceie,  von  welchen  am  häufigsten  röthlicher,  pisolithischer 
Kalk  und  sogenannter  »Bohnerzkalk«,  d.  h.  durch  Kalk  verhärtete  Bohn- 
erzthone  gefunden  wurde.  Koken  hält  diesen  Pisolith  ffir  ein  obermio- 
c&nes  Riesgestein .  und  folgert  daraus  für  die  Lanchheimer  Breceie  einen 

Fhys.Ahh,   1902,    L  13 


98  Brango: 

Transport  zu  diluvialer  Zeit.  Er  bleibt  aber  den  paläontologischen  Beweis 
dafür  schuldig.  Wir  sprechen  den  Pisolith  für  unterstes  Miocän  bez.  Oligocän 
an;  denn  allenthalben  auf  der  Alb  und  besonders  in  der  Ulmer  (Jegend 
tritt  der  pisolithische  Kalk  in  derselben  Ausbildungsweise  im  Liegenden 
der  unteren  Süfewasserkalke  auf.  Für  diese  luisere  Auffassung  spricht  auch 
weiter  der  Umstand,  dafs  der  gleichfalls  in  der  Breccie  liegende  Bohnerz- 
kalk  dem  Ober-Eocän  oder  Oligoc&n,  der  sogenannten  Nagethierschichte 
auf  der  Alb,  angehört. 

Von  Wichtigkeit  und  sehr  auffallend  sind  drei  Thatsachen:  einmal, 
dafs  weder  von  uns  noch  von  Koken  die  von  Deffner  erwähnten  und 
hervorgehobenen  obermiocänen  Braunkohlen  und  deren  Thone  oder  die 
Cyprisschiefer  gefunden  wurden;  obgleich  natürlich  von  beiden  Seiten 
gerade  auf  diese  ein  besonderes  Augenmerk  gerichtet  wurde. 

Sodann  zweitens,  dafe  weder  in  Stuttgart  noch  in  Tübingen  Beleg- 
stücke dieser  Gresteinsarten  aus  der  Lauchheimer  Breccie  liegen;  obgleich 
doch  bei  der  grofsen  Wichtigkeit  derselben  für  die  Altersbestimmung  der 
Lauchheimer  Breccie  durch  Deffner  und  Quenstedt  Vertreter  derselben 
gesammelt  sein  mü&ten. 

Endlich  drittens,  dafe  unser  gerade  an  der  Stelle  gemachter  Schürf, 
an  welcher  Deffner  in  seiner  Originalaufhahme  Cyprisschiefer  und  Braun- 
kohlenthon  einzeichnet,  nicht  diese  fand,  wohl  aber  eine  grofse  Scholle 
dunkelen  Omatenthones  mit  den  charakteristischen  zerprefsten  und  wieder 
verkitteten  Fossilien,  besonders  Belemniten  aus  der  Gruppe  des  Belemnäes 
semihastatus  imd  fasiformis. 

Wir  möchten  daher  doch  meinen,  daßs  hier  eine  irrthümliche  Beob- 
achtung Deffner's  vorliege,  indem  er  sich  durch  die  dimkle  Färbung  der 
oberen  Braun -Jura -Thone  täuschen  liefs;  denn  der  Braunkohlen -Thon  des 
Rieses  ist  doch  wohl  nichts  Anderes  als  umgelagerter  Jura -Thon,  daher 
diesem  sehr  ähnlich. 

Dagegen  liegen  allerdings  sowohl  uns  wie  Koken  die  leider  sehr 
schlecht  erhaltenen  Steinkeme  einer  Helix  vor,  welche  theils  aus  einem 
weifsen  Kalkstein,  theils  aus  grauem  Kalkmergel  stammen  und  von  uns 
an  der  W.-Seite  des  Tunnels  in  der  Breccie  gefunden  wurden;  während 
die  in  der  Tübinger  Sammlung  liegenden  noch  aus  jener  Zeit  herrühren, 
in  welcher  die  Eisenbahn  gebaut  ward.  Eine  genaue  Bestimmung  ist  kaumi 
möglich,    doch    ist    ihre  Ähnlichkeit   mit  HeUx  syhana   oder  noch  mehr 


Das  tmloamsche  Vorries.  99 

mit  HeUx  platechyhides  nicht  zu  bestreiten.  Die  Bestimmung  ist  aber 
unsicher,  denn  wer  wollte  die  subtilen  Unterschiede  zwischen  den  ver- 
wandten unter*  und  obermiocänen  Helix- Arten  an  schlecht  erhaltenen  Stein- 
kemen  feststellen? 

Selbst  wenn  die  fraglichen  Steinkeme  zu  der  Gruppe  der  Helix  sylr 
vana  gehören,  was  wftre  dann  hinsichtlich  des  Alters  derselben  bewiesen? 
Nicht  das  mindeste,  da  Formen  aus  der  Gruppe  der  Helix  sylvana  nicht 
allein  auf  das  Obermiocän  beschränkt  sind,  sondern  bereits  in  den  unter- 
miocänen  Rugulosakalken  auftreten,  wie  Koken  selbst  ja  zu  wiederholten 
Malen  hervorhebt.^ 

Wir  glauben  daher  auch  in  diesem  Falle  nicht,  daSa  man  den  Beweis 
für  das  obermiocfine  Alter  der  Lauchheimer  Breccle  in  Händen  habe,  welchen 
Koken  in  seiner  vorletzten  Arbeit  verhiefis,  indem  er  zugleich  in  scharfer 
Weise  Verwahrung  gegen  unsere  abweichende  Ansicht  einlegte.* 

Um  zu  einem  Urtheil  über  die  Bedeutung,  Herkunft,  Entstehungsweise 
dieser  »Lauchheimer  Breccie«  gelangen  zu  können,  müssen  wir  dieselbe 
mit  gewissen  anderen  Gesteinsmassen,  die  am  Ries  bez.  anderwärts  auf- 
treten, vergleichen;  und  zwar  könnten  in  dieser  Hinsicht  in  Betracht 
kommen:  die  sogenannte  »Bunte  Breccie«,  die  überschobenen  Braun -Jura- 
Massen  und  echte  Grundmoränen. 

Vergleich  der  Lauchheimer  Breccie  mit  der  Bnnteii  Breccie.  Zu- 
vörderst muis  hier  nochmals  daran  erinnert  werden^,  dass  man  als  »Bunte 
Breccie«   zwei  ganz  verschiedene  Dinge  bezeichnet  hat.    Ein  Theil  dieser, 

^  Centi'alblatt  £.  Mio.,  GeoL,  Pal.  1900,  S.  149  und  151.  Ro liier  vertritt  in  seinen 
Arbeiten,  so  auch  wiederum  in  einer  soeben  erschienenen,  gleichfalls  ganz  entschieden  die 
Ansicht,  dafs  HeUx  sylvana  dem  Ober-  wie  Untenniocän  angehöre  (Bulletin  soc.  geol.  France 
1902,  4™«  s6r.  T.  2).  K.  Miller  (Centralblatt  f.  Min.,  GeoL,  Pal.  1901,  S.  129)  bestreitet 
das  zwar  für  Hdix  ayhana  und  hebt  hervor,  dafs  diejenigen  Arten,  welche  wirklich  dem 
Unter-  und  Ober-,  bez.  Mittelmiocäh  gemeinsam  w&ren,  wesentlich  solche  seien,  die  im 
Wasser  gelebt  hätten,  wogegen  die  Landschnecken  viel  empfindlicher  für  klimatische  Ver- 
änderungen, mithin  sehr  niveaubestandig  seien.  Indessen  wenn  auch  für  die  Schale  der 
obermioc&nen  Helix  sylvana  gewisse  Merkmale  so  kennzeichnend  sind,  dafs  sie  von  älteren 
Formen  dieser  Gruppe  unterscheidbar  ist,  im  vorliegenden  Falle  handelt  es  sich  leider  nui* 
um  Steinkeme.  Vergl.  auch  Miller  in  Jahresh.  d.  Vereins  t  vaterl&nd.  Naturkunde  in 
Württemberg  1900,  S.  395. 

'    Neues  Jahrb.  f.  Min.  1901,  II.  S.  128. 

'    Das  vulcanische  Ries.   S.  127. 

13* 


100  Branco: 

wesentlich  aus  Keuper  und  Jura-Thonen  bestehenden  Bildungen  ist  sedi- 
mentärer Natur.  Als  der  Rieskessel  in  obermiocaner  Zeit  —  also  nach 
Verlauf  der  Riesbildung,  der  Überschiebungen,  der  Breccien-  (Gries-)  Bildung, 
der  Tuflf-  und  Schlacken  -  Eruptionen  —  sich  mit  Wasser  erfüllte,  da  arbeitete 
dieses  zunächst  die  Gresteinsmassen  um,  welche  sich  auf  dem  Boden  des 
Kessels  fanden.  So  entstand  vielerorten  als  unterste  Schicht  dieser  ober- 
miocänen  Sülswasserbildungen  eine  Ablagerung,  die  aus  dunklen  Jura-  und 
rothen  Keuper -Thonen,  dazu  auch  aus  Stücken  von  Stubensandstein ,  von 
Weifs-Jura  und  granitischen  Gesteinen  bestand. 

Diese  Aufarbeitung  des  Untergrundes,  d.h.  die  im  Obermiocän  ent- 
standene Abrasionsfläche  des  Granites  und  der  ihm  noch  aufgelagerten 
Keuper-Jura-SchoUen,  wurde  dem  Namen  nach  von  Gümbel  zusammen- 
geworfen mit  der  »Bunten  Breccie«,  welche  als  Reibungsbreccie  zwischen 
dem  Anstehenden  und  den  dislocirten  Schollen  entstanden  ist.  Wir 
hoben  den  Unterschied  hervor,  es  wurde  das  aber  von  uns  vielleicht  noch 
nicht  genügend  scharf  zum  Ausdruck  gebracht  und  soll  deshalb,  um  jeden 
Irrthum  zu  vermeiden,  nochmals  besonders  betont  werden.  Die  »Bunte 
Breccie«  Gümbel's  unter  den  miocänen  Auflagerungen  im  Rieskessel  ist 
also  zum  gröfseren  oder  geringeren  Theile  ein  Sediment,  analog  z.  B.  den 
den  Arkosen  zwischen  dem  Buntsandstein  und  Urgebirge  im  Schwarzwald. 

Was  wir  aber  unter  »Bunter  Breccie«  verstehen,  ist  nur  die  Reibungs- 
breccie,  wie  sie  namentlich  am  Rande  des  Rieskessels  (z.  B.  Edemheim, 
Fluetschenhäuserhof)  sehr  häufig  als  ein  Product  der  Aufackermig  und 
Schleppung  zwischen  einer  überschobenen  Scholle  und  dem  anstehenden 
Gebirge  auftritt;  und  im  Vorriese  als  ein  Product  der  Au^ressimg.  Auch 
durch  Auswurf  (S.  15,  64)  entstanden  solche  Massen.  Diese  sind  allerdings 
nicht  mehr  »Bunte  Breccie«,  d.  h.  Reibungsproduct ;  aber  sie  lassen  sich 
von  letzterer  sehr  schwer  oder  gar  nicht  unterscheiden  (s.  Abschn.  V). 

Nur  mit  dieser  »Bunten  Breccie«  können  wir  die  Lauchheimer  Breccie 
vergleichen;  imd  zwar  speciell  eignet  sich,  des  relativ  günstigen  Auf- 
schlusses wegen,  hierzu  besonders  das  Vorkommen  am  Fluetschenhäuserhof.* 
Dort  finden  wir  wirr  dmrcheinandergeknetet  dunkle  Jura-  und  rothe  Keuper- 
Thone,  durchsetzt  von  Stücken  altkrystalliner  Gesteine. 

Dieser  Bunten  Breccie  gleicht  mithin  die  Lauchheimer  Breceie  völlig 
in  Structui-  und  zum  Theil  in  Zusammensetzung.     In  letzterer  Beziehung 

^    Das  vulcanische  Ries.    S.  133. 


Bas  vuhamische  Vorries.  101 

waltet  nSmlich  der  Unterschied  ob,  dals  Stücke  tertiärer  Gesteine  und 
Buchberg- Gerolle,  wie  sie  in  der  Lauchheimer  Breccie  auftreten,  in  jener 
Bunten  Breccie  nicht  gefunden  wurden.*  Dieser  Unterschied  wird  sich 
dadurch  erkl&ren  lassen,  daüs  die  Lauchheimer  Breccie  eine  Mischimg  von 
Bunter  Breccie  und  überschobener  Scholle  darstellt,  welche  letztere  bei 
dem  weiten  Transporte  den  inneren  Verband  und  Zusammenhang  völlig 
verloren  hat,  den  die  überschobenen  Schollen  vom  Buchberg  und  Herts- 
feldhausen  so  vollständig  bewahrt  haben. 

Vergleich  mit  anderen  übersehobenen  Schollen.  Wir  wollen  nun 
die  Richtigkeit  der  Auffassung,  da£s  die  Lauchheimer  Masse  ebenfalls  eine 
überschobene  Scholle  sei,  durch  ihren  Vergleich  mit  jenen  soeben  genann- 
ten überschobenen  Schollen  prüfen,  indem  wir  die  beiderseitigen  Profile 
gegenüberstellen. 

Vorausgeschickt  sei  ein  Vergleich  des  Profiles  vom  Buchberge  mit  dem 
von  Hertsf eidhausen ;  von  Knebel  hat  das  Letztere  durch  seine  Untersuchung^ 
festgestellt.     Es  zeigt  sich  von  oben  nach  unten: 

Hertsfeldhausen.  Buchberg. 

^JfJ  'c  ^^  Weifs-Jura,  meist         \ 

\  überschoben  schon  weggewaschen  >  überschoben 

Braun -Jura)  -n  t  \ 

Braun -Jura  ; 

Buchberg-Geröüe  gekritzt  Buchberg -GerOlle  gekritzt 

Überschiebungsfläche    auf  anstehen-     Übersehiebungsfläche   auf   anstehen- 
dem Weifs-Jura.  dem  Weifs-Jura. 

Aus  den  obigen  Profilen  ergeben  sich  die  folgenden  Schlüsse: 
Beide  Schollen  sind  darin  gleich ,  dafs  sie  nicht  nur  aus  Braun- ,  son- 
dern auch  aus  Weifs-Jura  bestehen  und  dafs  sie  beide  mehr  oder  weniger 
den  inneren  Verband  bewahrt  haben. 

Beide  Schollen  liegen  oben  auf  dem  Weife -Jura,  sind  folglich  über- 
schoben, nicht  aufgeprefst. 

^  Auch  Hefs  sich,  weil  der  Aufschlufs  nicht  tief  genug  war,  die  Frage  nicht  entscheiden, 
ob  die  Bunte  Breccie  direct,  oder  mit  Zwischenlagerung  von  Buchberg-Gerollsand,  den  Weifs- 
Jura  am  Fluetschenh&userhof  Oberlagert 

'  Beitrige  zur  Kenntnils  der  Überschiebungen  am  vulcanischen  Ries.  Inaug.  -  Dissert. 
Berlin  1902.    Zeitachr.  d.  D.  Geol.  Ges.  1902. 


102  Brango: 

Unter  beiden  Schollen  liegt  in  gleicher  Weise  der  Geröllsand  mit  den 
gekritzten  BuchberggeröUen ,  der  folglich  hier  wie  dort  eine,  bereits  vor 
der  Überschiebung  vorhanden  gewesene  Ablagerung  darstellt. 

Unter  beiden  Schollen,  bez.  Geröllsandmassen,  ist  die  Oberfläche  des 
anstehenden  Weifs-Jura  geglättet  und  in  derselben,  ungefähr  0. — W.  laufen- 
den Richtung  geschrammt. 

Beide  Schollen  sind  daher  in  derselben  Richtung  und  offenbar  doch 
durch  dieselbe  Kraft  vom  Riese  her  auf  die  Alb  hinaufgeschoben  worden. 

Diesen  beiden  Profilen  wollen  wir  nun  das  Profil  der  Lauchheimer 
Breccie  gegenüberstellen. 

Buchberg,  Hertsfeldhausen.  Lauchheimer  Breccie. 

1.  Braun-  und  Weifs-Jura,  deutlich  Breccie,  wirres,  ungeschichtetes  Ge- 
geschichtet, daher  ohne  Buchberg-  menge  mit  Buchberg-  Gerollen  und 
GeröUe  imd  Tertiär- Gesteine  im  Tertiär -Gesteinen  im  Innern  der 
Innern.  Masse. 

2.  Gekritzte  Buchberg -G^rölle  und  Buchberg -GeröUe  imd  Sand,  zum 
Sand  als  loser  Geröllsand;  das  Theil  als  festes  Conglomerat ,  letzte- 
Ganze  vorwärts  geschoben  und  res  ist  an  seiner  Oberfläche  geglättet 
dabei  Stücke  von  Jura -Gestein  in  und  geschrammt;  kein  Jura-Grestein 
den  Sand  gepreist.  in  das  harte  Conglomerat  hinein- 

geprefet. 
3-    Anstehender  Weifs-Jura  mit  ehe-     Anstehender  Weife  -  Jura  )8  mit    un- 
ner  Oberfläche,  geglättet  und  ge-         ebener  Oberfläche,    geglättet   und 
schrammt.  geschrammt. 

Wie  man  sieht,  findet  bezüglich  der  Lagerung  hier  wie  dort  völlige 
Übereinstimmung  statt,  denn  wir  haben  von  oben  nach  unten:  überge- 
schobene Masse,  Buehberg- Geröllsand,  Weifs-Jura  mit  geglätteter  und  ge- 
schrammter Oberfläche. 

In  Structur  und  Zusammensetzung  der  beiderseitigen  überschobenen 
Massen  aber  mangelt  jegliche  Übereinstimmung:  dort  liegt  je  eine  aus 
Braun -Jura  und  Weifs-Jura  bestehende  Scholle,  welche  ziemlich  intact,  mit 
erhaltener  Schichtung  und  Reihenfolge  seiner  Glieder,  als  ein  Ganzes  und 
ohne  dafs  fremde  Gesteinsstücke  in  die  Scholle  aufgenommen  werden  konnten, 
hierher  geschoben  wurden.^ 

^  Durch  spätere  Erosion  sind  dann  freilich  am  Buehberg  die  oberen  Schichten  des 
Braun -Jura  und  des  Wdfs-Jura  fast  ganz  entfernt  worden,  so  dafs  wesentlich  nur  Braun- 


Das  vuloanische  Vorries.  103 

Hier,  am  Lauchheimer  Tunnel,  besteht  die  Überschiebung  aus  einer 
chaotischen,  durcheiuandergemengten  Masse  von  Braim-Jura,  Weifs-Jura, 
Tertiär  und  tertiären,  gekritzten  Buchberg- Gerollen. 

In  Folge  dieser  Unterschiede  in  Structur  und  Zusammensetzung  ent- 
steht nun  die  Frage: 

Ist  die  ganze  Lauchheimer  Breccie  gleichwerthig  nur  dem  Geröllsande 
im  Buchberg- Schachte,  und  zwar  das  lediglich  darum,  weil  einerseits  sie 
gekritzte  Buchberg -Gerolle  fuhrt,  welche  sie  aus  dem  Geröllsande  von  unten 
her  aufiiahm,  und  weil  andererseits  im  Buchberg -Schachte  der  unterliegende 
Geröllsand  von  oben  her  hineingeprelste  Jura- Gesteinsstücke  aufnahm  und 
zugleich  wohl  auch  etwas  vorwärts  geschoben  wurde?  Wenn  ja,  dann 
wOrde  am  Lauchheimer  Tunnel  eine  dem  Braun -Jura  des  Buchberges  ent- 
sprechende Scholle  überhaupt  ganz  fehlen. 

Oder  ist  die  Breccie  vom  Lauchheimer  Tunnel  eine  über  die  Buch- 
berg-GreröUe  geschobene  Masse,  also  lediglich  gleichwerthig  der  Braun -Jura- 
Scholle  des  Buchberges ,  nur  aus  anderen  Materialien  bestehend  und  anders 
behandelt,  daher  anders  struirt  wie  diese;  ist  sie  also  lediglich  über- 
schobener  Schutt  anstatt  einer  dort  überschobenen  festen  Scholle? 

Oder  endlich  ist  die  Lauchheimer  Breccie  gleichwerthig  der  über- 
schobenen Braun -Jura- Scholle  des  Buchberges  plus  dem  ein  wenig  vor- 
wärt.s  geschobenen  Geröllsande  im  Schachte? 

Die  Bejahimg  der  Frage  im  letzteren  Sinne  würde  vielleicht  am  ge- 
nauesten das  Richtige  treffen,  da  die  Lauchheimer  Breccie  offenbar  Theile 
des  Geröllsandes  in  sich  aufgenommen  hat ;  diese  sind  mithin  ebenso  dislo- 
cirt,  wie  der  Geröllsand  unter  der  Buchberg -Kappe  etwas  vorwärts  ge- 
schoben, also  dislocirt  ist.  Aber  eine  Entscheidung  entweder  zu  Gunsten 
der  zweiten  oder  zu  der  der  dritten  Frage  liefe  auf  Spitzfindigkeiten  hin- 
aus. Es  genügt,  die  erste  Frage  jedenfalls  zu  verneinen  und  die 
Lauchheimer  Breccie  für  eine  überschobene  Masse,  also  als 
gleichwerthig  mit  jenen  vom  Buchberg  und  Hertsfeldhausen 
hinzustellen,  nur  anders  behandelt,  daher  anders  struirt  als 
diese,  aber  doch  durch  dieselbe  Kraft  überschoben. 


Jura  a  und  ß  übng  blieben.  Jedoch  gehört  die  überschobene  Weifs- Jura -Scholle  der  Bei- 
biirg  ja  ebenfalls  mit  tax  dieser  Buchberg- Masse,  wenn  sie  auch  räumlich  von  derselben 
etwas  getrennt  liegt. 


104  Brango: 

Welche  Kraft?  Chaotische  Structur  ist  freilich  den  Moränen  eigen. 
Aber  sie  kommt  doch  nicht  allein  diesen  zu,  sondern  auch  mancherlei 
anderen  Bildungen.  Jeder  Bergsturz,  sei  er  nur  durch  die  Schwere  ver- 
ursacht,  oder  habe  er  seinen  ersten  Anstofs  durch  eine  Explosion  erhalten, 
jede  durch  Regengüsse  erzeugte  Mure,  jede  durch  Lawinen  plötzlich  zu 
Thal  gebrachte  Schuttmasse,  jede  ganz  allmählich  angesammelte  Gehäuge- 
schuttbildung,  jedes  unter  einer  übersehobenen  Gebirgsmasse  zerdrückte  und 
gequälte  Gestein  besitzen  mehr  oder  weniger  eine  ebensolohe  wirre  Structur. 

Wirre  Structur  ist  also  so  wenig  ein  ausschlielsliches  Merkmal  einer 
Moräne,  dais  ihr  Vorhandensein  in  der  Lauchheimer  Breccie  keineswegs  als 
ein  irgeiidwie  sicherer  Beweis  fiir  deren  Moränen -Natur  betrachtet  wer- 
den kann. 

Das  Auftreten  gekritzter  GerGUe  in  einer  wirr  durcheinandergemengten 
Masse  ist  aber  ebenfalls  für  die  Moränen -Natur  der  Masse  durchaus  nicht 
anstandslos  beweisend,  weil  solche  GeröUe  sehr  wohl  im  bereits  gekritzten 
Zustande  von  der  Masse  aufgenommen  worden  sein  können. 

Dazu  gesellt  sich  ein  weiterer  Grund,  welcher  das  Zeugnifs,  das  diese 
gekritzten  GeröUe  etwa  doch  für  einen  glacialen  Ursprung  geben  könnten, 
noch  mehr  verdächtigt.  Es  ist  das  die  Thatsache ,  dafs  neben  jenen  gekritzten 
KalkgeröUen  auch  zahlreiche  andere  Kalksteine  in  dieser  Lauchheimer  Breccie 
sich  fanden,  welche  durchaus  eckig  und  nicht  gekritzt  waren.  Falls  nun 
wirklich  die  Buchberg- GeröUe  erst  in  der  Lauchheimer  Breccie,  als  einer 
Grundmoräne ,  gekritzt  und  abgerundet  worden  wären ,  dann  hätte  doch  jene 
zahlreichen  anderen  ICalkstücke  in  derselben  wenigstens  mehr  oder  weniger 
ein  gleiches  Loos  getroffen  haben  müssen.  Das  war  aber  nicht  der  FaU ;  und 
das  erklärt  sich  sehr  einfach  dadurch,  dals  die  Buchberg-GrerOUe  ihre  Rundung 
und  Eritzung  eben  nicht  erst  in  der  Breccie  erhielten. 

Noch  ein  anderer,  wie  uns  scheint  sehr  gewichtiger  Grund  spricht  dafür, 
dafs  die  Lauchheimer  Breccie  keine  Untergrundmoräne  sein  kann.  Er  Uegt 
in  den  ganz  eigenthümlichen  Structurverhältnissen  derselben,  welche  trotz 
des  Chaotischen  dennoch  von  demjenigen  weit  abweichen,  was  fftr  Unter- 
grundmoränen die  Regel  ist.  Wir  fuhren  im  Folgenden  die  darauf  bezügUchen 
Worte  des  Hm.  CoUegen  Sauer  an,  mit  welchen  er*  seine  bei  den  Auf- 
grabungen am  Lauchheimer  Tunnel  gemachten  Beobachtungen  aufzeichnete 
und  uns  freundUchst  zur  Verfugung  stellte. 

^    S.  92  Anm. 


Das  tmlcanische  Vorries.  105 

Die  angebliche  Moräne,  sagt  Sauer,  welche  als  Lauchheimer  Breccie 
bezeichnet  wird,  »fuhrt  reichlich  gekritzte  Geschiebe,  ist  genau  so  sandig- 
thonig  wie  ein  gewöhnlicher  Greschiebelehm,  eher  vielleicht  noch  etwas  tho- 
niger  und  gleicht  einem  solchen  auch  in  seiner  schmutzig  bräunlich -grauen 
Farbe.  Die  zu  dieser  chaotisch  struirten  Masse  verwirthschafteten  Bildungen 
scheinen  Bunte  Keuper- Mergel,  verschiedene  Jura-Thone,  die  Jura-Nagel- 
fluh, die  wohl  vorwiegend  die  gro&en  WeÜs-Jura-Grerölle  geliefert  hat  und 
Sande  gewesen  zu  sein,  die  als  Facies  dieser  Nagelfluh  auftreten.  Bei  der 
Untersuchung  fiel  mir  gleich  Anfangs  etwas  in  der  Structur  fiir  eine  Grund- 
morSne  Fremdartiges  auf«. 

»Das  Abweichende  beruht  in  einer  besonderen  Art  der  Einbettung  des 
gesammten  gröberen  Antheiles  der  Masse  bis  zu  den  Sandkörnern  herab.  Bei 
einer  echten  Grundmoräne,  wenigstens  soweit  mir  dieselbe  aus  meiner  lang- 
jährigen Beschäftigung  mit  dem  nordischen  Diluvium  bei  Halle  und  in  Sachsen 
bekannt  geworden  ist,  zeigt  sich  gröbstes,  grobes,  sandiges  und  thoniges 
Material  zu  einer  fast  betonartig  festen  Masse  verbunden.  Demgegenüber 
läfst  nun  die  moränenartige  Masse  am  Lauchheimer  Tunnel  eine  gewisse, 
recht  feste  Packung  zwar  auch  nicht  vermissen.  Aber  es  fehlt  für  die  Ge- 
schiebe, ja  man  kann  sagen,  für  das  gesammte  Geschiebematerial  bis  zu  den 
Sandkömchen  herab ,  jene  innige  Verkleisterung  mit  dem  thonigen  Cement, 
wie  wir  das  als  charakteristisch  fbr  die  Structur  der  echten  glacialen  Grund- 
moränen erkennen.  Dieses  Fehlen  des  festen  Verbandes  äufsert  sich  hier 
darin,  dals  GeröUe,  GeröUchen  und  Sandkömchen  sich  meist  ziemlich  leicht 
aus  der  thonigen  Matrix  herauslösen  lassen,  wobei  man  erkennt,  dafs  sie 
einen  glänzenden  Abdruck  hinterlassen ,  gewissermafsen  von  einem  Spiegel 
umgeben  sind.« 

»Besonders  bei  gröfseren  Geschieben  wird  das  bisweilen  recht  auffällig. 
»Hohlspiegelstructur«   scheint  mir  daför  ein  geeigneter  Ausdruck  zu  sein.« 

»Hat  man  sich  erst  einmal  mit  dieser  eigenartigen  Erscheinung  vertraut 
gemacht  und  den  Blick  dafilr  geschärft,  dann  gelingt  es,  dieselbe  auch  noch 
in  mikroskopischen  Dimensionen  beim  Mustern  der  Stücke  mit  der  Lupe  zu 
erkennen,  und  man  findet,  dafs  fast  jedes  Sandkömchen  sich,  einen  spie- 
gelnden Eindruck  hinterlassend,  herauslöst.« 

»Auch  bei  Schmähingen  habe  ich  Ähnliches  gefunden.« 

»Etwas  Ähnliches  ist  mir  bei  der  Structur  einer  echten  glacialen  Grund- 
moräne bisher  noch  nicht  aufgefallen  oder  bekannt  geworden,  ja  es  kann 

Phys.Abh.    1902,    I.  14 


' 


106  Branco: 

und  darf  meines  Eraehtens  bei  dieser  der  Regel  nach  nicht  auftreten;  und 
zwar,  wie  ich  meine,  aus  folgenden  Gmnden.  Die  glänzende  Beschaffenheit 
des  Abdruckes  aller  festen  widerstandsfähigen  GerÖlle  und  GeröUchen  in  der 
moränenartigen  Masse  am  Lauchheimer  Tunnel  ist  hervorgebracht  zu  denken 
durch  einen  starken  Druck,  der  in  einer  vorherrschenden  zähplastischen, 
vielleicht  fast  trockenen,  vielleicht  nur  bergfeuchten  Thonmasse  grobes  und 
feines ,  hartes  Material  verknetete.  Wie  man  mit  einem  harten  Gegenstande 
durch  Druck  auf  einer  rauhen  Thonmasse,  sofern  diese  trocken  oder  nur 
mäCsig  feucht  ist,  einen  Spiegel  erzeugen  kann,  so  ist  auch  anzunehmen, 
dafs  bei  Verknetung  von  Thonsubstanz  ähnlicher  Beschaffenheit  mit  festen 
Gesteinsbrocken  unter  groljsem  Druck  um  diese  herum  um  so  eher  ein  glatter 
Abdruck  entstehen  mufs,  als  die  speckige  Beschaffenheit  der  Thonmasse 
selbst  eine  gewisse  Glättung  dieser  Brocken  an  ihrer  Oberfläche  bewirkt. 
Um  derartige  Wirkungen  hervorzubringen  >  darf  aber  die  Thonmasse  nicht 
stark  wasserhaltig,  nicht  schmierig  oder  gar  breiig  sein.« 

»Dem  gegenüber  dürfte  es  wohl  zunächst  keinem  Zweifel  unterliegen, 
dafs  eine  jede  echte  glaciale  Grundmoräne  bei  ihrer  Bildung  sich  im  Zustande 
reichlichster  Durchtränkimg  mit  Wasser  befunden  haben  mufs.  Man  wird 
daher  im  Allgemeinen  nicht  erwarten  dürfen,  ähnliche  Druckwirkungen,  wie 
die  kurz  geschilderten,  bei  einer  solchen  anzutreffen.  Meines  Wissens  sind 
sie  bisher  auch  noch  nicht  beschrieben  worden.« 

»Solche  glatte  Ablösungsflächen  sind  nun  aber,  wie  gesagt,  die  Regel 
fEkr  die  Geschiebe  jeder  Gröfse  bis  hinab  zu  den  kleinsten  Sandkömchen  in 
der  moränenartigen  Bildung  am  Lauchheimer  Tunnel.  Ihr  Vorkommen  be- 
weist daher,  dafs  die  gesammte  Gesteins-  und  Thonmasse  mehr  oder  weniger 
trocken  verarbeitet  wurde  und  daher  bei  aller  sonstigen  Ähnlichkeit  mit 
einer  glacialen  Grundmoräne  genetisch  scharf  von  dieser  zu  trennen  ist.« 

» Zuletzt  mag  noch  kurz  darauf  hingewiesen  werden  —  ich  deutete  das 
schon  an  — ,  dafs  bei  dieser  trockenen  oder  nur  schwach  feuchten  Verknetung 
alle  harten  Gesteinsbröckchen,  trotz  vielfach  ganz  irregulär,  eckig-splitteriger 
Begrenzung  eine  fett-  bis  firnisglänzende  Oberfläche  erhalten  haben ,  die  auch 
dem  Geschiebematerial  der  echten  glacialen  Grundmoräne  fehlt.  Dagegen  tritt 
sie  bemerkenswertherweise  wiederum  auf,  nach  Noetling's  Beschreibung, 
an  den  Geschieben  der  indischen  paläozoischen  moränenartigen  Bildungen.« 

»Ich  bezweifle  es  keinen  Augenblick,  dafs  auch  in  einer  echten  Grund- 
moräne derartige  Erscheinungen  sich  zeigen  können,  ja  unter  besonderen 


Das  mUoanische  Vorries.  107 

Umständen  sich  zeigen  müssen,  und  halte  die  Bedingungen  dazu  ftir  gegeben, 
wenn  die  Grundmoräne  local  thonige  Massen ,  z.  B.  Septarienthon ,  Keuper- 
mergel  u.  s.  w.  aus  dem  Untergrunde  aufnimmt  und  denselben  nur  unvoll* 
kommen  verarbeitet.  Werden  dann  etwa  noch  Gerolle  zwischen  die  von  der 
Grundmoräne  nicht  assimilirten  Thonfetzen  geknetet,  dann  könnte  ich  mir 
vorstellen,  dafis  Spiegel  um  jene  entstehen«. 

»Eine  derartige  Facies  der  Grundmoräne  wird  aber  doch  immer  nur  ganz 
local  sein  können  und  sich  nur  auf  die  eingeschlossenen  trockenen  bis  halb- 
trockenen  Thonfetzen  erstrecken;  während,  wie  schon  bemerkt,  eine  Bildung 
von  Spiegeln  vun  die  Gerolle  in  der  normalen ,  also  gleichmäfsig  mit  Wasser 
durchtränkten  Hauptmasse  der  Grundmoräne  för  nicht  wahrscheinlich  zu 
halten  ist,  weil  sie  mit  ihrer  Entstehung  im  Widerspruche  steht.« 

Wir  glauben,  dafs  man  gegen  diese  Darlegung  des  Hm.  Collegen  Sauer 
sich  nicht  wird  verschliefsen  können. 

Doch  noch  ein  Grund  läfst  sich  gegen  einen  Eistransport  dieser  Massen 
anf&hren:  Koken \s  eigene,  wiederholt  in  immer  festerer  Weise  ausge- 
sprochene, bisherige  Überzeugung,  dafs  es  ein  grofser  Fehler  wäre,  die 
Schollen  vom  Buchberg  und  Hertsfeldhausen  als  durch  Eis  verfrachtet  an- 
sehen zu  wollen.  Seine  unten  citirten  Worte  lassen  das  erkennen.*  Ob 
er  diese  Ansicht  nun  gänzlich  oder  nur  zum  Theil  aufgegeben  hat,  darüber 
vennögen  wir  uns  aus  seinen  Äufserungen  leider  kein  klares  Bild  zu 
machen. 


'  »Der  Gletscher  fand  die  aus  Bi*auneiii  Jura  und  Impressa-Thon  bestehende  Kappe 
auf  dein  Buchberg  schon  vor«.  (Neues  Jahrbuch  für  Mineralogie,  Geologie  u.  s.  w.  Jahrg.  1899. 
XII.  Beilageband.    S.  479  und  483.) 

•Genaue  Begehungen  des  Terrains  im  Jalire  1900  haben  im  vollen  Umfange  zunäcliat 
die  Unabhängigkeit  des  glacialen  Phänomens  von  den  Lagerungsverhältnissen  erwiesen . . . « 
•  Die  vollste  Unabhängigkeit  (des  glacialen  Phänomens)  von  den  tektonischen  Verschiebungen 
springt  in  die  Augen«.     (Zeitschrift  d.  Deutschen  Geolog.  Ges.    1900.     S.  65.) 

•Die  Existenz  dieses  senkrecht  aufsteigenden  (vulcanischen)  Schlotes,  der  haarscharf 
an  den  dislocirten  Braunen  Jura-  und  Keuperschichten  (der  Nordlinger  Wasserleitung)  ab- 
stofst,  ist  beweisend  für  das  (höhere)  Alter  der  Dislocationen  gegenüber  dem  jugendlichen 
Alter  des  Moribenschuttes  am  Buchberg«.     (A.a.O.  8.66.) 

•  Von  jeher  ist  von  mir  behauptet  worden,  dafs  das  glaciale  Phänomen  mit  der  ab- 
Dormen  Lage  des  Braunen  Jura  auf  der  Uohe  des  Buchs  (über  Weifsem  Jura)  nichts  zu 
schaffen  habe,  und  dafs  man  den  tektonischen  Vorgang,  welcher  den  Braunen  Jura  dislocirte, 
und  den  glacialen,  welcher  den  dislocirten  Braunen  Jura  randlich  und  oberflächlich  verar- 
beitete, sorgfältig  zu  trennen  habe«.  (Neues  Jahrbuch  für  Mineralogie,  Geologie,  Paläontologie. 
Beilageband  XIV.     S.  161  und  163.) 

14* 


108  Branco: 

Znsammenfassiing  der  für  die  Beurtheilnng  der  Lauehheimer  Breccie 
geftindenen  Anhaltspunkte.  Die  chaotische  Structur  derselben  giebt,  da  sie 
keineswegs  ein  ausschliefslich  den  Grundmoränen  zukommendes  Merkmal  ist, 
keinen  sicheren  Anhalt  für  ihre  glaciale  Entstehung. 

Die  gekritzten  Buchberg -Gerolle,  welche  in  der  Lauehheimer  Breccie 
liegen,  sind,  wie  schon  früher  dargelegt,  nicht  erst  in  derselben  gekritzt 
worden,  sondern  in  schon  geschrammtem  Zustande  von  ihr  aufgenommen. 
Sie  wurden  geschrammt  durch  den  Druck  einer  über  sie  hingeschobenen 
Masse.    Ihr  Vorkommen  in  der  Lauehheimer  Breccie  giebt  mithin  ebenfalls  i 

keinen  Beweis  für  deren  glaciale  Herkimft. 

Die  anderen  in  der  Lauehheimer  Breccie  liegenden  Gesteinsstücke  sind 
eckig  und  ungekritzt,  was  sogar  gegen  eine  glaciale  Bildung  der  Breccie  spricht. 

Die  Hohlspiegelstructur  der  letzteren  ist  ein  Kennzeichen,  welches  auf 
trockene ,  somit  in  sehr  viel  höherem  Mafse  auf  nicht  glaciale  Entstehungs- 
weise der  Breccie  hindeutet  als  auf  glaciale. 

Das  Profil  am  Lauehheimer  Tunnel  stimmt  so  sehr  mit  dem  Profile  am 
Buchberg  und  bei  Hertsfeldhausen  überein,  dals  man  noth wendig  gleiche 
Bildungsweise  für  diese  drei  Massen  annehmen  mufs.  Unmöglich  kann  man 
letztere  beide  als  durch  Eis  verfirachtet  ansehen.    Folglich  auch  nicht  erstere. 

Der  Unterschied  zwischen  den  beiderseitigen  Massen  ist  wesentlich 
ein  structureller,  hervorgerufen  dadurch,  dafe  nach  dem  Buchberg  und 
nach  Hertsfeldhausen  zusammenh&agende  GebirgsschoUen,  nach  Lauchheim 
aber  eine  Schuttmasse  geschoben  wurden. 

Das  Vorhandensein  obermiocaner  Gesteinsstücke  in  der  Lauehheimer 
Breccie  ist  bisher  durch  keinerlei  handgreifliche  Belegstücke  erwiesen. 
Selbst  wenn  es  aber  erwiesen  wäre,  so  würde  auch  dann  noch  keines- 
wegs ein  Transport  der  Breccie  zu  diluvialer  Zeit  und  noch  viel  weniger 
ein  solcher  durch  Eis  damit  bewiesen  sein.  Einmal  folgt  auf  das  Ober- 
miocän  zunächst  das  Pliocän,  in  welchem  dann  die  Entstehung  der  Laueh- 
heimer Breccie  erfolgt  sein  könnte.  Ferner  sind  obermiocäne  Ablagerungen 
bez.  Gesteinsstücke  doch  nicht  auf  das  Ries  beschränkt,  sondern  haben 
auch  auf  der  Alb  sich  gebildet;  sie  könnten  also  —  falls  Stücke  derselben 
in  der  Lauehheimer  Breccie  lägen  —  sehr  wohl  von  der  Alb  herstammen. 
Man  sieht,  dafs  selbst  bei  einem  Vorhandensein  obermiocaner  Gesteins- 
stücke in  der  Lauehheimer  Breccie  ein  glacialer  Transport  derselben  aus 
dem  Riese  heraus  nicht  im  mindesten  erwiesen  sein  würde. 


Das  viUcanische  Vorries.  109 


V.  Die  grofsen  Massen  Bunter  Breeeie  nördlich  von  Donauwörth 

auf  der  Alb. 

Im  S.  des  Rieses,  östlich  des  Wömitzthales  und  von  Ebennergen, 
auf  der  waldigen  Albhöhe,  werden  gegenwärtig  Probeschächte  för  die 
neue  Eisenbahnlinie  Donauwörth -Treuchtlingen  gemacht;  diese  erschliefsen 
bis  zu  ihren  verschiedenen  Tiefen  von  5*  bez.  10",  ja  17"  überall  das- 
selbe Bild  eines  wirr  durcheinandergequälten,  weichen,  schmierigen  Ge- 
steines, in  dem  sich  Eeuperthon,  Braun- Jura -Thon  und  seltene  Weifs-Jura- 
Stücke  erkennen  lassen.  Letztere  sind  nie  an  Ecken  und  Kanten  gerundet, 
nie  geglättet  oder  gekritzt,  abgesehen  von  vielleicht  sich  noch  findenden 
Buchberg -Gerollen.  Auch  ein  WasserrÜs,  der  in  das  Wömitzthal  hinab- 
zieht, zeigt  einen  schönen  Aufschluls  in  dieser  selben  Masse  und  läfst  grolse 
Fetzen  Braun -Jura,  vielleicht  auch  von  Lias  8  (schwarze  harte  Ealkknauem 
und  Schwefelkies)  erkennen.  Von  Tertiär-Gesteinen  aber  fitnd  sich  keine  Spur. 

Diese  Masse  gleicht  der  Lauchheimer  Breccie  bez.  der  Bunten 
Breccie  dem  Wesen  nach  vollständig,  wenn  auch  die  Zusammen- 
setzung der  Lauchheimer  Masse  eine  complicirtere  ist.  Sie  be- 
deckt offenbar  das  dortige  Albplateau  überall  und  in  grofser 
Mächtigkeit. 

Leider  war  bisher  nirgends  das  Liegende  dieser  Masse  aufgeschlossen, 
so  dals  es  also  vor  der  Hand  unentschieden  bleiben  mufs,  ob  unter  der- 
selben, wie  bei  Lauchheim ,  Buchberg-Geröllsand  und  geglätteter  geschramm- 
ter Weifs-Jura  liegen.  Wir  hoffen,  diese  Frage  durch  weiteres  Schürfen 
bald  entscheiden  zu  können. 

Durch  Eis,  als  Grundmoräne  kann  diese  Masse  nicht  fortgeschoben  sein; 
denn  dann  würden  die  Kalkstücke  in  derselben  sicher  an  Ecken  und  Kanten 
gerundet  und  geschliffen  sein,  und  das  ist  nicht  der  Fall. 

Aus  dem  Riese  bez.  Vorriese  stammt  sie  wohl  sicher;  daför  spricht 
ihre  derjenigen  der  Bunten  Breccie  ähnliche  Zusammensetzimg. 

Sie  scheint  auch  bereits  vor  der  Obermiocänzeit  hierher  geschoben  zu 
sein;  sonst  würde  sie  obermiocäne  Gesteine  fähren,  die  wir,  bis  jetzt  we- 
nigstens, vergeblich  in  ihr  suchten.     Auch   das  Vorkommen   von  Fetzen 


110  Branoo: 

diCvser  selben  Masse,  d.  h.  von  Keuper-  und  Jura-Thon,  im  mittelmiocänen 
oberen  Meeressande,  westlich  von  Donauwörth  (S.  15,  64),  spricht  ebenfalls 
dafär,  dafs  sie  bereits  in  mittelmiocftner  Zeit  an  die  Alb -Oberfläche  be- 
fördert worden  ist. 

Auf  welche  Weise?  Während  die  letztgenannten  Fetzen  bei  der  Ex- 
plosion sehr  wohl  ausgeschleudert  sein  können,  ist  das  bei  dieser  ausge- 
dehnten sehr  mächtigen  Masse  schwer  anzunehmen. 

Liegt  hier  eine  grofse  Uberschiebungsmasse  vor,  die  mit  Hülfe  der 
Explosion  vom  Riesberge  nach  SO.  abgeglitten  wäre,  so  würde  sich  för 
dieselbe  eine  Entfernung  von  6^  vom  Riesrande  ab  ergeben;  also  eine 
gleiche  Wegstrecke,  wie  sie  die  am  weitesten  vorgeschossenen,  im  W.  des 
Rieses  gelegenen  Uberschiebungsmassen  zurückgelegt  haben. 

Es  ist  aber  hierbei  auch  zu  erwägen,  ob  diese  offenbar  weiter  ver- 
breitete thonige  Masse  sich  überhaupt  noch  auf  der  secundären  Lagerstätte 
befindet,  auf  die  hin  sie  abgefahren  war;  ob  sie  nicht  vielmehr  schon  auf 
tertiärer  Lagerstätte  liegt,  insofern,  als  sie  durch  die  Atmosphärilien  weiter 
und  weiter  verbreitet  und  zugleich  eingeebnet  worden  ist.  Sobald  man 
diese  Möglichkeit  in's  Auge  fafst,  verliert  aber  auch  die  erstgenannte  Alter- 
native mehr  an  Un Wahrscheinlichkeit;  denn  von  einer  solchen  späteren  Ver- 
breitung durch  Atmosphärilien  könnten  natürlich  auch  sehr  wohl  die  bei 
der  Explosion  ausgeschleuderten  Massen  betroffen  worden  sein. 

Für  eine  solche  spätere  Ausbreitung,  also  f&r  eine  Überführung  auf 
tertiäre  Lagerstätte,  in  diesem  oder  jenem  Falle  könnte  vielleicht  die  relative 
Seltenheit  an  Stücken  von  Weifs -Jura-Kalk  sprechen;  denn  bei  einem  Auf- 
bereitungsprocesse  mufsten  die  thonigen  Massen  von  den  Kalkstücken  mehr 
und  mehr  geschieden  werden.  Wogegen  bei  den  durch  Auswurf  oder  Ab- 
rutschung auf  secundäre  Lagerstätte  beförderten  Massen,  so  weit  sie  wirr 
struirt  waren ,  wohl  eher  eine  Durchmengung  verschiedenartiger  Gesteins- 
arten eintreten  mu&te. 

Gegenüber  einer  so  weit  ausgedehnten  thonigen  Masse  am  Riese  ist 
aber  auch  die  Vorstellung  nicht  ohne  Weiteres  abzulehnen,  dafs  hier  ein 
grofser  Schlanunstrom  vorliegen  könnte.  Da,  wo  bei  Vulcanausbrüchen 
gröfsere  Wassermassen  vorhanden  sind,  entstehen  nicht  so  selten  Schlamm- 
tuffströme.^    Das  gänzliche  Fehlen  vulcanischen  Tuffmaterials  in  dieser  frag- 

'  W.  Br  an  c  o ,  »Schwabens  Vulcan- Embryonen.  Theil  IlT  S.  683 — 702 :  Die  verschiedenen 
Arien  von  Tuffen. 


Das  tmhafMche  Vorries.  111 

liehen  Masse  bei  Ebennergen  könnte  fireilich  sofort  gegen  die  Möglichkeit 
eines  solchen  Gedankens  sprechen.  Indessen  mufs  man  sich  vergegenwär- 
tigen, dafs  im  Riese  die  vulcanischen  Tuffe  überhaupt  in  den  Hintergrund 
treten,  und  dais  zudem,  wie  wir  uns  zu  zeigen  bemühen,  die  grofse  Ex- 
plosion ganz  unabhängig  von  solchen  Tuff-Eruptionen  gewesen  sein  dürfte, 
da  letztere  derselben  erst  nachfolgten.  Man  mufs  sich  femer  vergegen- 
wärtigen, dafis  diese  grofse  Explosion  schwerlich  durch  die  vom  Magma 
absorbirt  gewesenen  Gase  hervorgerufen  worden  sein  kann,  sondern  wohl 
durch  die  plötzliche  Verwandlung  grofeer  unterirdischer  Wassermassen  in 
Dampf  entstanden  sein  kann.  Hier  hätten  wir  also  die  genügenden  Wasser- 
massen zur  Verfugung;  bei  der  Explosion  wären  sie  gleichzeitig  mit  den 
thonigen  Gesteinsmassen  als  dicker  Brei  herausgestoüsen  worden.  Auf  solche 
Weise  würde  sich  auch  die  geringe  Beimengung  von  Weifs-Jura-Kalk  erklären. 

Es  giebt  indessen  noch  eine  weitere  Möglichkeit.  Man  könnte  daran 
denken,  dats  diese  hart  östlich  des  Wörnitzthales  auflretenden  thonigen 
Massen  ihre  Entstehung  deijenigen  dieses  Thaies  verdankten.  Letzteres  ist 
durch  eine  grabenfSrmige  Einsenkung  entstanden.  Bei  diesem  Vorgange 
könnten  die  Keuper-  und  Jura-Thone  heraufgequetscht  worden  sein. 

Auch  von  S.  her,  vom  Donau -Abbruche  der  Alb,  könnte  man  diese 
Massen  durch  einen  entsprechenden  Vorgang  ableiten  wollen,  indem  sie 
zwischen  der  absinkenden  und  der  stehengebliebenen  Albscholle  herauf- 
geprelst  worden  wären. 

Man  wird  nicht  einwerfen  dürfen,  derartiges  sei  ganz  unmöglich,  da 
diese  Jura-  und  Keuper-Thone  ja  erst  in  ziemlicher  Tiefe  imter  der  Erdober- 
fläche anständen.  Die  plastische  Beschaffenheit  der  Thone  macht  einen  solchen 
Vorgang  immerhin  denkbar.  C.  Diener'  hat  solche  Aufpressungen  unter- 
liegender thoniger  Massen  in  den  Alpen  theils  wahrscheinlich  gemacht,  theils 
kennen  gelehrt. 

Indessen  eine  solche  Erklärung,  wenn  auch  an  sich  möglicli,  kann 
doch  aus  folgendem  Grunde  nicht  gut  aufrecht  erhalten  werden.  Wir  haben 
im  W.  des  Rieses,  so  z.B.  am  Fluetschenhäuserhof*,  schön  aufgeschlossen. 


^  0.  Diener,  Über  den  Eintliirs  der  Erosion  auf  die  Structur  der  sudosUiroIisclien 
Dolomitstocke.  Mittheilting  der  k.  k.  Geogi*.  Ges.  Wien  1900.  8.  28.  Ferner:  F2in  Beitrag  zur 
Geologie  des  Centralstockes  der  Julischen  Alpen.  Jahrbuch  der  k.  k.  Geolog.  Reichsanstait. 
Wien.  34.  Bd.  1884.  8.692. 

'    Das  vulcanische  Ries.     S.  131. 


112  Brango: 

ganz  analoge  Massen  Bunter  Breccie  oben  auf  der  Alb.  Diese  aber  liegen 
theils  von  jenen  Spalten  doch  zu  weit  entfernt,  um  auf  sie  zurückgeführt 
werden  zu  können;  theils  aber  fuhren  sie  auch  Granitstücke,  sind  daher 
wohl  auf  Auswurf  oder  Überschiebung  zurückzufahren. 

Die  Entstehungs weise  dieser  ausgedehnten  und  mächtigen,  wirr  stru- 
irten  thonigen  »Bunten  Breccie«  auf  der  Albhochflftche  bei  Ebermergen 
könnte  also  auf  sehr  verschiedene  Ursachen  zurückgeführt  werden: 

Eis  als  wirkende  Ejraft  anzunehmen,  erscheint  unmöglich,  da  sonst 
die  Kalkstücke  in  dem  Thone  gegl&ttet  sein  müfsten. 

Aufquetschung  auf  der  Wömitz-  oder  der  Donau -Spalte  dürfte  eben- 
falls ausgeschlossen  sein,  weil  man  die  im  W.  des  Rieses  liegenden  gleich- 
artigen Massen  wegen  ihrer  Entfernung  von  jenen  Spalten  schwer  auf  diese 
Ursache  zurückführen  kann. 

Theils  Herausschleuderung  bei  der  Explosion,  theils  Ab- 
rutschung und  Überschiebung  erscheinen  als  die  am  meisten 
einleuchtenden  Ursachen.  Möglich  wftre  aber  auch  Ausstossung 
eines  wäfsrigen  Breies,  eines  Schlammstromes,  bei  der  Explo- 
sion. Laut  der  S.  loo  gegebenen  Definition  wftre  das  dann  keine 
echte  »Bunte  Breccie«  mehr.  Später  dürften  diese  thonigen 
Massen  durch  die  Atmosphärilien  weiter  ausgebreitet  worden 
sein,  als  das  ursprünglich  der  Fall  war. 

Wir  haben  in  unserer  ersten,  soeben  citirten  Arbeit  die  An- 
sicht ausgesprochen,  dafs  diese  thonigen  Massen  Bunter  Breccie 
einst  eine  weite  Verbreitung  auf  der  Alb  gehabt  haben  mögen. 
Durch  die  Aufschlüsse  bei  Ebermergen  findet  diese  Ansicht  eine 
überraschende  Bestätigung.  Es  wird  dadurch  aber  weiter  wahr- 
scheinlich, dafs  auch  noch  an  anderen  Orten,  an  denen  oberfläch- 
lich ebenso  wenig  davon  zu  sehen  ist  wie  bei  Ebermergen,  die 
Bunte  Breccie  auch  heut  noch  die  Albhochfläche  bedecken  mag. 


Das  vuloanische  Vorries.  113 


VI.   Weitere  Beweisgründe  allgemeiner  Natur  gegen  einen 
glacialen  Transport  der  groüsen  übersehobenen  Schollen. 

In  Abschnitt  m  haben  wir  die  Bedenken  geäufsert,  welche  wir  gegen 
eine  glaciale  Deutung  gewisser  specieller  Erscheinungen  im  Riesgebiete  hegen 
zu  müssen  glauben. 

Da&  auch  eine  Reihe  von  Gründen  allgemeiner  Natur  vorhanden  ist, 
welche  gegen  die  Annahme  eines  glacialen  Transportes  der  grolsen  Schollen 
sprechen,  die  unserer  Deutung  nach  durch  vulcanische  Kraft  überschoben 
sind,  das  haben  wir  bereits  in  unseren  früheren  Arbeiten  eingehend  dar- 
gelegt.* 

Nun  hat  jedoch  Koken  neuerdings  der  Ansicht  Ausdruck  gegeben, 
dafs  er  am  Riese  jetzt*  die  Wirkung  von  Gletscherspuren  nur  in  um  so 
höherem  Ma&e  erkennen  müsse.* 

Es  tritt  daher  an  uns  die  Noth wendigkeit  heran,  durch  weitere  Gründe 
die  Vorstellimg  zu  widerlegen,  dafs  die  Buehberg- Seh  olle,  und  damit  auch 
irgend  welche  andere  grofse  überschobene  Schollen,  durch  Eis  an  Ort  und 
Stelle  verfrachtet  sein  könnten;  oder  dafs  sie  auch  nur,  wenn  auch  durch 
andere  Ki&fte  dorthin  verfrachtet,  später  durch  Eis  noch  in  toto  so  weit 

« 

vorwärts  geschoben  sein  könnten,  dafs  dadurch  unter  ihnen  die  Glättung 
und  Schranmiung  der  Buchberg- GeröUe  und  des  Weifs-Jura  bewirkt  worden 
wären.     Diese  Gründe  sollen  im  Folgenden  erörtert  werden. 

Mangel  an  glacialen  Spuren  im  RieskesseL  Wäre  der  Rieskessel 
mit  Eis   erfüllt  gewesen,   so  müfsten   sich  doch  vor  Allem,   d.  h.  in  viel 


^  Das  vulcanische  Ries.  S.  78  —  84,  135,  140;  Beweis  fllr  die  Richtigkeit  unserer 
Deutung  S.  8  [508]. 

'  D.  h.  nachdem  die  Ol&ttung  und  Schranunung  des  Weifs-Jura  ß  und  das  Vor- 
handensein gekritzter  Buchberg- Gerolle  unter  der  ganzen  Braun -Jura -Kappe  des  Buch- 
berges dargethan  ist. 

'  >F(ir  mich  sind  hierdurch  die  Druckwirkungen  des  diluvialen  Eises  in  einer  Weise 
bestätigt,  die  noch  über  meine  früheren  Annahmen  hinausgeht.«  Neues  Jahrb.  f.  Min.,  Geol., 
Pal.    1901.    II,  S.  128. 

Vollkommen  klar  sind  diese  Worte  freilich  nicht.  Auch  das,  was  in  der  neuesten 
Arbeit  Koken 's  (ebenda,  Beilage -Band  XV)  auf  S.  468  darüber  gesagt  ist,  bleibt  ähnlich 
unklar. 

Phys.Abh.   1902.   L  15 


114  Branco: 

liöherera  Grade  als  oben  auf  der  Alb,  unten  auf  dem  Kesselboden  an  vielen 
Orten  Glättung,  Schrammung  und  Grundmoränen  finden.  Koken  selbst 
hebt  das  Fehlen   der  Glättung  und  Schrammung  hier  hervor. 

Der  etwaige  Einwand,  die  Gesteine  seien  nicht  hart  genug  gewesen, 
wäre  auch  nicht  stichhaltig,  da  genügend  harte  Schollen  von  Weifs-Jura- 
Kalk  und  auch  härterer  Tertiär-Kalk  vorhanden  sind.  Und  wo  ist  die  Grund- 
moräne, die  den  ganzen  Riesboden  bedecken  müfste? 

Mango]  tcrtiürer,  durch  Eis  transportirter  Gesteinsmassen  des  Rieses 
oben  auf  der  Alb.  Während  obermiocäner  Zeit  war  der  Rieskessel  von 
einem  See  oder  von  Sümpfen  erfüllt;  auf  deren  Boden  schlugen  sich  die 
Schichten  dieser  Epoche  in  Form  von  Braunkohlen,  den  diese  begleitenden 
Thonen,  von  Cypris-,  Sehnecken-  und  Sprudelkalken  nieder,  welche  sich 
jetzt  noch  in  dem  Kessel  finden.  Zu  Beginn  der  diluvialen  Zeit  bildeten 
sie  folglich  die  Decke  des  Rieskessel -Bodens,  denn  pliocäne  Bildungen  hat 
man  zwischen  den  obermiocänen  und  den  diluvialen  nicht  gefunden  bez. 
nicht  ausscheiden  können. 

Wenn  nun  in  diluvialer  Zeit  das  Eis  diesen  Kessel  erfüllt  und 
aus  seinem  Boden  die  grofsen  Jura-Schollen  herausgebrochen  und 
auf  die  Alb  hinaufgeschoben  hätte,  so  würde  es  doch  vor  Allem 
zuerst  die  oben  aufliegenden  tertiären  Bildungen  aus  dem  Kessel 
heraus  transportirt  haben  müssen. 

Auf  der  Alb  müfsten  mithin  viel  mehr  noch  grofse  Schollen  dieser  ober- 
miocänen Gesteine  liegen ,  als  jurassische.  Das  ist  aber  nicht  der  Fall.  Nur 
in  der  Lauehheimer  Breccie  sollen  solche  vorhanden  sein.^ 

Wie  ist  diese  negative  Thatsache  zu  erklären?  Doch  am  ungezwim- 
gensten  dahin,  dafs  in  diluvialer  Zeit  überhaupt  kein  Transport  von  Ge- 
steinsmassen aus  dem  Rieskessel  auf  die  Alb  hinauf  erfolgt  ist,  dafs  also 
die  auf  die  Alb  geschobenen  Jura -Schollen  bereits  vor  der  diluvialen  Zeit 
aus  dem  Ries  auf  die  Alb  transportirt  waren.  Wenn  dem  so  ist,  dann 
können  diese  Jura-Schollen  natürlich  nicht  durch  Eis  dorthin  verfrachtet  sein. 

Damit  ist  selbstverständlich  über  die  Frage  eines  etwaigen  Vorhanden- 
seins von  Eis  im  Rieskessel  zu  diluvialer  Zeit  noch  keinerlei  Urtheil  ge- 
fallt, sondern  nur  über  eine  transportirende  Wirksamkeit  desselben  gegen- 
über den  fraglichen   grofsen  Schollen;  und   auf  diese  Frage  allein  kommt 


*    Vergl.  darüber  den  Abschnitt  IV.    «Die  Lauehheimer  Breccie«. 


Das  vtUcanische  Vorries.  115 

es  hier  an.  Wird  dennoch  das  ehemalige  Dasein  von  Gletschern  im  Ries- 
kessel wirklich  nachgewiesen ,  so  folgt  daraus  noch  keineswegs  nothwendig 
ein  Transport  jener  grolsen  Schollen  auf  die  Alb  hinauf  durch  dieses  Eis. 

Das  oben  Gesagte  könnte  als  im  Widerspruch  stehend  erscheinen  mit 
den  Aussprüchen  Koken 's,  in  denen  er  sagt,  dafs  in  den  überschobenen 
Massen  Tertiär- Gesteine  lägen*;  und  dafs  man  aus  diesem  Grunde  »in  der 
Erinnerung  behalten  müsse,  dafe  die  angeblichen  Überschiebungen  nach- 
miocän«  sind.  »Schon  jetzt  aber  mufs  ich  Einspruch  erheben  gegen  die 
(von  uns  angeblich  geübte)  Ausmerzung  tertiärer  Gesteine  in  den  über- 
schobenen Massen.« 

Diese  Worte  werden  im  Leser  nothwendig  die  Vorstellung  erwecken 
müssen,  dafs  in  den  überschobenen  grollen  Schollen,  im  Gegensatze  zu 
unserer  Aussage,  stets  tertiäre  Gesteine  vorkämen;  und  dafs  wir  deren 
Dasein  nur  »ausmerzen«  wollten.  Beides  wäre  jedoch  eine  durchaus  un- 
richtige Vorstellung, 

Es  ist  daher  nöthig,  demgegenüber  zunächst  abeimals  klarzustellen, 
was  wir  schon  früher  geltend  machten^,  dafe  tertiäre  Gesteine  natürlich 
in  die  überschobenen  Schollen,  soweit  diese  ihre  Schichtung  bewahrten, 
also  eine  geschlossene  Masse  bildeten,  überhaupt  nicht  hineingelangen  konn- 
ten. Das  gilt  also  gerade  von  den  beiden  hauptsächlich  in  Frage  stehenden 
Schollen  vom  Buchberg  und  von  Hertsfeldhausen*  und  es  gilt  ebenso  von  den 
überschobenen  Weiijs- Jura-Klippen,  soweit  sie  als  Ganzes,  nicht  etwa  als 
Trümmerwerk  transportirt  worden  sind. 

Aber  noch  mehr:  Da  Koken  damals  die  beiden  ersteren  Schollen  (Buch- 
berg, Hertsfeldhausen)  fär  aus  der  Tiefe,  durch  die  Alb  hindurch  aufgepreJfet 
erklärte,  so  sagte  er  selbst  damit  indirect  ebenfalls  aus,  dafs  in  diesen  Schollen 
unmöglich  Tertiär -Gesteine  liegen  können;  denn  unter  der  Albhochfläche 
konnte  kein  Tertiär  liegen  und  aufgeprefst  werden. 

Zunächst  ist  also  gegenüber  jenen  Worten  Koken's  festzu- 
halten, dafs,  selbst  wenn  wir  die  Absicht  gehabt  hätten,  jene 
Tertiär-Gesteine  aus  den  hauptsächlichsten  überschobenen 
Schollen    »ausmerzen«    zu    wollen,    uns    dazu    die    Möglichkeit 


^    Das  SchlifTproblem.    8.  91. 
'    Das  vulcanische  Ries.    S.  loi — 103. 

^   Ob  die  Braun-Jura-Scholle  von  Unter-RifHngen  ihre  Schichtung  bewahrt  hat,  liefse 
sich  nur  durch  eine  Grabung  in  derselben  feststellen. 

15* 


116  Branco: 

gefehlt  haben  würde,  da  in  diesen  Schollen  überhaupt  kein 
Tertiär  liegen  kann,  welche  negative  Thatsache  zudem  auch 
durch  Koken's  Aufpressungshypothese  dieser  Schollen  indirect 
zugegeben  wird. 

Nur  im  Innern  der  wirr  struirten  Lauchheimer  Breccie  könnten  Stücke 
tertiärer  Gesteine  liegen. 

Freilich,  oben  auf  den  überschobenen  Schollen,  oder  in  Spalten  und 
Taschen  derselben,  oder  in  verstürzten,  daher  wirr  struirten  Theilen  dieser 
Schollen  kann  hie  und  da  etwas  Tertiär  obermiocänen  Alters  liegen. 

Aber  würde  durch  diese  Thatsache  etwa  mit  irgend  welcher  Sicherheit 
bewiesen,  dafs  dieses  Obermiocän  bereits  vor  der  Überschiebung  der  Schollen 
auf  ihnen  gelegen  habe  und  mit  ihnen  zugleich  transportirt  sei;  dafs  es  also, 
wie  diese  Schollen,  aus  dem  Innern  des  Ries  stamme?  Nicht  im  mindesten; 
denn  diese  obermiocänen  Ablagerungen  könnten  sich  ja  ebensowohl  auch  erst 
nach  der  zu  mittelmiocäner  Zeit  erfolgten  Überschiebung  der  Schollen  oben 
auf  der  Alb  auf  denselben  gebildet  haben. 

Warum  sollten  denn  tertiäre  Süfswasserbildungen  zu  obermiocäner  Zeit 
gerade  nur  unten,  im  Rieskessel  möglieh  gewesen  sein?  Warum  nicht  auch 
oben  auf  der  Alb?  Thatsächlich  finden  sich  ja  hart  am  Riese  oben  auf  der  Alb 
noch  heut  obermiocäne  Süfewasserbildimgen ,  so  im  0.  bei  Wemding,  wo 
Braunkohlenbildungen  liegen;  und  im  S.W.  oberhalb  Edemheim,  wo  Land- 
schneckenkalke auftreten;  au&erdem  aber  in  etwas  weiterer  Entfernung  vom 
Riese  an  vielen  Orten  im  Vorriese. 

Solche  etwaigen,  oben  auf  den  überschobenen  Schollen  sich 
findenden  Tertiär-Gesteine  brauchen  mithin  durchaus  nicht  aus 
dem  Riese  zu  stammen,  können  vielmehr  auch  von  der  Albhoch- 
fläche  herrühren;  und  lange  nach  der  Überschiebung  der  Schollen  können 
sie  dann  entweder  direct  auf  den  letzteren  sich  gebildet  haben,  oder  von 
anderer  Stelle  her  auf  dieselben  und  oberflächlich  in  sie  hinein  gelangt  sein 
durch  Auswurf  bei  einer  Explosion,  oder  durch  Verstürzung  von  höher 
gelegenen  Orten  herab  durch  Wasser  oder  durch  Lawinen.  Falls  übrigens, 
wie  Koken  will,  eine  Vergletscherung  stattgefunden  haben  sollte,  so 
wäre  eine  solche  oberflächliche  Mischung  obenniocäner,  auf  der  Alb  ent- 
standener Gtesteine  mit  den  dort  lagernden,  durch  andere  Kraft  schon 
vorher  überschobenen  Schollen  sogar  der  erklärlichste  Vorgang,  den  man 
sich  denken  kann. 


Das  tmloanische  Vorries.  117 

Ein  etwaiges  Vorkommen  tertiärer  Gesteinsstücke  oben  auf  bez.  ober- 
flächlich in  einigen  überschobenen  Schollen  der  Albhochfläche  könnte  mithin 
durchaus  nicht  mit  irgend  welcher  Sicherheit  beweisen,  dass  diese  Schollen 
imd  dieses  Tertiär  gleichzeitig  durch  Eis  aus  dem  Riese  auf  die  Alb  geschoben 
seien,  dafs  also,  wie  Koken  sagt,  die  angeblichen  Überschiebungen  nach- 
miocän  sind. 

Es  bleibt  somit  von  allen  Schollen,  so  viel  wir  übersehen  können,  nur 
die  wirr  struirte  Lauchheimer  Breccie  übrig,  in  deren  Innern  neben  Fetzen 
von  Braun-  und  Weifs-Jura  auch  solche  von  obermiocänen  Gesteinen  liegen 
sollen  (s.  darüber  S.  97,98). 

Mangel  von  aus  dem  Riese  stammenden  Schollen  im  Norden  des 
Rieses.  Ein  weiterer  Grund,  welcher  die  Annahme  glacialer  Kräfte  zur 
Erklärung  der  Überschiebungen  jener  grofsen  Schollen  nicht  nur  unwahr- 
scheinlich, sondern  sogar  völlig  unhaltbar  machen  könnte,  ergiebt  sich  aus 
dem  Folgenden: 

Wir  haben  gesagt,  dafs  der  Rieskessel  so  hart  an  den  Nordrand  der 
Alb  gerückt  ist,  dafs  er  nur  im  0.,  S.,  SW.  von  der  Alb  umgeben  wird. 
Im  N.  und  NW.  dagegen  öflBttet  sicli  der  Kessel  durch  eine  breite  Scharte 
seiner  Umrandung  in  die  dem  N.-Abhange  der  Alb  vorgelagerte  Keuper- 
Lias-Braun-Jura-I^ndschaft.'  Diese  Scharte  aber  mufs  bereits  zu  mittel- 
miocäner  Zeit  vorhanden  gewesen  sein ,  wie  das  aus  der  Thatsache  hervor- 
geht, dafs  damals  die  grofsen  Weifs- Jura-Klippen^  auf  den  in  der  Scharte 
schon  zu  dieser  Zeit  durch  Erosion  freigelegten  Unteren  Braun-Jura  ge- 
schoben werden  konnten. 

Wie  hätten  nun  wohl  aus  dem  mit  Eis  erfiillten  Kessel  die  Jura-Schollen 
durch  das  Eis  an  dem  steilen  Gehänge  bez.  auch  im  Egerthale  auf  die  Alb- 
hochfläche hinauf  in  die  Höhe  geschoben  werden  können,  wenn  doch  der 
Kessel  im  N.  eine  breite,  tiefe  Scharte  hatte?  Mit  demselben  Rechte  würde 
man  ja  sonst  erwarten  müssen ,  dafs  ganz  allgemein  die  Gletscher  aus  ihrem 
Sammelbecken,  der  Fimmulde,  an  den  Gehängen  dieser  letzteren  bergauf 
in  die  Höhe  steigen  müfsten,  anstatt  durch  die  Scliarte  der  Mulde,  d.  h. 
ihre  Öffnung  in  das  Gletscherthal,  in  letzteres  hinaus  zu  fliefsen. 

Ein  den  Rieskessel  erfüllender  Gletscher  hätte  also  viel- 
mehr durch   die   breite  nördliche  Scharte  der  Kesselwand  nach 


*    Das  vulcanische  Ries.    S.  45,  Taf.  II . 
■   A.  a.  O.  S.  43,  95. 


118  Branco: 

N.  geflossen  sein  müssen;  in  das  niedrige  nördliche  Vorland 
der  Alb  hätte  er  den  steinernen  Kesselinhalt,  die  Granit-, 
Keuper-,  Jura-Schuttmassen,  das  Riestertiär  und  die  grofsen  zu- 
sammenhängenden Gebirgsschollen  geschoben  haben  müssen, 
falls  er  überhaupt  letztere  hätte  verfrachten  können,  was  wir  bestreiten. 
Dort  im  N.,  in  gröfserer  oder  geringerer  Entfernung  vor  dieser  Scharte, 
also  vor  dem  Albrande ,  nicht  aber  oben  auf  der  Alb ,  müfste  der  ehemalige 
steinerne  Inhalt  des  Rieskessels  heute  sich  finden,  wenn  eben  ein  Ries- 
gletscher alle  diese  überschobenen  Schollen  wirklich  verfrachtet  hätte. 

Gegen  diese  Schlufsfolgerung  würde  wohl  nur  eine  Einwendung  ge- 
macht werden  können:  nämlich  die,  dafe  in  diluvialer  Zeit  alle  orographi- 
schen  Verhältnisse  noch  andere  gewesen  seien  wie  heute;  so  z.  B.,  dafe  an 
Stelle  des  heutigen  Rieskessels  sich  damals  noch  der  Riesberg  befunden 
habe,  von  dem  herab  das  Eis  die  Schollen  auf  die  Alb  geschoben  hätte. 
Koken  hat  in  der  That  eine  solche  Ansicht  einmal  aufgestellt.  Aber  er 
war  doch  vorher  zu  der  gerade  entgegengesetzten  "Überzeugung  gelangt., 
dafs  in  diluvialer  Zeit  der  Rieskessel  als  solcher  schon  vorhanden  ge- 
wesen sei,  und  er  ist  nachher  wiederum  zu  dieser  ersten  Ansicht  zurück- 
gekehrt; auch  wenn  er  jetzt  in  seiner  neuesten  Arbeit  betont,  dafs  immer- 
hin noch  Bewegungen  des  Rieskesselbodens  in  diluvialer  Zeit  stattfanden, 
so  ist  damit  doch  noch  keineswegs  eine  völlige  Umkehrung  der  heutigen 
Verhältnisse  ausgesprochen.  Es  wäre  also  wohl  selbst  auf  glacialer 
Seite  wenig  oder  keine  Neigung  mehr  vorhanden,  eine  solche  Einwendung 
zu  erheben. 

Das  zeitlicbe  Moment  als  schwerwiegender  Grund  gegen  glazialen 
Transport.  Die  folgende  Reilie  zwingender  Schlufefolgerungen  wird  zeigen, 
dafs  auch  das  zeitliche  Moment  es  nicht  gestattet,  Schollen,  wie  die  des 
Buchberges,  als  durch  Eis  transportirt  aufzufassen. 

Die  Vergriesung  des  Weifs-Jura  geht  im  Riese  an  verschiedenen 
Stellen  nach  oben  in  obermiocänen  Süfswasserkalk  über*,  d.  h.  der  Gries 
wurde  hier  in  obermiocäner  Zeit  durch  Kalk  verkittet  und  nahm  gleich- 
zeitig herbeigespülte  Landschnecken  auf.  Folglich  mui^  die  Vergriesung 
des  Weifs-Jura- Kalkes  im  Riese  erfolgt  sein  zu  einer  Zeit,  die  vor  jener 
obermiocänen  lag. 


'    Das  vulcanisclie  Ries.    8.103;  von  KnebeTs  Beiträge.    S.76. 


7>/Ä  vulcanüefke  Vorries.  119 

Nun  sind  aber  Schollen  von  Weifs- Jura- Kalk,  unsere  Klippen*,  im 
vergriesten  Zustande  überschoben  worden.  Folglich  ist  auch  die  Über- 
schiebung dieser  Klippen  erfolgt  zu  einer  Zeit,  die  vor  jener  obermio- 
cänen  lag. 

Folglich  also  kann  die  Kraft,  durcli  welche  die  Überschie- 
bung dieser  Klippen  erzeugt  wurde,  unmöglich  im  Eise  ge- 
sucht werden,  da  dieses  ja,  wenn  überhaupt,  erst  in  diluvialer 
Zeit  seinen  Einzug  in  das  Ries  gehalten  haben  könnte. 

Diese  übei-schobenen  Weifs-Jura-Klippen  aber  sind  wiederum  unmöglich 
genetisch  zu  trennen  von  den  überschobenen  Braun-Jura-Schollen;  alle  Über- 
schiebungen werden  sich  doch  wahrscheinlich  zu  einer  und  derselben  geo- 
logischen Zeit  gebildet  haben.* 

Folglich  mufs  auch  die  Überschiebung  der  Braun -Jura- 
Schollen  ebenso  alt  sein,  wie  diejenige  der  Weifs-Jura-Schollen, 
d.  li.  älter  als  obermiocän.  Folglicli  können  auch  diese  Schollen 
nicht  durch  Eis  überschoben  sein. 

Vergletscheriing  vom  Hesselberge  ans?  Um  auch  jeden  anderen  mög- 
lichen Einwand  abzuschneiden ,  seien  hier  noch  zwei  weitere  Möglichkeiten 
einer  glacialen  Erklärungsweise  des  Transportes  der  grofsen  Schollen  kurz 
berührt  und  abgewiesen. 

Der  breiten  Scharte  in  der  Wand  des  Rieskessels  vorgelagert  findet 
sich,  in  einiger  Entfernung  nördlich  derselben,  der  690"*  hohe  Hesseiberg. 
Aufgebaut  aus  Lias-,  Braun-  und  Weifs -Jura -Schichten  erhebt  er  sich  als 
ein  Erosionsrest  der  Alb  mitten  aus  der  Keuperlandschaft  und  bildet  so 
einen  der  Zeugen,  welche,  dem  Nordwestrande  der  Alb  vorgelagert,  Kunde 
davon  geben,  dafs  einst  die  Alb  sich  weiter  nach  N.  hin  ausdehnte. 
Man  könnte  nun  geltend  machen,  nicht  der  Rieskessel,  sondern  dieser 
Hesseiberg,  überhaupt  das  nördliche  Wörnitzgebiet,  sei  der  Ausgangspunkt 
eines  Eisfeldes  gewesen,  welches  durch  die  offene  Scharte  des  Rieskessels 


^    A.  a.  O.  8.  64,  94,  96. 

^  Ein  jeder  Zweifel  daran  mi^fste  sei  1  winden  gegenüber  der  einen  Thatsache,  dafs  am 
Bnchberge  nicht  nur  eine  Scholle  von  Braun-Jura,  sondern  auch  eine  solche  von  Weifs-Jura 
(Beiburg)  ganz  dicht  neben  einander  überschoben  liegen.  (Das  vulcanische  Ries.  8.76,  Fig.  4.) 
Da  jedoch  von  Koken  die  Eigenschaft  dieser  Weifs- Jura-Masse  der  Beiburg  als  einer  über- 
schobenen Klippe  bestritten  wird  (S.  83),  so  wollen  wir  diesen  Grund  nicht  in  obige  Schhifs- 
folgerung  einftigen,  obwohl  wir  ihn  für  stichhaltig  ansehen. 


120  Branco: 

in  letzteren  hineingeflossen  wäre,  sich  in  ihm  aufgestaut,  ihn  erfüllt  und 
seinen  Inhalt  dann  an  den  steilen  Abstürzen  empor  auf  die  Alb  geschoben 
habe.  Th Urach  hat  diesen  Gedanken  ausgesprochen/  Indessen,  eine  so 
wenig  umfangreiche  Erhebung  wie  der  Hesseiberg  hätte  auch  nur  einem 
entsprechend  kleinen  Gletscher  das  Leben  gegeben  haben  können. 

Einem  so  kleinen  Eisstrome  aber  eine  so  gewaltige  schiebende  Kraft, 
zudem  steile  Abstürze  hinan ,  zuschreiben  zu  wollen ,  geht ,  unserer  Ansicht 
nach,  nicht  an.  Man  vergleiche  damit  doch  das,  was  das,  eigentlich  ganz 
unvergleichlich  viel  gröfsere  diluviale  Inlandeis  an  Verfrachtung  gröfserer 
Schollen  nur  geleistet  hat. 

Die  gröfste  Scholle,  welche  durch  das  mächtige  Inlandeis  Schottlands 
in  diluvialer  Zeit  als  Ganzes  transportirt  wurde,  lag  bei  Elgin  in  Schott- 
land auf  Geschiebelehm.  Sie  besafs  eine  Dicke  von  13"'^  und  maus  247 
bez.  iio"^  in  Länge  und  Breite,  bedeckte  also  27000''"  Fläche.  Dieses  ist 
die  gröfste  Leistung,  zu  welcher,  soviel  wir  wissen,  das  riesige  schottische 
Inlandeis  befähigt  war.  Zudem  ist  diese  Scholle,  wie  Geikie  sagt,  evi- 
dently  not  travelle  far.  Demgegenüber  schreibt  jeder,  welcher  die  frag- 
lichen Jura-SchoUen  des  Rieses  als  durch  Eis  verfachtet  ansieht,  dem  relativ 
winzigen  Hesseiberg-  oder  Riesgletscher  geradezu  Ungeheuerliches  zu !  Denn 
hier,  am  Riese,  handelt  es  sich  um  den  Transport  von  Schollen,  welche 
heute  noch,  nachdem  ihre  so  weichen  Massen  doch  zweifellos  sehr  stark 
durch  Abtragung  verkleinert  worden  sind,  bedeutendere  Dimensionen  er- 
reichen als  jene  von  Elgin,  und  welche  durch  den  winzigen  Riesgletscher 
zudem,  ohne  zu  zerbrechen,  an  den  ganz  steilen,  fast  senkrecht  werden- 
den Gehängen  des  Rieskessels  emporgeschoben  sein  mülsten! 

Die  Buchberg -Scholle  mifst  ungefähr  heute  300  und  400*"  in  Länge  und 
Breite,  bez.    1000  und   400°*,  falls  man  die  Beiburg -Klippe  hinzurechnet. 

Die  Hertsfeldhausener  Scholle,  heute  durch  die  Erosion  zerschnitten, 
früher  ganz  zweifellos*  zusammenhängend,  bedeckt,  nach  von  Knebers  Be- 
rechnung, einen  Flächenraum  von  mindestens  4^^75. 


^  Zeitschrift  der  Deutschen  Geologischen  Gesellschaft.  1896,  S.  680.  Ferner  Bericht 
über  die  29.  Versammlung  des  Oberrheinischen  Geologischen  Vereins  am  9.  April  1896.  Sonder- 
abdruck S.  II. 

*  40  feets. 

'    270  bez.  120  yards  a  3  Fufs.    Geikie:  The  great  ice  age.    1894,  8.  20. 

*  Man  betrachte  die  von  KnebeTsche  Karte  und  man  wird  dem  beistimmen. 


Das  tmlcanische  Vorries,  121 

Bezügliclx  norddeutscher  Schollen,  welclie  im  zusammenhängenden  Zu- 
stande durch  das  diluviale  Inlandeis  transportirt  worden  sind,  möchte  ich 
die  folgenden  Angaben  machen,  welche  ich  einer  liebenswürdigen  schrift- 
lichen Mittheilung  des  Hrn.  CoUegen  De  ecke  verdanke.    Derselbe  schreibt: 

»Ich  bin  eigentlich  nur  in  einem  Falle  in  der  Lage,  eine  darauf  be- 
zügliche Mittheilung  zu  machen.« 

»Meistens  ist  es  unmöglich,  wegen  der  vollständigen  Einbettung  in  den 
Diluvialmergel,  die  Dicke  oder  Breite  und  Länge  gleichzeitig  zu  ermitteln, 
wenn  nicht  das  umgebende  Gelände  abgebohrt  wird.  Aufserdem  bleibt  in 
den  meisten  Fällen,  wo  gröisere  Schollen  vorliegen,  zweifelhaft,  ob  die- 
selben nicht  an  der  Basis  mit  dem  Anstehenden  zusanmienliängen.  Dann 
wären  es  keine  Schollen ,  sondern  nur  Aufpressungen  durch  Eisdruck ,  die 
allerdings  sehr  bedeutend  werden  können.  Wenigstens  fasse  ich  die  Fal- 
tungserscheinungen auf  Jasmund  zum  gröfsten  Theil  als  eine  Folge  des 
Eisdruckes  auf  die  weiche,  nachgiebige  Basis  auf.« 

»Da«  Beispiel,  welches  ich  meine,  ist  die  Kreidescholle  der  Cement- 
fabrik  »Stern«  in  Finken walde  bei  Stettin.  Dieselbe  ist  in  Breite  und  Länge 
beinahe  völlig  erschlossen  und  durch  den  Abbau  aucli  in  der  verticalen 
Richtung  zu  übei-sehen.  Es  ist  eine  wirkliche  Scholle,  da  sie  von  Diluvial- 
sanden  bedeckt  und  nachweislich  von  diesen  auch  unterteuft  wird. '  Diese 
Kreide  ist  ein  lang  gestrecktes,  landeinwärts  dicker  werdendes,  sehliefslich 
umgebogenes  und  gestauchtes  riesiges  Geschiebe  von  etwa  400"  Breite,  300 
bis  350"  Länge  und  wechselnder  Dicke.  Diese  wird  in  der  Nälie  der  Oder 
gering  imd  nimmt  mit  dem  Ansteigen  der  Scholle  landeinwärts  zu,  so  dafs 
bei  einer  Lage  von  45"*  über  NN.  sehliefslich  27"  Kreide  entwickelt  sind. 
Bei  der  Berechnung  nimmt  man  zweckmäfsig  höchstens  1 5°  an  und  erhält 
daher   für   die  Gesammtmasse  dieser  Scholle    einen  Näherungswerth   von 

2IOOOOO*^".« 

»Zu  bemerken  ist,  dafs  aber  nicht  nur  die  Kreide,  sondern  auch  er- 
hebliche Massen  von  Septarienthon  mit  von  diesem  Eisschub  ergriffen  sind 
imd  an  der  Basis  wie  an  dem  Kopfe  der  Scholle  als  mächtige  schwarze 
Massen  hervortreten.  Mag  daher  eine  oder  die  andere  Dimension  der  Kreide- 
scholle etwas  zu  grofe  genommen  sein,  so  ist  eine  Compensation  durch  den 


^  Querschnitte  derselben  finden  sich  in  Deecke's  geologischem  Führer  durch  Pommern 
und  in  dem  von  Wahnschaffe,  Berendt  und  Keil  hack  herausgegebenen  Führern  fQr 
die  Geologische  Gesellschaft  und  den  7.  internationalen  Geographentag  in  Berlin. 

PklfS.Ahh.  1902,  L  16 


122  Branco: 

Septarienthon  gegeben.  Ich  möchte  daher  2  Millionen  Cubikmeter  eher  fnr 
zu  klein,  als  zu  grofs  schätzen.« 

»Dieses  ist  aber  die  gröfste,  mir  überhaupt  aus  unserem  Ge- 
biete bekannte  Diluvialscholle;  die  Hauptmasse  der  anderen  Schollen 
ist  viel,  viel  kleiner,  und  bei  Finkenwalde  scheint  auch  keine  di- 
recte  Verschleppung  auf  weitere  Entfernung  eingetreten  zu  sein, 
da  ja  ringsum  im  Boden  bei  Bohrungen  Kreide  nachgewiesen  wurde ,  son- 
dern eher  ein  Hinaufschieben  tiefer  liegender  Massen  auf  den  Rand  des 
Thaies.  Dabei  hat  unzweifelhaft  der  Septarienthon,  der  an  der  Basis  der 
Kreide  sichtbar  wird  imd  deutlich  druckschiefrig- blättrig  ist,  als  Gleit- 
material gedient,  als  Glattimgsmittel  und  ist  als  solches  in  alle  Sprünge 
der  Kreide  eingedrungen.  Diese  innige  Verknetimg  tritt  auch  in  den  be- 
nachbarten Gruben  der  Züllchower  Cementfabrik  bei  Finkenwalde  deutlich 
hervor.  In  diesen  ist  aber  eine  Schätzung  der  Sedimentmassen  wegen  der 
Durchdringung  mit  Diluvium  nicht  gut  möglich.« 

»Ein  zweites  Beispiel  wären  die  Kalkschollen  des  Kimmeridge  bei 
Fi'itzow,  welche  man  bisher  immer  für  anstehendes  Gestein  gehalten  hat. 
Bohrungen  zeigten  jedoch,  dafs  sie  von  Diluvium  und  Sand  unterlagert 
sind.  In  der  Voraussetzung,  dafs  auch  dieser  Sand  quartär  ist,  kann  man 
für  einzelne  dieser  Vorkommen  wenigstens  schätzimgs weise  die  Gröfse  fest- 
stellen. Das  Hauptkalklager  im  Walde  beim  Forsthaus  Fritzow  hat  die 
Dimensionen  100  •100-7"  =  70000*",  das  zweite  am  Kalkofen  kann  auf 
50000 — 60000°^°  geschätzt  werden.  In  beiden  Fällen  sind  es  aber  Maxima; 
dazu  kommen  noch  einige  kleine  Schollen,  so  dals  die  Gesammtmasse  der 
einzelnen,  bei  Fritzow  lose  im  Diluvium  gelegenen  Kalkklötze  auf  130  bis 
1 50000*"^"  veranschlagt  werden  mag.  Aber  diese  Masse  ist  entzwei  gegan- 
gen und  liegt  in  grofsen,  durch  Diluvium  von  einander  getrennten  Trüm- 
mern auf  Sand  imd  Geschiebemergel  auf  2000  Schritt  Breite  verstreut 
(etwa   1300").« 

»Alle  anderen,  mir  bisher  bekannten  Schollen  sind  erheblich  kleiner, 
so  die  von  Nemitz,  Tripsow,  die  einzelnen  Kreideklippen  von  Dobberpfuhl 
und  Parlow,  sowie  von  Samtens  und  Stralsund  auf  Rügen.« 

»Allen  Schollen  pflegt  gemeinsam  zu  sein  eine  relativ  geringe  Dicke 
bei  gröfserer  horizontaler  Ausdehnung,  also  flache  Gestalt,  sowie  eine  ge- 
neigte Lage  im  Diluvium  und  vollständige  Zerrüttung  des  Materials.  Bei 
Finkenwalde  sind  alle  Belemniten  zerbrochen ,  bei  Fritzow  sind  die  grofsen 


Das  tmloanische  Vorries.  123 

Ammoniten  zertrümmert.  Diese  Zerrüttung  tritt  auch  auf  Bomholm  in  den 
Graptolithenschiefem  des  Rispebjergs  und  in  dem  Trinucleussehiefer  an 
der  Brücke  von  Vasagaard  deutlich  hervor.*  Hinter  den  Schollen  macht 
sich  femer  oft  eine  Art  Schweifbildung  bemerkbar,  bestehend  aus  losge- 
lösten und  zurückgebliebenen  Trümmern.  Ebenso  kommen  vor  der  Haupt- 
masse Zungen  vor,  die  durch  weiter  geschlepptes  Gestein  entstanden  sind, 
daher  erscheinen  allerdings  nicht  sehr  häufig  solche  Schollen  linsenförmig 
im  Querschnitt  und  ohne  scharfe  Begrenzung  gegen  das  Diluvium.« 

So  ergiebt  der  Vergleich,  dafs  das  übergewaltige  diluviale 
nordische  Inlandeis  relativ  nur  geradezu  winzigere,  selbst  ab- 
solut aber  nur  kleinere  Schollen  von  zusammenhängender  Be- 
schaffenheit verfrachtet  hat,  als  der  unendlich  viel  kleinere 
hypothetische  Hesseiberg-  oder  Riesgletscher  verfrachtet  haben 
müssten,  wenn  jene  Schollen  durch  Eis  transportirt  worden 
wären.  Zudem  müfsten  letztere  beide  diesen  Transport  noch  an 
dem  steilen  Gehänge  des  Rieskessels  hinauf  bewirkt  haben,  ohne 
dafs  die  Schollen  dabei  zertrümmert  wären. 

Allgemeine  Vergletsehemng  der  Alb?  Aber  noch  einen  anderen  Ein- 
wand könnte  man  erheben:  Nicht  ein  kleiner  Ries-,  nicht  ein  geringer 
Hesseiberg- Gletscher  hätten  den  Transport  der  Schollen  bewirkt.  Es  habe 
eine  allgemeine,  also  grölsere  Vergletscherung  der  Alb  bestanden;  diese 
habe  ihre  Eismassen  in  den  Rieskessel  hinab  geschickt  und  sie  mit  jenen 
Schollen  beladen  wieder  hinauf  auf  die  Alb  gedrückt. 

Koken  hat  in  der  That  ausführlich  diese  Ansicht  vertreten^  und  aus 
der  Richtimg  der  Schrammen  imter  den  überschobenen  Schollen  geschlossen, 
dafs  von  der  Alb  die  Eismassen  in  das  Ries  hinabgeglitten  seien.  Sogar 
Anzeichen  einer  zweimaligen  Vergletscherung*  vermeint  er  gefunden  zu 
haben.  Indessen  diese  Ansicht  ist  dann ,  mindestens  in  ihrem  ersten  Theile, 
von  Koken  selbst  wieder  als  nicht  statthaft  erkannt  worden,  so  dafs  wir 
keine  Gründe  gegen  dieselbe  anzuftLhren  brauchen. 

Zusammenfassung  aller  CSründe,  welche  gegen  eine  glaciale  und  für 
eine  vulcanische  Kraft  bei  Entstehung  der  Überschiebungen  sprechen. 


^    Vergl.  die  Abbildung  in  Johnstrup,  AbriTs  der  Geologie  von  Bornholin.    Fest- 
schrift für  die  Versaoimlung  der  Deutschen  Geologischen  Gesellschaft  in  Greifswald  1889. 
*   Die  SchlifiH&chen.     S.  15,  19,  21. 
■   A.  a.  O.  S.  88. 

16* 


124  Brango: 

1.  Die  Steilheit  der  Gehänge  des  Rieskessels.  Drygalsky's  Unter- 
suchungen haben  zwar  die  Möglichkeit  dargethan,  dafs  Gesteinsmassen  durch 
Eis  an  sanft  geneigten  Flächen  emporgeschoben  werden  können;  aber  er 
selbst  hat  in  mündlichem  Gespräche  die  Möglichkeit  abgelehnt,  dafs  eine 
Verfrachtung  an  so  steilen  Gehängen  imd  Abstürzen  hinauf  erfolgen  könne. 

2.  Die  Meereshöhe  der  überschobenen  Schollen,  die  bis  zu  578°*  am 
Buchberg  und  630"  bei  Ünter-Riffingen  steigt,  während  der  Riesboden  jetzt 
in  430"  Höhe  liegt.  Dazu  hätte  es  mindestens  einer  grofsen  Vergletsche- 
rung der  ganzen  Alb  bedurft,  von  der  Koken  selbst  nun  aber  wohl  absieht. 

3.  Die  nur  geringe  Entfernung  vom  Riesrande,  welche  diesen  Schollen 
zukommt,  während  doch  eine  solche  allgemeine  Albvergletscherung  sie  auch 
in  weitere  Entfernung  hingeschoben  haben  müfste. 

4.  Der  ungestörte  Schichtenverband  der  Buchberg-  und  Hertsfeldhause- 
ner  Schollen.  Unmöglich  hätten  diese  an  dem  steilen  Gehänge  hinaufge- 
schoben werden  können,  ohne  ihren  Zusammenhang  völlig  zu  verlieren. 

5.  Die  gewaltige  Gröfse  dieser  Schollen  gegenüber  der  geringen  Gröfee 
des  angenommenen  Ries-  oder  Hesseiberg- Gletschers,  da  doch  selbst  das 
ungeheure  diluviale  Inlandeis  so  grofse  zusammenhängende  Schollen  kaum, 
und  dann  wohl  meist  nur  auf  geringe  Entfernung,  transportirt  hat. 

6.  Die  Unmöglichkeit,  eine  Moränenart  zu  nennen,  welcher  diese 
Schollen  zuzurechnen  wären.  Sie  stammen  aus  der  Tiefe  des  Rieses:  Folg- 
lich können  sie  nicht  Oberflächenmoräne  sein,  denn  wie  hätten  sie  auf 
den  Rücken  des  Eises  gelangt  sein  sollen,  das  mindestens  200 — 300"  dick 
sein  mufste.  Folglich  können  sie  aber  auch  nicht  Stimmoräne  sein,  denn 
das  Eis  mufste  sich  ja  über  ihnen  anhäufen,  nicht  hinter  ihnen.  Folglich 
können  sie  auch  nicht  Grundmoräne  sein,  denn  dann  hätten  sie  ihre  Schich- 
tung unmöglich  (s.  Punkt  i   und  2)  bewahrt  haben  können. 

7.  Der  Mangel  einer  den  ganzen  Boden  des  Rieskessels  bedeckenden 
Grundmoräne  sowie  zahlreicher  glacialer  Schrammen  und  Polituren  an  den 
emporragenden  Massen   des  Weifs-Jiu'a  und   der  Tertiär -Kalke   im  Riese. 

8.  Der  Mangel  grofser  Schollen  tertiärer  Kalke,  die  docli  vor  Allem 
aus  dem  Kessel  auf  die  Alb  hinaufgeschoben  sein  müfsten. 

9.  Der  Mangel  eines  riesigen  Walles  von  Jura-  und  Tertiär  -  Schollen 
im  N.  der  grofsen  Scharte  in  der  Umrandung  des  Rieskessels ;  denn  dort- 
hin, nach  N.  liinaus,  nicht  aber  auf  die  Alb  hinauf,  hätte  das  Eis  ge- 
flossen sein  müssen. 


Das  vulcanische  Vorries.  125 

lo.  Das  zeitliche  Moment:  Die  Braun -Jura -Schollen  müssen  zu  der- 
selben Zeit  überschoben  sein  wie  die  Weife -Jura- Schollen.  Letztere  aber 
sind  im  Riese  zweifellos  bereits  vor  der  obermiocänen  Zeit  überschoben; 
folglich  doch  auch  erstere. 

SchluTswort.  Diese  grofse  Zahl  von  Gründen  macht,  unseres  Er- 
achtens y  zunächst  einmal  die  Annahme  ganz  unmöglich,  dafe  das  Eis  es 
gewesen  sein  könne,  welches  die  fraglichen  Schollen  aus  dem  Rieskessel 
auf  die  Alb  geschoben  habe. 

Wer  trotzdem  hier  Wirkungen  glacialer  Kräfte  erblicken  wollte,  würde 
daher  zunächst  sich  mindestens  dahin  einschränken  müssen,  dafe  er  den 
vulcanischen  Kräften  den  ersten,  zu  tertiärer  Zeit  erfolgten  Transport  der 
Schollen  auf  die  Alb  hinauf  überliefee  und  nun  dem  Eise  nur  den  weiteren, 
zu  diluvialer  Zeit  erfolgten  Transport  derselben  über  die  Alb  dahin  zu- 
schriebe. 

Wir  vermögen  nicht  zu  ersehen,  ob  Koken  mit  seinen  von  uns 
citirten  Worten*  jene  mehr,  oder  diese  weniger  weitgehende  Ansicht  hat 
aussprechen  wollen.  Indessen  auch  eine  solche  beschränktere  Einwirkung 
glacialer  Kräfte  würden  wir  fär  völlig  ausgeschlossen  halten  müssen. 

Gewife  würde  eine  oben  auf  der  Alb  liegende  Buchberg -Scholle  an 
ihrer  Oberfläche  von  einem  über  sie  dahinkriech enden  Eise  bearbeitet 
werden  können.  Aber  dafe  das  Eis  die  ganze  gewaltige  Masse  und  Last 
dieser  Scholle  bis  auf  deren  Unterlage  hin ,  und  gerade  genau  bis  auf  diese 
hin,  in  Bewegung  gesetzt  haben  sollte,  die  ganze  Scholle  vorwärtsschiebend 
und  auf  solche  Weise  jetzt  erst  unter  ihr  jene  Glättung  und  Schrammung 
erzeugend  —  dazu  scheint  uns  die  Kraft  dieses  Riesgletschers  durchaus 
unzureichend  gewesen  zu  sein. 

Die  Lösung  des  Problemes  würde  auch  in  unnöthiger  Weise  complicirt 
werden  dadurch ,  dafe  man  zwei  verschiedene  Kräfte  in  Anspruch  nähme, 
um  diese  Scholle  zweimal  zu  bewegen.  Es  wäre  ferner  nicht  einzusehen, 
warum  die  vulcanische  Kraft,  wenn  sie  doch  die  vom  Berge  abgleitende 
Scholle  oben  auf  die  Alb  hinauf  zu  schieben  vermochte,  nicht  auch  die 
Scholle  dort  noch  etwas  weiter  habe  schieben  können.  Vor  Allem  aber 
erschiene  uns  eine  Schlufefolgerung  nicht  möglich,  welche  dahin  ginge: 
»So   lange   die  schweren  Schollen  durch    vulcanische  Kraft  über   die  Alb 


*   Siehe  S.  107  Anna.  i. 


126  Branco: 

geschoben  wurden,  konnten  unter  ihnen  die  fragliclien  Glättungs-  und 
Schrammungserscheinungen  nicht  entstehen.  Sowie  die  Schollen  aber  durch 
Eis  vorwärts  geschoben  wurden,  erfolgten  unter  ihnen  diese  Bildungen«. 
Das  wäre  doch  nicht  zulässig;  denn  nicht  die  schiebende  Kraft  glättete 
und  schrammte,  sondern  die  geschobene  Masse  that  das  durch  ihr  Gewicht. 
Die  Kraft  also  ist  hierbei  das  Nebensächliche.  Hat  daher  die  vulcanische 
Kraft  die  Scholle  überhaupt  einmal  über  deren  Unterlage  dahinbewegt, 
so  hat  sie  zugleich  auch  die  pseudoglacialen  Wirkungen  unter  der  Scholle 
hervorgerufen ,  die  wir  unter  derselben  sehen ;  und  es  wäre  nun  kein  Grund 
mehr  vorhanden,  filr  die  Entstehung  dieser  Wirkungen  das  Eis  verantwort- 
lich machen  zu  wollen. 

Gegenüber  der  kürzlich  formulirten  Auffassung,  dafs  am 
Riese  die  Druckwirkungen  des  Eises  nun  »in  einer  Weise  be- 
stätigt sind,  die  noch  über  meine  früheren  Annahmen  hinaus- 
geht«*, müssen  wir  daher  an  der  Auffassung  festhalten,  dafs 
die  vulcanische  Kraft  der  einzig  mögliche  Urheber  der  Über- 
schiebung der  grofsen  Schollen  und  der  dadurch  hervorgerufenen 
pseudoglacialen  Wirkungen  im  Riesgebiete  ist. 


Siehe  S.  113  und  Anmerkung  3. 


Das  vuicanische  Vorries. 


Anhftng  zu  S.53. 


Wenngleich  die  Untersuchungen  noch  nicht  abgeschlossen  sind,  welche 
Herr  Prof.  Haussmann  Ober  die  magnetischen  Störungen  des  Riesgebietes 
freundlichst  unternommen  hatte,  so  war  es  demselben  doch  möglich,  uns 
noch  in  letzter  Stunde  die  nachstehende  vorlaufige  Karte^  der  Isoklinen 
zukommen  zu  lassen. 


'  Die  flOchtig  skizurte  Umgrenzung  des  Rteskesseb  macht  keinen  Anspruch  auf  Ge- 
nauigkeit; besonders  im  N.  und  NW-,  wo  die  Kesseiwsnd  mehr  oder  weniger  fehlt,  läfsl 
sich  Qberbaupt  eine  genaue  Grenze  nicht  angeben. 


128  Branco: 

Ist  der  Betrag  dieser  Störungen  auch  kein  grofser^  so  läfet  sich  aus 
dem  Verlaufe  der  Isoklinen  doch  leicht  eine  Bestätigung  des  auf  S.  53 
Gesagten  erkennen.  Man  mufs  sich  nur  vergegenwärtigen,  dafs  es  sich 
im  Riese  über  Tage  ja  keineswegs  um  basische ,  eisenreiche  Eruptivgesteine 
handelt,  sondern  um  saure,  liparitische ,  die  auf  den  Magneten  kaum  ab- 
lenkend wirken  dürften.  Diese  mögen  zunächst  in  der  Tiefe  den  von  uns 
angenommenen  Laccolith  bilden.  Erst  in  größerer  Tiefe  mag,  wenn  über- 
haupt, basisches  Gestein  folgen,  bezüglich  mag  letzteres  sich  nur  an  ge- 
wissen Stellen  von  dem  sauren  Magma  durch  DiflFerenzirung  angehäuft  haben. 

Ist  dem  so ,  dann  wird  leicht  erklärlich ,  warum  der  Betrag  der  Störungen 
kein  grofser  ist;  denn  die  Wirkung  des  eisenreichen  Gesteines  auf  die 
Magnetnadel  mufs  ja  eine  um  so  geringere  sein,  je  tiefer  es  liegt,  und 
je  mehr  der  Laccolith  auch  aus  saurem  Gesteine  besteht.  Wird  ein  Laccolith 
lediglich  durch  saure  Gesteine  gebildet,  so  wird  er  den  Verlauf  der  Iso- 
klinen überhaupt  gar  nicht  zu  beeinflussen  brauchen,  und  trotzdem  ist  er 
vorhanden. 

Wenn  folglich  im  Riesgebiete  der  Betrag  der  Ablenkung,  welche  die 
Magnetnadel  erfahrt,  kein  grofser  ist,  so  braucht  dies  keineswegs  Hand 
in  Hand  zu  gehen  mit  einer  entsprechend  geringen  Gröfse  des  Laccolithen, 
die  Sache  kann  sich  vielmehr  gerade  imigekehrt  verhalten.  Dafe  aber 
überhaupt  eine  Ablenkung  hier  vorhanden  ist,  die  sich  weder  durch  se- 
dimentäre Eisengesteine  noch  durch  Bruchlinien  erklären  lä&t,  beweist,  so 
scheint  uns,  zur  Genüge  das  Vorhandensein  des  von  uns  angenommenen 
Laccolithen. 


^  D.  h.  es  handelt  sich  nur  um  einige  Minuten,  während  z.  B.  die  Magneteisenstein- 
Massen  in  Schweden  und  im  südwestlichen  Spanien  Änderungen  der  Inclination  hervor- 
rufen, die  sich  nach  freundlicher  Mittheilung  des  Heirn  Haussmann  auf  40  Orad  und 
mehr  belaufen. 


Das  vuloanmhe  Vorries.  129 


Inhaltsverzeiolmifs. 


Einleitung S.  3 

I.  Anzeichen  einer  gro&en  vulcanischen  Gontact  -  EIxplosion ,  welche 
als  mitwirkende  Ursache  der  Breccien-  (Gries-)  Bildungen  und  Über- 
schiebungen anzusehen  ist 8.  5 

Vier  unterscheidende  Merkmale  zwischen  dem  vulcanischen  Gebiete  von  Urach 
und  den^jenigen  des  Rieses,  daher  die  Nothwendigkeit,  hier  wie  dort  ver- 
schiedene Entstehungsursachen  anzunehmen S.  6 

Abgleiten  als  Ursache  von  Überschiebungen.    Ardennen ,  Voralpen ,  Lombardische 

und  Venetische  Alpen,  Appennin,  Skandinavien S.  7 

Weitere  Beispiele  für  das  Entstehen  localer  senkrechter  Aufpressungen,  ver- 
muthlich    durch   aufwärts  drängenden  Schmelzflufs.     Adamello,   Ostb6hmen, 

Niederschlesien,  Harz,  Tatra.    Vulcanische  Inseln S.  9 

Der  Grofsenbetrag  der  Überschiebungen  am  Riese,  welche  wir  durch  Abgleiten 

in  Folge  von  Aufpressung  erklärten,  beläuft  sich  auf  nur  2 — 6^™  Wegstrecke  S.  13 
Mitwirkung  einer  grofsen   Contact -  Explosion  im   Vurriese  und  Riese,   welche 
die  Massen   in*s   Abgleiten  brachte    und  die  Zerschmetterung  (Vergriesung) 

des  Weils-Jura  zum  Theil  mit  erzeugte S.  14 

Ihre   Unabhängigkeit   von    den    kleinen    Explosionen    der   Tuff-    und 
Schlackeneruptionen  S.  16.    E.  SQfs's  Ansicht  Qber  die  EIntstehung  des 
Rieses  durch  diese  grofse  Explosion  S.  18. 
Gründe,  welche  die  Annahme  einer,  der  Explosion  vorhergehenden  Aufpressung 

nöthig  machen S.  19 

Nochmals   die   Frage,   ob  alte  Inselbildung  oder  ob  Aufpressung  des 
Granites  im  Riese,  unter  noch  anderen  Gesichtspunkten  S.21.   Zusammen- 
fassung S.  fi6. 
Die  grofse  Explosion  des  Bandai  San  in  Japan  1888  als  Beispiel  ftlr  EIntstehung 
von  Überschiebungen,  die  binnen  wenigen  Minuten  9^  weit  abfuhren     .     .  S.  27 
Solche  Überschiebungen,  verursacht  durch  eine  grofse  vulcanische  Ex- 
plosion, sind  offenbar  auch  an  anderen  Orten  vorgekommen,  nur  sehr 
schwer  erkennbar,  da  hier  meistens  vulcanisches  Gestein  ununterscheidbar 
auf  vulcanischem  liegt  S.  30.  Erfahrungen  bei  künstlichen  Explosionen  S.  32. 
Die  Herkunft  der  Gase.   Die  Gase  vulcanischer  Explosionen  können  dem  Magma 
entstammen,  dann  liegt  eine  echte  vulcanische  Explosion  vor.     Sie  können 
durch  plötzliche  Verwandlung  unterirdischer  Wassermassen  in  Dampf  ent- 

PhyM.Ahh.  1902.  I.  17 


130  Branco: 

stehen,    dann   liegt   nur  eine   Contactersch einung,    eine   unechte   vulcanische 

Explosion  vor S.  33 

Zwei  andere  Erklärungsversuche,  durch  welche  man  die  Breccienbildungen,  Über- 
schiebungen und  Aufpressungen  zurückfuhren  könnte:  Auf  den  horizontalen 
Druck  der  südlich  der  Donaulinie  absinkenden  Gebirgsscholle  gegen  die  nörd- 
lich dieser  Linie  stehen  bleibende.    Eine  solche  Lösung  erweist  sich  als  nicht 

durchführbar S.  36 

Auch  auf  Erderschütterungen  liefse  sich  die  Vergriesung  nicht  zurück- 
fuhren S.  40. 

n.    Das  Vorries S.  42 

A.   Einleitung. 
Lage  und  Name.    Berechtigung  des  Ausdruckes  »Vorries«  gegenüber  von 
von  Gümbers  »Qürtelzone«  S.  42.     Selbständigkeit  des  Gebietes  S.  42.    Bau 
des  Vorrieses  S.  43.     Abwechselndes  Auftreten  der  liparitischen  Tuffe  und  der 
granitischen  Explosionsproducte  S.  44.     Breccien- Bildungen  S.  45. 

B.   Eruptions-  und  Explosionsprodncte. 

I.  Allgemeines. 

a)  Fester  Liparit  im  Riese S.  45 

b)  Liparitische  Eruptionen S.  46 

c)  Granitische   Explosionsprodncte S.  47 

Erläuterung  dieser  Bezeichnung  S.  47.  Ist  ihre  Grundmasse  lipari- 
tischer  Tuff  oder  nur  zerriebenes  altkrystallinisches  Gestein?  S.  47.  Als 
Reibungsbreccie  kann  man  die  granitischen  Explosionsproducte  nicht 
deuten  S.  48. 

Frage  der  Inselbildung  der  Granitmassen  im  Vorriese. 
Als  ursprünglich  inselformige  Emporragung  kann  man  die  granitischen 
fassen  auch  hier  nicht  ansehen  S.  49.  Sie  müssen  durch  Au^ressung 
in  den  Weifs-Jura  gelangt  sein  S.  49.  Gründe,  welche  das  schwer 
Begreifliche  einer  Aufpressung  mildern  8.50.  Haussmann's  Karte  der 
magnetischen  Störungen  im  Riese  und  Vorriese  spricht  für  das  Vor- 
handensein eines  eisenreichen  Eruptivgesteines  in  der  Tiefe  S.  53  u.  127. 
Magnetische  Störungen  im  vulcanischen  Kaiserstuhlgebirge  S.  54. 

3.  Specieiles. 

a)  Einheitlicher  funzerblasener)  Granit  im  Riese S.  55 

T.  Wenneberg  S.  55.     2.  Lierheim  S.  56. 

b)  Granitische  Explosionsproducte  im  einheitlichen  Granite.     .  S.  57 

Am  Keller  bei  Balgheim  S.  57. 

c)  Granitische  Explosionsproducte  in  Verbindung  mit  lipariti- 
schem  Tuffe S.  57 

Kirchberg  bei  Schmäbingen  S.  57. 

d)  Granitische  Explosionsproducte  im  Vorrieae S.  58 

I.  Unter -Bissingen  S.  59.  a.  Stillnau  S.  59.  3.  Rohrbach  S.  61. 
4.  Sulzdorf  S.  62.     5.  Itzingen  S.  62. 


Das  vtäcanische  Vorries,  131 

3.  Alteraverhältnisse. 
Die  grofse  Explosion  und  die  kleinen  Explosionen  dei*  lipariiischen 
Tuffe  scheinen  zwei  sachlich  und  zeitlich  getrennte  Elreignisse  zu  sein  S.  64. 
Buchberg -Gerolle  liegen  im  lipari  tischen  Tuffe  und  im  mittelmiocanen 
marinen  Sande  y  sind  also  älter  als  diese  beiden  S.  65.  Künstliche  Auf- 
schlüsse zur  Feststellung  des  genauen  Alters  S.  67. 

in.    Gegenwärtiger  Grad  der  Übereinstimmung  der  beiderseitigen  Er- 
klärungsversuche der  Riesphänomene S.  70 

Erklärendes S.  70 

A.    Übereinstimmendes   der  beiderseitigen  Anschauungen. 

1.  Starke  Erosion  vor  Beginn  der  Riesbildung S.  71 

2.  Die  Annahme  der  Aufpressung,  dann  des  Einsturzes S.  72 

3.  Der  Vorgang  der  Aufpressung  war  ein  langsamer,  kein  plötzlicher S.  72 

4.  Der  Einsturz  bez.  das  Absinken  dauerten  längere  Zeit  an S.  73 

5.  Das  Vorries,  ein  selbständiges  Aufbruchsgebiet S.  74 

6.  Explosionen  haben  eine  grofse  Rolle  gespielt S.  74 

7.  Die  Braun -Jura -Scholle  des  Buchberges  überlagert  den  Weifs-Jura S.  75 

8.  Im  Riesgebiete  existiren  Überschiebungen;  sie  waren  die  Folge  der  Aufpressung 

und  Explosion;  der  Riesboden  ward  stark  zertrümmert  und  seine  Schollen 
dislocirt S.  75 

9.  Die  Breccien  (Griese)  der  Weifs-Jura- Kalke  oben  auf  der  Alb  sind  meist  anstehend, 

nicht  überschoben S.  77 

B.    Punkte  mangelnder  Übereinstimmung  der  beiderseitigen 

Anschauungen. 

1.  Die  Buchberg -Gerolle.  Herkunft,  Alter,  Ursache  ihrer  Kritzung.   Ubereinstimmung 

herrscht  nur  darin,  dafs  beide  Theile  sie  als  eine  ursprünglich  im  Wasser  ge- 
bildete Ablagerung  ansehen  S.  78;  sie  haben  schon  zu  mittelmiocäner  Zeit 
exLstirt  S.  79;  ihre  Kritzung  entstand  durch  den  Druck  der  über  sie  hinweg- 
geschobenen Massen S.  80 

2.  Die  Beiburg  am  Buchberge;  wir  erklären  sie  für  eine  Klippe,  also  überschoben, 

Koken  als  normal  gelagert S.  8H 

3.  Sind  gewisse  EIrscheinungen  im  Riese  durch  glaciale  Kräfte  hervorgerufen?    Die 

vermeintliche  »Grundmorane«  an  der  Papierfabrik  bä  Bopfingen  S.  84;  das 
Conglomerat  im  Wdrnitzthale,  dessen  Gerolle  sämmtlich  zerprefst  und  gekritzt 
sind  S.  85;  die  pseudoglacialen  Viehschliffe  im  Wömitzthale  S.  89;  die  SchlifT- 
fläche  im  Wömitzthale;  sie  hat  auch  auf  ihrer  Unterseite  eine  Rutschfläche 
8.  89;  die  steil  einfallende  Schlifffläche  im  Weifs-Jura  bei  Wemding  .     .     .     .  S.  89 

4.  Sind  die   überschobenen  Massen  vom  Buchberg,   von   Hertsfeldhaasen   und   vom 

•Lauchheimer  Tunnel  gleichwerthig? S.  90 

IV.    Die  Lauch  heimer -Breccie S.  91 

Allgemeines  S.  91.     Das  Profil  nach  unseren  Schürfungen S.  92 


132  Bbanco:    Das  vulcanische  Vorries. 

Die  Unterlage  der  Lauchheimer  Breccie,  die  Buchberg -G^erSlle;  ihre  Oberfllche 
ist  ganz  ebenso  abgeschliffen  wie  die  des  Weifs-Jura  S.  92;  Folgerungen  aus 

dem  Profile;  es  handelt  sich  um  pseudoglaciale  Erscheinungen S.  95 

Die  Lauchheimer  Breccie  selbst,  ihre  Tertiär* Gesteine S.  96 

Vergleichung  der  Lauchheimer  Breccie  mit  der  Bunten  Breccie,  Definition  der 
letzteren  S.  99;  Vergleich  mit  anderen  Qberschobenen  Schollen   ....      S.  101 

Welche  Kraft  fiberschob  die  Schollen? S.  104 

Die  Hohlspiegel -Structur  (Sauer)  der  Lauchhdmer  Breccie  ist  ein  Beweis  gegen 
den  Transportals  Grundmoräne  S.  105;Koken's  eigene  Ansichten  gegen  einen 
glacialen  Transport  der  Schollen  von  Buchburg  und  von  Hertsfeldhausen  .      S.  107 
Zusammenfassung S.  108 

V.    Die    gro&en  Massen  Bunter    Breccie    nördlich   von  Donauwörth 

auf  der  Alb  und  die  Frage  ihrer  Herkunft 8. 109 

VI.    Weitere  Beweisgründe  allgemeiner  Natur  gegen  einen  glacialen 

Transport  der  grofsen  überschobenen  Schollen S.  113 

Auf  dem  Boden    des  Rieskessels    fehlen    Glättung,    Schrammung   und   Grund- 
moräne       S.  113 

Auf  der  Alb  fehlen  die  grofsen  Massen  von  Tertiär- Gesteinen  aus  dem  Riese, 
welche  vor  allen  anderen  dui*ch    das  Eis   auf  die  Alb  hinaufgeschoben  sein 

müfsten S.  114 

Ein  den  Rieskessel  erftillender  Gletscher  würde  durch  die  breite  nördliche  Scharte 
der  Wand  des  Rieskessels  mit  seiner  Gesteinslast  nach  Norden  geflossen  sein 

müssen,  nicht  aber  auf  die  Alb  hinauf S.  117 

Das  zeitliche  Moment  als  schwerwiegender  Grund  gegen  glacialen  Transport     S.  118 

Ein  Hesseiberg. Gletscher? S.  119 

Dimensionen  zusammenhängender  Schollen ,  die  durch  das  grofse  diluviale  Inland- 
eis verfrachtet  worden  sind S.  120 

Eine  allgemeinere  Vergletscherung  der  Alb? S.  123 

Zusanunenfassung S.  124 

Schlufswort S.  125 

Anhang  zu  S.  53:  Magnetische  Störungen S.  127 


An^^MMumiiei)  von  W.  von  Kn«bel. 

Branoo:  Das  voloaniaehe  Vorries  n 


PHILOSOPHISCHE  UND  HISTORISCHE 


ABHANDLUNGEN 


DER 


KÖNIGLICH  PREUSSISCHEN 


AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 


AUS  DEM  JAHRE 

1902. 


MIT  5  TAFELN. 


BERLIN  1902. 

VERLAG  DER  KÖNIGLICHEN  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 


GEDBUCKT  IN  DEB  REICHSDRUCKEREI. 


IN  COMMISSION  BEI  GEORG  REIMER, 


n 


Inhalt 


Conze:  Kleinfunde  aus  Pergamon.     (Mit  5  Tafeln) Abh.  I.  S.  1—28. 


Die  Kleinfunde  aus  Pergamon. 


\'on 


H"'  ALEXANDER  CONZE, 


PhitiM.-histfir.AbA.  1{H)'J.     I. 


Gelesen  in  der  Sitzung  der  phil.-hist.  Classe  am  13.  November  1902 

[Sitzungsberichte  St.  XLV,  S.  1051]. 

Zum  Druck  eingereicht  am  4.  Februar,  ausgegeben  am  6.  März  1903. 


Als  Ernst  Curtius  vor  dreifsig  Jahren  der  Akademie  seine  und  seiner 
Genossen  Beiträge  zur  Geschichte  und  Topographie  Kleinasiens  vorlegte, 
suchte  er  bereits  mit  seinem  immer  in's  Weite  gerichteten  Blicke  die  Stadt 
Pergamon  als  ein  Ganzes  zu  erfassen.  Dazu  boten  damals  vornehmlich 
Texier's  Asie  mineure  und  eigene  rasche  Recognoscirung  an  Ort  und  Stelle 
die  Grundlage.  Neben  den  Überresten  der  Architektur,  der  Sculptur  und 
der  Inschriften ,  welche  seither  das  Interesse  so  gut  wie  ausschliefslich  auf 
sich  gezogen  haben,  erwähnte  Curtius  schon  damals  »plastische  Thon- 
arbeiten ,  Formen  sowohl  wie  Reliefs ,  zum  Theil  von  grofser  Schönheit  und 
um  so  beachtenswerther,  da  Pergamon  gerade  für  diesen  Zweig  antiker 
Kunstindustrie  besonderen  Ruf  hatte«.  Mit  den  Reliefs  können  der  Haupt- 
sache nach  nur  mit  Relief  geschmückte  Vasenscherben  gemeint  gewesen  sein, 
von  denen,  wie  von  Thonformen  und  einigen  Figürchen  Carl  Humann 
gelegentlich  aufgesammelte  Proben  schon  vor  Beginn  der  Ausgrabungen 
als   aus  Pergamon   stammend  in   die  Königlichen  Museen  lieferte.*     Mehr 


^  Die  als  aus  Pergamon  stammend  vor  Beginn  der  Ausgrabungen  von  Humann  den 
Königlichen  Museen  geschenkten  Fundstucke  aus  gebranntem  Thon  sind  im  Inventar  des 
Antiquariums  verzeichnet  unter  den  Nummern  6268 — 6271,  6276,  6277,  6290,  6560 — 6586, 
6588 — 6614.  Dazu  kommen  die  Nummern  6699  —  6713,  mit  gleicher  Herkunftsangabe  durch 
Gustav  Hirschfeld  im  Jahre  1874  erworben,  und  die  Nummern  7635,  7695  und  7696, 
welche  als  angeblich  pergamenischen  Fundorts  in  Athen  erworben  wurden.  Zu  den  letzteren 
gehört  (Inv.  Nr.  7635)  die  bei  Ray  et,  Monuments  de  T  ort  anüque  II,  Taf.43  publicirte  Figur 
eines  Schauspielei*s ;  7695  ist  die  Figur  eines  liegenden  Kriegers,  7696  die  Gruppe  zweier 
Kämpfer.  Noch  unsicherei*  als  die  Herkunft  dieser  drei  Stucke  ist  nach  Ray  et 's  eigener 
Meinung  die  der  •irais  hateleurs^y  welche  er  II,  Taf.  45,  als  vielleicht  aus  Pergamon  stammend, 
publicirt. 

Unter   den    von    Humann    und    Hirsch feld    herrührenden  Stücken    befinden   sich 

10  Reste   von    Terracottafigürchen ,    namentlich  6699:    Torso    einer   stehenden,    weichlich 

jugendlich -männlichen  Figur,   nackt  bis  auf  ein   umgeworfenes  Oewand,   mit  Ansatzspuren 


4  Conze: 

davon  und  von  Einzelfunden  aller  Art  haben  dann  die  Ausgrabungen  zu 
Tage  gefördert.  Die  Aufmerksamkeit  auf  solchen  Kleinkram  konnte  bei 
der  Ausgrabung  im  ersten  Rausche  der  überwältigenden  Entdeckungen 
namentlich  der  Altarsculpturen  wohl  niclit  voll  zur  Geltung  kommen.  Je* 
unbeirrter  aber  auf  das  Ganze  gerichtet  in  den  Jahren  1877  bis  1886  die 
Untersuchung  sich  gestaltete  und  verfeinerte,  desto  mehr  und  zuletzt  in 
vollem  Mafse  fanden  auch  die  Kleinfunde  Beachtung.  In  einer  Menge  von 
Kisten  und  Kasten  gelangte  alles  Derartige  auch  in  die  Königlichen  Museen, 
wo  aber  wiederum  die  Bearbeitung  zunächst  nothwendigerweise  mit  Auf- 
bietung aller  Kräfte  den  Denkmälern  der  grofsen  Kunst  sich  zuwandte. 
Erst  als  man  damit  jüngst  bis  zur  Reconstruction  und  Aufstellung  im 
Pergamon- Museum  gediehen  war,  kam  die  Reihe  auch  an  die  unschein- 
baren Kleinfunde.  Sie  mufsten  fiir  die  Benutzung  zur  Herausgabe  des 
ersten  Bandes  der  »Altertlmmer  von  Pergamon«  an's  Licht  gezogen  werden. 
Seit  etwa  einem  halben  Jahre  habe  ich  sie  ausgepackt,  geordnet  imd 
studirt,  wobei  ich  mich  besonders  der  sachkundigen  Beihülfe  der  HH. 
Pernice  und  Zahn  zu  ei-freuen  hatte.  Von  dem  Gewonnenen  machte 
ich  in  der  Akademie  einige  Mittheilungen  am  10.  April  und  am  13.  Novem- 
ber 1902.  Es  erschien  danach  angezeigt,  schon  vor  der  Veröffentlichung 
im  ersten  Bande  der  »Alterthümer  von  Pergamon«  den  Fachgenossen  mit 
einer  vorläufigen  Nachricht  eine  Vorstellung  davon  zu  geben,  was  von  den 
Kleinfunden  in  Pergamon  zu  erwarten  ist.  Dazu  ist  diese  Abhandlung 
bestimmt.  Wir  danken  es  der  Verwaltung  der  Königlichen  Museen,  daCs 
sie  gestattete,  eine  kleine  Auswahl  der  auf  ihre  Kosten  hergestellten  Ab- 


von  Flügeln  auf  den  Schultern.  Die  anderen  sind  unbedeutender,  ein  Negerkopf  (6708), 
Silenskopfe  (6290,  50.  6709),  Kopf  einer  Alten  (6290,  37)  u.  A..  Unter  19  Nummern  sind 
Seherben  von  sogenannten  megarischen  Bechern,  zwei  Exemplare  verschiedener  Grofse  eines 
GefafsgrifTes  mit  einer  Poseidonfigur  in  Relief,  eine  komische  Maske  zum  Aufhängen,  ein 
fliegender  Vogel  mit  einem  Loche  zum  Befestigen  auf  einem  Hintergrunde,  und  noch  weniger 
bedeutende  andere  Dinge. 

17  Lampen  sind  sämmtlich  aus  römischer  Zeit,  meist  mit  den  kleinen  Relief bildern 
im  mittleren  Rund  obenauf;  nur  eine  sehr  kleine  Lampe  in  Gesichtsform  (6290,  26)  stammt 
aus  vorrömischer  Zeit.  Auch  zwei  Formen  und  vier  Modelle  für  Lampen  gehören  in 
römische  Zeit. 

S«hr  zahlreich,  34  Nummern,  sindTerracottaformen  für  Rundfiguren  und  für  Reliefgebilde, 
darunter  einige  wenige,   die,  wie  auch  zwei  zugehörige  Köpfe,  schwerlich  rein  antik  sind. 

EinTerracottarelief,  Asklepios  darstellend,  ist  bei  Furtwangler,  Sammlung  Saburoff  1 
zu  Taf.  XXIV,  als  aus  Pergamon  stammend,   publicirt,   ohne  Angabe,  wo  es  sich  befindet. 


Die  Kleinfunde  aus  Pergamon.  5 

bildungen»  welche  vollständig  erst  in  den   »Alterthümern  von  Pergamon« 
erscheinen  sollen,  schon  hier  zur  Veranschaulichung  beizugeben. 

So  unscheinbar  die  Dinge  sind,  von  denen  damit  hier  die  Rede  sein 
soll,   so  reich  vervollständigt  wird  durch  sie  unsere  Kenntnifs  des  Stadt- 
ganzen von  Pergamon,   des  Lebens,   das   sich  in  ihm  einst  bewegte.     Zu 
den   gro£sen  Zügen,   in   denen  das  Wirken   der  Könige  imd  anderer  her- 
vorragender Mächte    seine  Geschichte    in    Bau-,    Bild-  und  Schriftwerken 
von  Stein  und,   leider  allzu  stark   gelichtet,   in  Metall  bis   zu  einem  ge- 
wissen Grade  bleibend  verkörpert  haben,  treten  in  den  geringeren  Fimd- 
stücken   die   Spuren   des   Kleinlebens  des  Volkes   uns   vor  Augen,   ausge- 
prägt mit   dem  Stempel  einer  Kunst,   die  in  einem  grofsen  Culturmittel- 
punkte  gestaltend  bis  in  das  Einzelnste  mid  Alltägliche  hinein  wirkte.    In 
ihrer   grofsen  Menge    füllen    die  Kleinfunde   einen   einheitlich   zusammen- 
hängenden und  deshalb  besonders  beachtenswerthen  Ausschnitt  der  Kunst- 
leistung, vornehmlich  der  hellenistischen  Epoche,  dessen  Gewinn  eines  der 
Hauptergebnisse  unserer  Arbeiten  in  Pergamon  ist.    Dafs  sie  in  ihrer  topo- 
graphischen Gruppirung  einen  werthvoUen  Beitrag  zur  Bewohnungsgeschichte 
der  verschiedenen  Stadttheile  geben,  kann  erst  im  Zusammenhange  mit  der 
Architektur  in  den  »Alterthümern  von  Pergamon«  voll  ausgefiihrt  werden. 
Die   hier  berücksichtigten  Fundstücke  rühren  so  gut  wie  ausschliefs- 
lich  aus  den  Ausgrabungen  der  Königlichen  Museen  bis  zum  Jahre  1886 
her,  ohne  Zuziehung  von  Funden  der  jüngsten  Ausgrabungen  des  Archäo- 
logischen Instituts.     Über  letztere  ist  in  den  Athenischen  Mittheilungen  des 
Instituts  1902,  S.  152  ff.,  eine  vorläufige  summarische  Nachricht  gegeben. 
Der  Fundort  des  hier  Besprochenen  ist  also  mit  verhältnifsmäfsig  wenigen 
Ausnahmen,    die    nicht   immer   festzustellen   sind,    der  oberste   Theil  des 
Stadtberges  bis  herab  zum  oberen  Markte. 

Ordnen  wir  dem  verarbeiteten  Materiale  nach,  so  tritt  Stein,  tritt 
Marmor  unter  den  Kleinfunden  zurück  gegen  Metall  und  Thon,  und  wir 
lassen  die  Marmorarbeiten  kleinen  Mafsstabes  um  so  mehr  aus  dem  Spiele, 
als  eine  Abgrenzung  nach  der  Gröfse  unter  den  in  dieser  Beziehung  so 
verschiedenartigen  Werken  nicht  wohl  zu  finden  ist. 

Von  Arbeiten  aus  Stein  mögen  übrigens,  fast  nur  als  Curiosität,  zwei 
kleine  Keih*,  der  eine  halb  abgebrochen,  und  ein  messerförmig  bearbeiteter 
Feuersteinsplitter  erwähnt  werden,  versprengte  Reste  primitiver  Technik. 
Die   beiden    erstgenannten  Stücke  bestehen   nach    der  Untersuchung  Hm. 


6  Conze: 

Klein's  aus  deijenigen  Augitvarietät,  die  man  als  Jadeit,  bez.  Ghloro* 
inelanit  bezeichnet.  Aus  guter  Zeit  dagegen  stammt  ein  kleines  Gerith, 
eine  jetzt  vom  abgebrochene  Spitze  an- 
scheinend von  Achat,  feinst  geglättet, 
in  einer  zum  Au&tecken  auf  einen 
Stiel  hohlen  Bronzehfllse,  beistehend 
abgebildet.  Es  scheint  ein  Instrument 
ziun  Glätten  zu  sein,  dergleichen  noch 
heute  zum  Poliren  in  verschiedener  Art  in  Verwendung  sind. 

Überreich  war  Fergamon  an  Arbeiten  aus  Metall.  Von  der  Menge 
statuarischer  Werke  aus  Bi-oiize  zeugen  leider  meistens  nur  die  Einsate- 
spuren in  erhaltenen  Marmorbasen,  sonst  eine  Anzahl  abgebrochener  Stücke, 
das  Ansehnlichste  darunter  der  Untertheil  des  Rundbildes  eines  nackten, 
mit  geschlossenen  Fülsen  stehenden  Knaben,  gefunden  im  Schutte  des 
Theaters,  also  wohl  aus  dem  Athenaheiligthume  stammend.  Von  kleineren 
figürlichen  Darstellungen  ist  fast  nur  der  »Satyr 
y'  ,__^  von  Pergamon»  zu  nennen,  den  Furtwängler 

im  40.BerlinerWiDckehnanns-Programme  (1880) 
herausgegeben  hat.   Mehr,  aber  auch  im  Verhält- 
nisse zum  Verlorenen  wenig  genug,  ist  von  den 
Metallzuthaten  der  Bauwerke  gerettet,  Bronze- 
dübel  mit  ihren  Hülsen  aus  Bronze,   ein   zier- 
liches Beschlagstück,  wie  es  scheint  von  einer 
Basis,  in  den  »Palästen«  geftinden,  dann  viele 
kleinere  Beschlagstöcke,  Nägel  und  Buckel  aus 
Bronze,  die  beistehend  abgebildete  Hälfte  eines 
konnthischen   Kapitells    aus    Bronzeblech,    an- 
scheinend Theil  des  Beschlages   von   der  Ecke 
eines  Geräthes.    Ferner  wiederum  in  den  »Pv 
lasten*  geftinden  sind  ziemlich  zahlreiche,  derb 
gearbeitete  Bruchstücke  von  Ehrenkränzen.    Sie 
sind  aus  vergoldeter  Bronze ,  Eichen-,  Epheu-,  Wein-,  Jjorbeerkränze,  letztere 
mit   Beeren   aus    weU'ser   Masse.      Ein   besonderes  Stück  soll   hier   heraus- 
gehoben werden,  um  es  vielleicht  dem  vollen  Verst&ndnisse  von  berufener 
Seite  zuzuführen.' 


Vergl.  Gevaert,  llistoire  et  TiSorie  de  la  tnun^u«  de  l'imtiipätd  II,  S.  ajoS,.  645^.. 


Die  Kiemfunde  aus  Pergamon,  7 

Es  ist  das  plastische  Abbild  einer  Flöte,  aus  jetzt  grün  patinirter 
Bronze  massiv  gegossen.  Es  wurde,  lose  im  Erdreich  liegend,  in  der 
Gegend  des  oberen  Nord west-Thores  der  Eumenischen  Stadtmauer  gefunden. 
Es  ist  vollständig  bis  auf  das  abgebrochene  und  verlorene,  wahrscheinlich 
nur  kleine  Ende  des,  wie  mir  scheint,  Mundstücks.  Keinerlei  Ansatzspur  an 
dem  Erhaltenen  fuhrt  darauf,  es  etwa  in  der  Hand  einer  statuarischen  Figur 
zu  denken.  Es  kann  dann  kaum  etwas  Anderes  als  ein  Weihgeschenk 
gewesen  sein.  Darauf,  mehr  als  auf  Zugehörigkeit  zu  einem  gröfseren 
plastischen  Werke,  fuhrt  auch  die  gleichmäfsig  rundum  vollendete  Aus- 
fuhrung. 

Die  Abbildung  auf  Taf.  i  zeigt  es  von  drei  Seiten  und  läfst  so  alle 
Einzelheiten  erkennen. 

Das  Ganze  mifst  0T46  in  der  Länge,  im  Durchmesser,  gleichmäfsig 
in  der  ganzen  Länge,  etwa  0T02,  an  der  unteren  Mündung  zu  o"o24  sich 
erweiternd.     Es  scheint  ein  Abbild  in  Naturgröfse. 

Dem  abgebrochenen  Ende,  wie  ich  also  annehme,  dem  Mundstücke 
zu,  sind  drei  offene  Löcher  in  ziemlich  gleichem  Abstände  von  einander 
angegeben  (in  der  Abbildung  a,  ß^  7),  diese  wohl  zum  Spiele  mit  den 
Fingern  bestimmt.  Sonst  sind  nur  noch  zwei  Löcher,  eines  davon  wsicht- 
bar,  anzunehmen,  wenn  ich  recht  verstehe,  jedes  durch  einen  Schieber, 
der  schwerlich  während  des  Spiels  bewegt  werden  konnte,  zu  öffnen  oder 
zu  schliefsen,  also  wohl  zu  einer  Änderung  der  Tonart  während  eines 
ganzen  Musikabschnittes  bestimmt.  Solcher  Schieber  sind  drei  vorhanden 
(in  der  Abbildung  am  oberen  Ende  mit  i,  2,  3  bezeichnet).  Jeder  der- 
selben läuft  unter  einem  den  ganzen  Umfang  des  Körpers  der  Flöte  um- 
fassenden Bande  durch,  wird  von  ihm  gehalten,  der  Schieber  i  und  der 
Schieber  3  beide  von  demselben  Banden:,  der  Schieber  2  von  dem  Bande y. 
Aufserdem  ist  noch  ein  drittes  Band  (z)  vorhanden,  das  aber  keinen  der 
Schieber  umfafst,  von  einer  Seite  her  unter  die  Schieber  2  und  3  ver- 
läuft, zwischen  diesen  beiden  Schiebern  aber  nicht  ganz  ausgeführt  ist. 
Die  drei  Schieber,  deren  Griffe  frei  über  den  Bändern  y  und  z  liegen, 
konnten  anscheinend  nur,  und  deshalb  habe  ich  sie  so  genaimt,  unter  dem 
sie  ihrer  ganzen  Länge  nach  am  Körper  der  Flöte  festhaltenden  Bändern 
nach  oben  und  nach  unten  geschoben  werden.  Das  scheint  auch  seinem 
Zwecke  nach  verständlich  bei  i  und  3.  Diese  beiden  haben  nicht  nur, 
wie  auch  2,  an  ihrem  oberen  Ende,  was  ich  für  einen  Griff,  eine  Führung 


8  ('onze: 

ansehe ,  sondern  aucli  an  ihrem  unteren  Ende  eine  oblonge ,  aber  gewölbt 
an   den  Körper  der  Flöte   sich  eng  anlegende  Platte  (a,  b).     Die  Platte  b 
ISfst  bei  3,  das  hoch  hinaufgezogen  ist,  das  schon  erwähnte  eine  Loch  {S) 
offen,  während  die  Platte  a  bei  i,  das  hinuntergeschoben  ist,  ein  solches, 
daher  nicht  sichtbares  Loch  verschliefsen  wird.     Merkwürdig  ist,  dais  dem 
dritten  Schieber  2   eine  solche  Schlielsplatte  am  unteren  Ende  völlig  fehlt, 
auch    kein   I^och   hier   angegeben   ist,    so  dals    die   Herrichtung  an    dieser 
Stelle  mir  unverständlich  bleibt.    Ich  glaube  nicht,  dafs  man  mit  Ungenauig- 
keiten   der    Darstellung,    um    solche  Schwierigkeiten    zu   beseitigen ,    wird 
rechnen  dürfen.     Es  scheint  Alles  an  dem  kleinen  Werke  mit  Verständnifs 
gemacht  zu  sein,    die  Entstehung  möchte 
ich    auch    noch    in  die   Königszeit    setzen. 
Arbeiten   aus  Gold  und  Silber  haben 
sich,  man  kann  sagen,  gar  nicht  gerettet; 
ganz   Winziges    verdient    die    Erwähnung 
nicht.    Nicht  aus  Pergamon  selbst,  aber  in 
der  Hafenstadt  Elaia  gefiinden,  kam  ein  in 
dünnem    Silberblecli    getriebenes    Emblem 
einer  Schale  in  unsere  Hände,  beistehend 
abgebildet.  Es  mifst  ol'oss  imDurchmesser. 
Es   zeigt  wohl   erhalten   einen  männlichen 
Portraitkopf    aus    der     ersten     römischen 
Kaiserzeit,  anscheinend  mit  keiner  bekannten  Persönlichkeit  zu  identificiren. 
Münzen  wurden  in  ziemlich  grofser  Zahl  bei  den  Ausgrabungen  auf- 
gelesen,  aber  so  gut  wie   keine  aus  Edelmetall,    nur  Kupferkleingeld  der 
Königs-  und  frühen  römi-schen  Zeit,  Gepräge  der  Kaiser-,  der  byzantinischen 
und   otttjmanischen   Zeiten,    meist   schlechter  Erhaltung.      Das   bleibt   der 
numismatischen  Behandlung  vorbehalten. 

Von  Eisen  kamen  Waffenreste,  Speer- und  Pfeilspitzen,  Beschlägtheile 
von  grofsen  Holzconstructionen  zum  Vorschein ,  und  eiserne  Nägel  konnten 
nicht  fehlen. 

Das  bei  der  Ausbeutung  der  Kuinen  besonders  viel  begehrte  Blei  ist 
hier  und  da  als  Vergul's  von  Dübeln  und  Klammern  erhalten,  sonst  nur 
in  wenigen,  verschwindend  geringtügigen  Stückchen. 

Von  Arbeiten  aus  Knochen  ist  nichts  Nennenswerthes  gefunden,  auch 
von    geschnittenen   Steinen   nur  ganz  unbedeutende  Exemplare.     Von 


Die  Kleinfunde!  aus  Pergamon.  9 

Glas  fehlen  Bruchstücke  von  sogenanntem  Milleflori  nicht;  von  erheblichem 
Interesse  ist  aber  der  kleine  Überrest  einer  reichen  Arbeit  aus  buntem 
Glasflufe. 

Es  ist  das  am  oberen  und  unteren  Ende  abgebrochene,  danach  jefcit 
o"05  hohe  Stück  einer  unten  o"033,  oben  o"03  breiten,  ol'oi  i,  das  Relief 
ungerechnet,  dicken  Platte;  beide  Breitseiten  sind  mit  Darstellung  in  Relief 
versehen,  beide  schmalen  Seitenflächen  im  Querschnitte  leicht  concav 
zwischen  flachen  Rändern.  Der  Bruch  am  unteren  Ende  geht  in  voller 
Masse  durch,  im  oberen  Bruche  liegt  ein  bis  oTooy  tiefes,  etwa  oTii 
langes  und  o'!'oo3  breites  Loch,  wie  ein  winziges  Dübel-  oder  Zapfenloch, 

zum  Eingreifen  einer  Verbin- 
dung mit  einem  anderen  Theile 
eines  Ganzen. 

Die  Platte  besteht  aus 
ultramarin  -blauem  Glnsflusse, 
die  Reliofbilder  auf  den  beiden 
Breitseiten  sind  beistehend  im 
Umrifs  wiedergegeben, 

Einoi-seits  erscheint  nacli 
der  rechten  Seittr  hin  ein  in 
der  ganzen  Höhe  des  Frag- 
ments aufragender  knorriger 
Baumstamm,  wie  etwa  einer 
Platane,  in  braunem  Glasflusse,  An  seinem  unteren  Ende,  anscheinend  ihn 
da  verdeckend,  scheint  eine  menschliche  Figur  dargestellt  zu  sein,  diese  in 
gelblichem  Glasflusse;  nur  die  Gesammtform  eines  Kopfes  und  sonst  un- 
förmlich zerstörte  Masse  sind  erhalten;  nach  dem  linken  Rande  hin  gerückt, 
hoch  oben,  steht  ein  bauchiges,  anscheinend  zweihenkeliges  GefSfs  in  blauer 
Masse  auf  einer  jetzt  weggebroclienen  Säule;  diese  scheint  nach  am  Unmde 
haftenden  Resten  liellfarbig  gewesen  zu  sein. 

Auf  der  anderen  Breitseite  steht  nach  rechts  hin  gerückt  wieder 
ein  in  ganzer  Höhe  des  Fragments  aufgehender  knorriger  Baumstamm, 
aus  braunem  Glasflüsse.  Links  von  ihm  eine  mit  der  ÖiFnung  ihm  zu- 
gekehrte, nach  oben  spitz  zugehende  Hütte  von  aufrecht  gestellten,  durcli 
Querbänder  zusammengelialtenen  Stäben,  etwa  Rohr,  alles  aus  gelbem 
Glasflusse. 

IMog.-hüUfr.AhL  1902.    I.  2 


'/.  V. 


10  ('  o  N  z  K : 

Die  RelieftJieile  sind  beiderseits  nicht  auf  eine  ^anz  ebene  Fläelie  des 
blauen  Grundes  aufgesetzt,  den  Formen  des  Reliefbildes  entsprechend  ist 
dieser  vielmehr  leicht  eingetieft. 

Die  Darstellungen  beiderseits  haben  augenfällig  den  Charakter  der  in 
letzter  Zeit  vorwiegend  als  alexandrinischen  Ursprungs  angesehenen  land- 
schaftlichen Reliefbilder .  ^  Der  kleine  Rest  setzt  ein  sehr  reiches  Ganzes, 
dem  er  angehörte,  voraus,  gewifs  aus  der  Königszeit  von  Pergamon. 

Der  Anzahl  der  Reste  nach  überwiegen  unter  den  pergamenischen 
Kleinfunden  die  der  Arbeiten  aus  gebranntem  Thon,  diese  bei  aller 
Zerbrechlichkeit  doch  in  ihren  Stücken  deshalb  unverwüstlichsten  Manu- 
facte,  weil  ihr  Material  der  Wiederverwendung  zu  neuen  Zwecken,  dieser 
Hauptursache  aller  Zerstörung,  sicli  durchaus  widersetzt  und  auch  der  Ein- 
wirkung der  Verwitterung  in    hohem  Mafse  widersteht.     Von    diesen   von 

der  Forschung  erst  in  unseren  Tagen  recht  voll  in  ihrem  wissenschaftlichen 

**  ** 

Werthe   erkannten   unscheinbaren  Uberresten   soll   hier   im  Überblicke  die 

Rede  sein.  Wir  haben  es  dabei  mit  einer  Summe  von  Erscheinungen  zu 
thun,  welclie  dem  Archäologen  so  ziemlicli  alle  nicht  neu  sind.  Dennoch 
scheint  es  nützlich,  sie  eigens  zu  verzeichnen,  da  sie  durch  das  Vorkommen 
in  einem  Zusammenliange,  und  zwar  gerade  an  einem  besonders  bedeutenden 
Mittelpunkte  der  Cultur  und  der  Technik,  sicli  zusammenschliefsen,  auch 
der  Zeit  nach  durch  die  in  den  grofsen  Zügen  anderweitig  gesicherte  Ge- 
schichte des  Fundplatzes   oft  besser  als  sonstwo  bestimmbar  sind   und  so 

*  Zu  der  natnentlich  von  Schreiber  vertretenen  Herleitimg  von  Formen  der  helle- 
nistischen Kunst  aus  Alexandria,  das  ja  gewifs  einen  sehr  grofsen  Antheil  an  der  Schaffunj; 
der  neuen  Formenwelt  hatte,  mag  hier  eine  Einzelheit  beigebracht  werden.    Aufse.r  zwei  schon 

früher  gefundenen  ist  ein  Exemplar  eines  Henkels  mit  «Schnabel ausätzen«  bei 
den  Ausgrabungen  im  Jahre  1901  in  Pergamon  am  Westabhange  des  obei'en 
Stadtberges  zum  \'orschein  gekommen,  jetzt  im  Marktnuiseum  dort.  Es  ist  aus 
gebranntem  Thon  mit  dunkler  Glasur,  auf  der  Oberlläche  der  Rest  einer  ein- 
geritzten Inschrift,  das  Ganze  beistehend  verkleinert  in  Oberansicht  abgebildet. 
Eine  im  Berliner  Museum  ausgestellte  Bronzeschale  mit  einem  solchen  Griffe, 
aus  Piiene,  ist  ein  weiteres  Beispiel  des  Vorkommens  dieses  Motivs  auch  in 
Kleinasien.  Das  steht  der  Theorie  Schrei  her 's  (Alexandrinische  Toreutik. 
Leipziger  Abhandlungen  Xl\',  S.  273  ff.)  durchaus  nicht  im  Wege,  nach  welcher 
die  Erfindung  dieser  besonderen  Form  für  Alexandria  in  Anspruch  genommen 
wird,  wenn  die  These  im  übrigen  als  begründet  gelten  darf.  Dafs  aber  die  in  Ägypten 
gefundenen  Gufsformen  dieser  Griffform  mehr  als  die  dort,  wie  auch  gewifs  anderwärts, 
erfolgte  Anfertigung,  dafs  sie  den  Urs])rung  des  Motivs  in  Alexandria  zu  beweisen  hinreichen, 
erscheint  mir  zweifelhaft. 


Dif  fCleinfunde  atis  Pergamon. 


11 


y2: 


^^ 


einen  festen  Punkt  bei  vergleichenden  Studien  in  weiterem  Umfange  zu 
bieten  sich  eignen.  Diesen  vergleichenden  Studien  selbst  dabei  nachzu- 
gehen ist  aber  nicht  die  Absicht.  Bei  solcher  Entsagung  mag  bei  mir 
persönlich  aufser  dem  Bewufstsein  mangelnden  hinreichenden  Überblicks 
über  alles  vorhandene  Material  auch  eine  seit  Langem  wachsende  Neigung 
im  Spiele  zu  sein,  die  Thatsachen  lieber  durch  sauber  geordnete  Vorlagen 
allmählich,   wie   von   selbst,    in   den   richtigen   Zusammenhang  rücken  zu 

lassen,  als  die  Herstellung  von  Zusammen- 
hängen mit  Anstrengung,  nur  zu  oft  vor  der 
Zeit,  erzwingen  zu  wollen. 

Die  Arbeiten  aus  gebranntem  Thon  also. 
Wir  dürfen  erwarten ,  unter  den  in  Pergamon 
geftmdenen  Resten  der  Art  vorwiegend  Er- 
zeugnisse einheimischer  Arbeit  zu  finden. 
Dafs  Pergamon  auch  für  diese  Technik  ein 
grofser  Fabrikort  war,  beweisen  die  unter  den 
Fundstücken  nicht  seltenen  Thonformen. 
Dergleichen  gelangten ,  wie  Eingangs  erwähnt, 
schon  vor  Beginn  unserer  Ausgrabungen  in 
die  Berliner  Museen,  und  bei  den  Ausgra- 
bungen wurden  noch  acht  Exemplare  ge- 
funden. Aufserdem  befinden  sich  TeiTacotta- 
formen  aus  Pergamon  namentlich  auch  im 
Nationalmuseum  zu  Athen ,  aus  der  Sammlung 
der  archäologischen  Gesellschaft  stammend. 
Ich  entnehme  diese  Kenntnifs  einer  Aufeeichnung  des  Hrn.  Ernst  Pfuhl.^ 
Zu  den  Kleinfunden  aus  gebranntem  Thon,  welche  die  Ausgrabungen 
geliefert  haben,  sind  Bruchstücke  von  senkrecht  aufgerichteten  Simen  als 
Theile  grofsen  Bauwerks,  genau  genommen,  nicht  zu  rechnen.  Doch  mögen 
sie  hier  erwähnt  werden,  um  zum  Vergleiche  mit  verwandten  alterthüm- 

'  Die  Stiicke  haben  im  Inventar  von  Kumanudis  die  Nummern  85 — 107,  während  sie 
im  Museumsinventar  zwischen  anderen  Formen  verstreut  sind.  Die  unbedeutenden  Stucke 
l^umanudis  94,  96,  102,  103  sind  im  Museum  nicht  inventarisirt  und  nicht  aufzufinden.  Ich 
führe  hier  nur  die  Nummern  auf:  Inv.  9816  (97).  9826  (86).  9832  (95).  9838  (91).  9870  (85). 
9879(104).  9892(107).  9903(101).  9917(106).  9931(93).  9934(99).  9937(87).  9942(98). 
9945(89)-  9946(100).  9954(92).  9971(105).  9976(88).  9979(104).  9987(90).  Den  genauen 
Fundplatz  dieser  Exemplare  kenneu  wir  nicht. 

2* 


12  Conze: 

liehen  Stücken  einzuladen,  wie  sie  z.  B.  unter  den  Funden  der  Körte 'sehen 
Ausgrabungen  zu  Gordion  vorkommen.  Eines  der  im  Ganzen  vier  vor- 
handenen Stücke  gebe  ich  auch  umstehend  in  Abbildung.  Zu  oberst  ist 
der  aufrechtstehende  Theil,  darunter  die  Ansicht  der  Unterseite  gegeben. 
Das  Hauptornament  des  aufreclitstehenden  Theils  ist  in  Relief  ausgeffihrt 
mit  Resten  rother  (einfach  schraffirt  in  der  Abbildung)  und  blauer  (kreuz- 
weise schraffirt)  Bemalung.  Die  Rhomben  am  unteren  Rande  und  die 
Palmetten  auf  der  Unterseite  sind  braun,  nur  gemalt. 

Dafs  es  in  Pergamon  von  dem,  was  wir  vorzugsweise  Terracotten  zu 
nennen  pflegen,  von  Rundfigürchen  aus  gebranntem  Thon  wimmelte, 
ist  sicher,  wenn  auch  nicht  viel  Erhebliches  davon  unter  unseren  Funden 
ist,  ganze  Figuren  sehr  wenige.  Ich  nenne  einen  Schauspieler,  eine  betende 
Frau,  eine  Frau  mit  einer  Traube  in  der  einen  Hand,  eine  Frauenfigur  in 
spielend  archaisirender  Form,  eine  Hüftenherme,  ähnlich  einem  Priapos,  und 
eine  andere,  jugendlich  männliche,  einen  dicken  Mann  mit  Schurz,  der  an- 
scheinend ein  Thier  über  den  Schultern  hält,  eine  Frau  mit  einem  Kinde 
an  der  Brust ,  einen  hockenden  Jungen  mit  spitzer  Mütze ,  und  dann  Puppen, 
nackt,  weiblich,  mit  den  auch  von  Pottier  und  Reinach  (Necropole  de 
Myrina  zu  Taf.  II,  2.  5)  bemerkten  ^enormes  chaussures^,  d.  h.  hohen  Unter- 
sätzen, mit  einem  senkrechten  Einschnitte  vorn,  unter  den  Füfsen  —  ob 
sie  dienten,  die  Figürchen  irgendwie  damit  einzidassen  und  zinm  Stehen 
zu  bringen?  —  Unter  den  kleineren  Bruchstücken  sind  Reste  von  Flügeln, 
sichtlich  von  beflügelten  menschlichen  Figuren,  nicht  selten.  Einige  caricirte 
Bildungen  fehlen  auch  nicht,  dann  weibliche  Köpfe  mit  den  sogenannten 
Melonenfrisuren ,  Kinderköpfe  mit  der  Scheitelflechte ,  alles  aus  der  Formen- 
welt der  hellenistischen  Zeit.  —  Also  so  wenig  Ganzes  oder  als  Ganzes 
halbwegs  zu  Erkennendes ,  aber  Brocken  in  grofser  Menge.  Wir  haben  ja 
bisher  in  Pergamon  kaum  noch  die  Ruhe  der  Todten  gestört ,  deren  Gräber 
dergleichen  unversehrter  bewahren.  Was  in  den  Wohnräumen  der  Hoch- 
stadt in  hellenistischer  Zeit  an  Thonfigürchen  vorhanden  war,  das  konnte 
bei  der  einigermafsen  fortgesetzten  Wiederbenutzung  der  Wohnplätze  nicht 
unversehrt  bleiben.  Die  ungezählten  Mengen  von  Bruchstücken,  die  wir 
in  meist  vergeblicher  Hoffnung,  sie  wieder  zusammensetzen  zu  können,  in 
die  Berliner  Museen  gebracht  haben,  sind  auch  in  ihrer  Oberfläche  arg 
mitgenommen.  Von  Bemalung  sind  verschwindend  geringe  Spuren  von 
blauer  Farbe,    häufiger   ein  rosenrother  Überzug  des  Ganzen   noch  zu  be- 


Die  Kkmfunde  aus  Ptrgamon.  13 

merken.     Der  Stil  der  Formen  ist,  so  weit  das  zu  erkennen  ist,  dem  der 
Tcrracotta  aus  Myrina  verwandt. 

Von  dem  besonders  verbreiteten  Hausger&tlie  der  Thonlampen  — 
nur  eine  einzelne,  einfacli  geformte  ans  Bronze  ist  da  —  wurde  eine 
immerhin  ziemlicb  reichhaltige  Anzahl  gefunden.  In  ihnen  tritt  der  Unter- 
schied des  freien  Künstlerischen  und  des  mechanisch  Fabrikartigen  der 
hellenistischen  und  der  römischen  Periode  mit  äufserster  Eindringlichkeit 
vor  Augen.  Es  ist  durchaus  nicht  neu,  was  darüber  zu  bemerken  ist,  es 
liegt  aber  hier  in  besonderer  Handgreiflichkeit  an  den  Funden  eines  und 
desselben  Ortes  vor.  Der  obere  Stadtberg  von  Pergamon  war  in  der  Königs- 
zeit der  Platz  dicht  gedrängter  Bewohnung  innerlialb  der  Befestigungen, 
er  wurde  zur  relativ  verlassenen  Altstadt,    als    im  römisclien  Frieden  die 


RSnigszMt  Römische  Zeit 

moderne  Stadt  oflFen  in  die  Ebene  hinein  sich  dehnte.  Daher  rühren  unter 
den  Funden  der  Humann 'sehen  Ausgrabungen,  die  ja  vorzugsweise  auf 
die  Hochstadt  sich  beschränkten,  abgesehen  von  einigen  ganz  wenigen  aus 
noch  älterer  Zeit,  etwa  50  Lampen  aus  der  Königszeit  und  nur  etwa  15 
aus  der  Zeit  der  römischen  Herrschaft  her.  Und  welche  gnmdgehende 
Verschiedenheit  dieser  beiden  Gruppen!  Wir  geben  hier  in  Abbildung  nur 
je  einen  Typus  der  einen  und  der  anderen  Epoche. 

Die  Lampe  der  hellenistischen  Zeit  ist  in  Ihrer  Gesammtform  vorwie- 
gend lang  gestreckt  vom  Griffe  zu  der  Dochtmündung  hin ,  so  die  Flamme 
weit  von  der  Hand  vorstreckend.  Die  Lampe  der  römischen  Zeit  ist  kürzer, 
im  Körper  kreisrund,  schon  damit  weit  leichter  zu  fabriciren.  Der  Kanal 
fUr  den  Docht  geht  im  Zusammenhange  mit  dieser  verschiedenen  Gesanmt- 
form  (las  eine  Mal  von  der  Ölbehälter- Höhlung  her  scliräg  aufsteigend  zum 
CTÖMA,  das  andere  Mal  ist  er  auf  kürzerem  Kaume  mehr  senkrecht  gestellt. 


14  Conze: 

Ungemein  zahlreicli  sind  die  Lampen  des  römischen  Typus  jüngst  in  Per- 
gamon  in  einzelnen  Magazinen  des  unteren  Marktes,  aus  der  Benutzung 
dieses  Marktes  in  der  Kaiserzeit  stammend,  gefunden,  und  denselben  Typus 
zeigt  auch  die  Zusammenstellung  von  Lampenformen  vorzugsweise  stadt- 
römischen Ursprungs,  welche  Dressel  im  CIL  XV,  2  auf  Tafel  III  unter 
6 — 31   gegeben  hat. 

Massenanfertigung  mufste  ja  in  der  einen  wie  in  der  anderen  Zeit  für 
dieses  in  jeder  Behausung  unentbehrliche  Geräth  stattfinden.  Dennoch  ist 
sie  individuell  künstlerisch,  zeigt  immer  wieder  die  lebendig  gestaltende 
Hand  des  Arbeiters  in  der  älteren ,  die  Schablone  bei  sogar  einfachem  Aus- 
drücken aus  einer  Gesammtform,  von  denen  letzteren  eine  Menge  auf  dem 
unteren  Markte  jüngst  gefunden  sind,  in  römischer  Zeit.  Das  läfst  sich  voll 
nur  sehen  und  empfinden  an  den  Originalen,  wie  das  eine  Mal  z.  B.  die 
Henkel  aus  besonders  gedrehtem  Thon  frei  angesetzt,  das  andere  Mal  in 
eins  mit  dem  Ganzen  aus  der  Form  gedrückt  und  nur  mit  Durchstechen 
eines  runden  Instruments ,  das  auch  zum  Herstellen  der  Dochtöffnung  diente, 
monoton  in  die  Henkelform  gebracht  sind.  Der  Zierrath  der  römischen 
Zeit  verarmt  auf  ein  im  mittleren  Rund  der  Oberseite  des  Lampenkörpers, 
ohne  Rücksicht  auf  die  Öffnung  da,  angebrachtes  Bildchen,  höchstens  mit 
einem  einförmig  umlaufenden  Randornamente.  Das  Bildchen  ist  in  diesem 
Rahmen  selbständig,  oft  von  offenbar  för  sein  Publicum  gegenständlichem 
Interesse :  Circus-  und  Gladiatorenspiele ,  erotischer  Kreis.  Dagegen  ist  die 
Lampe  der  hellenistischen  Zeit  ein  tektonisch  höchst  mannigfaltig  gestal- 
tetes Gebilde,  mit  einem  verschlungenen  oder  mit  einem  einfachen  Henkel 
oder  ganz  ohne  einen  solchen,  mit  zwei  oder  auch  nur  einem  Seitengriffchen 
oder  auch  ohne  das.  Die  Zierformen  lösen  sich  nicht  selbständig  los ,  sondern 
stehen  durchweg  in  lebendigem  Zusammenhange  mit  der  Gesammtform; 
an  reicheren  Exemplaren  sind  sie  der  Pflanzenwelt  entnommen :  ein  Vogel, 
ein  Frosch,  mehrfach  eine  Maske  sind  gern  am  Halse,  der  Dochtöffnung 
zugewandt,  angebracht  und  mögen  hier,  der  Flamme  nahe,  eine  wenn  auch 
verblafste  apotropäische  Kraft  haben. 

Die  schon  oben  kurz  erwähnten,  ganz  wenigen,  etwas  alter  als  di(* 
Königszeit  anzusetzenden  Lampen  mit  schwarzem  Firnis,  gleichen  im  Typus 
den  von  Dressel  aus  der  Esquilinischen  Nekropolis  {Annali  dell' instüuto 
1880,  tav.  d^  agg.  0)  zusammengestellten,  als  vielleicht  Campanischer  Her- 
kunft angesehenen  und  in  das  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  datirten  Exemplaren. 


■.■!■    ■■ 


Die  Kleinfunde  atis  Pergamon.  15 

Inschriften  haben  diese  Exemplare  aus  Pergamon  nicht,  wie  Inschriften,  sei  es 
in  Stempel  oder  eingeritzt,  den  Lampen  von  dort  bis  jetzt  überhaupt  fehlen. 

Der  gesammte  Lampenvorrath  aus  Pergamon  giebt  also  ein  höchst 
merkwürdiges,  eindringlich  sprechendes  Culturbild  im  Kleinen.  In  noch 
gröfserem  Reichthume  breitet  sich  ein  solches  aus  in  den  zahlreichen 
Überresten  von  Thongefafsen. 

Aus  der  allerältesten  Ansiedlung  auf  der  höchsten  Stelle  des  Stadt- 
berges, längst  bevor  nach  der  pergamenischen  Stadtchronik  (I.  v.  P.  n.  613) 
Orontes  um  die  Mitte  des  4.  Jahrhunderts  v.  Chr.  die  Bewohner  bei  dem 
vorzubereitenden  Kriegszustande  wieder  in  die  alte  Stadt,  von  der  sie  wohl 
in  friedlicheren  Zeiten  zu  ihren  Ackern  sich  hinabgezogen  hatten,  zurück- 
versetzte, sind  uns  als  einzige  Zeugen  ihrer  Frühzeit  einige  Vasen  seh  erben 
in  die  Hände  gefallen.  Sie  wurden  an  den  Westabhängen  der  Hochstadt 
aufgelesen.  Sie  sind,  wie  Böhlau  und  Lösch cke  es  nennen,  mit  »milesi- 
schen«,  streifenweise  geordneten  Reihen  von  Thieren  und  eingestreutem 
Ornament  bemalt.  Die  Hauptscherbe  von  sehr  feiner  Ausfiihnmg  ist  auf 
Tafel  2  abgebildet.  Sie  ist  sehr  flach  gewölbt,  wie  von  einer  Schale,  die 
Malerei  ist  ohne  Ritzlinien  ausgeführt.  Auf  der  einen  Fläche  der  Scherbe 
ist  der  Rest  eines  nach  links  schreitenden,  den  Kopf  gesenkt  vorstrecken- 
den Steinbocks,  auf  der  anderen  Fläche  der  Rest  von  zwei  gleichen  Thieren 
erhalten.  Dieses  wie  das  Übrige  zeigt  die  Abbildung,  auch  die  Farben, 
an  den  Thierstreifen  ein  Braun  auf  fahlgelbem,  auf  den  rothgelben  Thon 
aufgetragenen  Gixmde,  die  Omamentstreifen  unter  den  Thieren  in  Weife  auf 
violettem  Grunde.  Ein  verwandtes  Stück  aus  der  Nachbarschaft  von  Pergamon 
bei  Pitane  publiciren  Pottier  und  Reinach,  Necropok  de  Myrina,  S.  50/^. 

Ebenfalls  am  Westabhange  des  oberen  Stadtberges ,  aber  ziemlich  weit 
«al)wärts  unterhalb  des  Südendes  der  Theaterterrasse,  fand  sich  ein  0^07 
hoher,  runder,  einhenkliger  Aryballos,  sogenannter  korinthischer  Art,  mit 
der  in  Ritzimg  und  sehr  verwischter  Malerei  in  Braun  ausgeführten  Figur 
eines  Vogels,  anscheinend  nicht  mit  Menschenkopf,  mit  ausgebreiteten 
Flügeln. 

Unter  den  übrigen  Vasenscherben  befinden  sich  nur  zwei  ganz  unbe- 
<leutende,  in  drr  allernachlässigsten ,  spätesten  Weise  mit  rothen  Figuren 
auf  schwarzem  Crrunde,  einige  andere,  etwa  gleicher  Zeit  angehörige  mit 
flüchtig  in  schwarzer,  schwarzbrauner  Farbe  auf  matt  röthlichgelbem  Grunde 
hingeworfenem  Ornament. 


16  C  o  N  z  E : 

Hieran  reihen  sich  Stücke  von  6e£&ijsen,  deren  eines  nocli  in  seiner 
Gesammtform  als  kleines  Sch&lchen  mit  dicker  Wandung  kenntlich  ist,  die 
ganz  mit  dem  schönsten,  glänzend  spiegeUiden  Schwarz  überzogen  sind, 
einige  von  ihnen  mit  eingeprefsten  Mustern.  Ein  solches  ist  abgebildet  auf 
Tafel  3 ;  der  Fufs  ist  unterwärts  mit  glänzend  schwarzen  Ringen  auf  roth- 
gelber Grundirung  versehen.  Diese  Stücke  feiner  Technik  mögen  attischer 
Import  sein,  etwa  aus  der  Zeit,  als  Xenophon  399  v.  Chr.  auf  der  Burg 
Pergamon  zu  Gaste  war. 

Nach  Attika  weisen  auch  die  Fragmente  einer  grofsen  schlanken  Lekythos 
mit  aufsen  weifser  Grundirung  und  darauf  gesetztem  Rosenroth  und  glänzendem 
Schwarz  eines  am  unteren  Rande  umlaufenden  vorgeritzten  Streifens.  Sie 
wurden  auf  der  Hochburg  in  den  »Palästen«,  in  dem  Räume  IVa  des  Planes 
im  3.  vorläufigen  Berichte  1888,  gefunden.  Ferner  attisch  sind  verschiedene 
sehr  dickwandige  Bruchstücke  später  panathenäischer  Preisamphoren ,  eines 
darunter  mit  der  Inschrift  J.  v.  P.  1328. 

Von  diesen  wenigen  Stücken  älterer  Zeiten  abgesehen,  stammt  die  aufser- 
ordentlich  grofse  Menge  unserer  Thongefäfssch  erben  aus  der  Zeit  stärkster 
Bewohnung  des  Stadtberges  unter  den  Königen.  Sie  kamen  überall  bei  den 
Grabungen  zum  Vorschein ;  ein  besonders  reichhaltiger  Fundplatz ,  an  dem 
man  ihre  Zalil  noch  leicht  vermehren  könnte,  ist  aber  der  Abhang  auCsen 
unter  dem  obersten  Knicke  der  in  gebrochener  Linie  im  Osten  zum  Ketios- 
thale  absteigenden  Eumenischen  Stadtmauer.  Allem  Anscheine  nach  ist 
hier  ein  Abschuttplatz  gewesen.  Was  wir  jüngst  noch  durch  zwei  Arbeiter 
in  wenigen  Tagen  an  dieser  Stelle  zusammenbringen  liefsen,  haben  wir 
mit  Erlaubnils  der  türkischen  Alterthümer-Verwaltung  als  ein  am  Platze 
so  gut  wie  werthloses  Material  an  die  Sammlungen  in  Bonn ,  Mainz ,  Trier 
und  Wiesbaden  zum  Vergleiche  mit  der  verwandten  provinzial- römischen 
Keramik  abgegeben. 

Die  wirklich  zahllose  Menge  der  pergamenischen  Scherben  zeigt  durch- 
gehend, wie  um  das  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  die  alte  griechische  Vasen- 
malerei einfach  verschwunden  ist.  Die  reine  Darstellung  auf  der  Fläche 
der  sogenannten  rothfigurigen  Vasen  macht,  wenn  wir  zunächst  die  Fort- 
setzung des  Gefäfsschmuckes  nur  in  Malerei  in's  Auge  fassen,  einer  inhaltlidi 
und  technisch  bequemeren  Weise  Platz.  Nicht  mehr  figürliche  Darstellungen, 
sondern  nur  Pflanzen-  und  andere  Ornamente  werden  auf  den  fertigen 
schwärzlichen  oder  rothen  Grund  theils  mit  Farbe,  weilsgelb  oder  violett, 


Die  Kleinfwide  avu  Pergamon.  17 

pastOR  aufgesetzt,  theils  durch  Einritzung,  welche  die  hellere  Thonfarbe 
des  Untergrundes  fireilegt,  ausgeführt.  Schon  in  dieser  malerischen  und 
zeichnerischen  Technik ,  die  also  leicht  erhaben  über  und  leicht  vertieft  unter 
den  Gnmd  geht,  ist  die  vorwiegende  Flächendarstellung  der  früheren  Jahr- 
himderte  aufgegeben.  Es  ist  bereits  eine  Tendenz  zum  Relief  zu  erkennen, 
zum  wirklichen  Relief,  das  um  dieselbe  Zeit,  wie  auch  die  pergamenisctien 
Fimdstöcke  zeigen,  in  die  Vasenkeramik  dominirend  eindringt. 

Die  zur  Verwendung  gebrachten  Motive  sind  nur  formell  zierend,  von 
geringer    gegenständlicher  Bedeutung.     Die  Erzählerfreude   altgrieehischer 
Zeit,  schon  Iftngst  abgeschwächt,  ist  gründlich  versiegt.     Die  Kunst  spielt 
mit  rein  formellem  Gefallen  ihre  eige- 
nen Weisen. 

Unter  den  Motiven  erscheinen 
besonders  häufig,  wohl  im  Zusammen- 
hange mit  dem  in  Pergamon  um  die 
Zeit  vorherrschenden  dionysischen 
,  Wesen,  Blätter  und  Trauben  von 
Epheu:  eine  Probe  beistehend.  Femer 
wiederholen  sich  Gehänge,  der  soge- 
nannte Eierstab  ist  geläuüg,  dann 
Zweige,  Palmetten,  Rosetten,  Wellen- 
linien, auch  »Sehachhrett»muster,  von 
lebenden  Wesen  sind  Vögel  und  Fische 
,,  beliebt.     Ich  verweise  zur  Ergänzung 

des  hier  nur  mit  Wenigem  Angedeute- 
ten auf  die  reichhaltige  und  von  Gillieron  trelTlich  illustrirte  Mittheilung 
von  Gef^fsen  und  Geftfsscherben  derselben  Art  athenischen  Fundorts,  welche 
jüngst  Watzinger  in  den  Athenischen  Mittheilungen  des  Instituts  1901, 
vS.öyif.  mit  Taf  III  und  IV  gemacht  hat. 

Auffallend  sind  unter  den  pergamenischen  Funden  Thongefäfsscherben, 
die  in  einer  ganz  anderen  Technik,  als  die  vorgenannten,  bemalt  sind.  Sie 
.sind  verhältnifsmäfeig  selten;  ich  habe  einige  zwanzig  allmählich  zusammen- 
jjelesen.  Die  Oberfläche  des  Gefäfses  i.st  weifs  grundirt,  und  darauf  sind 
wiederum  Kränze,  Guirlandengeliänge,  Zweige,  Palmetten,  »Eierstäbe», 
dann  auch  Vögel  mit  flüssigem  Pinsel  in  Gelb,  das  in  kräftigen  Druckern 
in  ein  sattes  Braun  sich  steigert ,  gemalt.  Es  zielt  auch  hier  über  das  reine 
PkUos.-küb^.Äbh.  1902.    1.  8 


18  Gonze: 

Fläclienbild  hinaus  auf  eine  modellirende ,  gesteigert  malerische  Wirkung  ab. 
Drei  Proben  sind  auf  Taf.  4  zusammengestellt,  die  eine  möglichst  getreu 
in  Farben.  Mir  war  diese  Art  zuerst  neu,  man  sagte  mir,  sie  komme  in 
Aegypten  vor,  in  Athen  spreche  man  von  ihr  als  »ptolemäisch«,  kundige 
Freunde  haben  mir  aber  versichert,  die  Art  sei  ihnen  bei  ihrem  Sammeln 
in  Aegypten  nicht  vorgekommen.  Eine  ganze  Reihe  derartiger  Gefäfse  sind 
im  Ottomanischen  Museum  in  Constantinopel  ausgestellt,  aus  Tschandarli 
(Pitane),  also  aus  näclister  Nähe  von  Pergamon.  Vereinzelt  sind  sie  auch  in 
Priene  zum  Vorschein  gekommen;  sie  werden  aber  auch  in  Athen  gefunden. 
Eine  in  Athen  gefundene  Scherbe  der  Art  hat  mir  Michaelis  aus  der 
Strafsburger  Universitätssammlung  mitgetheilt,  Loeschcke  sah  vor  Jahren 
im  Kunsthandel  einige  solche  Scherben  aus  Chalkis.  Einige  der  pergame- 
nischen  Scherben  haben  sich  zu  einer  hochhalsigen,  einhenkeligen  Flasche 
mit  breitem  Leibe  zusammensetzen  lassen.  Von  dergleichen  Flaschen  spricht 
auch  Watzinger,  a.  a.  O.  S.  86  u.  57,  mit  Verweisung  auf  Dragendorff 
(Bonner  Jahrb.  10 1,  S.  144,  Anm.  2),  der  für  diese  Vasengattung  auch  Süd- 
rufsland und  in  einem  vereinzelten  Falle  Italien  als  Fundorte  nennt.  Ein 
Exemplar  aus  Kertsch  befindet  sich  im  Bonner  akademischen  Kunstmuseum 
(luv.  460). 

Fanden  wir  in  der  Malerei  der  pergamenischen  Vasen  bereits  eine  leise 
Tendenz  zur  Reliefwirkung,  so  zeigt  die  überwiegende  Masse  dieser  Funde 
das,  wa,s  z.B.  Dragendorff  (Rhein.  Jahrb.  1895,  S.  7)  als  eine  derThat- 
sachen  der  hellenistischen  Keramik  bezeichnet,  das  Zurücktreten  der  Malerei 
gegenüber  einer  die  toreutische  Metallarbeit  imitirenden  Reliefdecoration. 
Schon  in  der  erwähnten  Verbindung  der  Ritztechnik  mit  pastoser  Malerei 
kann  man  ebenfalls  eine  Analogie  zur  Metalltechnik  finden;  man  vergleiche 
z.  B.  im  Ilildesheimer  Silberfunde  die  Epheubecher  (Pernice  und  Winter, 
Taf.  XVIII),  femer  den  Kantharos  (Taf.  XXXV)  und  den  Guirlandenbecher 
(Taf.  X),  welche  auch  Motive,  anklingend  an  die  der  pergamenischen  Vasen- 
malerei, aufweisen.  Geradezu  Nachahmimg  getriebener  Metallarbeit  ist  es 
aber,  was  in  der  Menge  mit  Relief  verzierter  Scherben  aus  Pergamon  dominirt. 
Die  stolze  Zeit  der  griechischen  Vasenmalerei,  als  die  Verfertiger  einst  ihre 
Erfindungen  anspruchsvoll  mit  ihren  Künstlernamen  bezeichneten,  war  ja 
schon  längst  vorüber.  Nun  bescheidet  sich  die  Keramik  im  Gefolge  der 
Metalltechnik,  dieser  Königin  des  Kunsthandwerks  an  den  Diadochenhöfen, 
einherzuziehen,    wobei   sie   aber   einen  Reich thum  neuer  Schönheitsfonnen 


Die  Kleinfunde  ans  Pergamon. 


19 


auszustreuen    weifs.      Ich    begegne    mich    hier,    auch    im   Ausdrucke,    mit 
Watzinger   (Athen.  Mitth.  des  Inst.  1901,  S.  87). 

Wir  unterscheiden  an  den  mit  Relief  verzierten  ThongefSTsscherben 
aus  Pergamon  zweierlei  Verfahren  der  Herstellung,  abermals,  wie  sie  in 
der  Metalltechnik  üblich  waren. 

Einmal  werden  die  zum  Schmucke  der  Gefäfse  bestimmten  Reliefbilder 
tui*  sich   geformt,   mit  flüchtigem  Verfahren   von   einem  Reste   der  Thon- 

masse  um  ihre  Umrisse  herum  durch 
Abschneiden  befreit  und  dann  auf 
das  Gefäfs  gesetzt. 

Besonders  beliebt  bei  dieser 
Weise  der  Herstellung  ist  wiederum 
ein  Ornament  aus  Eplieu  (s.  unsere 
Textabbildung  S.  21).  In  einem  be- 
stimmten, auch  bei  Eichen-,  Oliven- 
oder Lorbeer-Reihenornamenten  con- 
ventionell  werdenden  Schema  sind 
jedesmal  drei  Blätter,  zwischen  denen 
jederseits  eine  Fruchttraube  hervor- 
ragt, zusammengefafst  und  die  Bün- 
del so  aneinandergereiht. 

Sogar  als  häufigstes  tritt  aber 
gerade  bei  diesem  technischen  Ver- 
fahren das  Figurenbild  auf.  Weib- 
liche Figuren  verschiedener  Art,  die  mit  fliegendem  Gewände  und  zurück- 
geworfenem Kopfe  ekstatisch  tanzende  Mänade,  eine  Leierspielerin  mit 
nacktem  Oberleibe,  eine  ebenso  nur  mit  dem  Mantel  Bekleidete,  die  auf 
einem  Pfeiler  vor  sich  eine  Maske  hält,  ein  Schauspieler  in  lebhafter  Be- 
wegung, eine  als  Henkelansatz  angebrachte  Satyrmaske  —  der  Kreis  des 
Dionysos  und  seines  Theaters  spielt  in  Pergamon  eine  HaujjtroUe.  Besonders 
häufig  aber  sind  so  ausgeführt  Bilder  obscöner  Art,  Liebespaare  in  abenteuer- 
lich variirten  Symplegmen  auf  teppichbehängten  Klinen.  In  Abbildung  gebe 
ich  vorstehend  nur  ein  ganz  unbedeutendes  Stück  mit  einer  Lyraspielerin, 
um  diese  Technik  der  gesondert  in  Formen  gedrückten,  ausgeschnittenen 
und  dann  auf  das  Gefäfs  aufgesetzten  Figuren  zu  zeigen,  so  weit  eine 
Abbildung  es  zu  zeigen  vermag.     Es  haben  sich  in  Pergamon  auch  Formen 


zur  Herstellung  solcher  Aufeetzbilder  gefunden,   so  die  der  Frau  mit  der 
Masite  auf  dem  Pfeiler,  des  Schauspielers  und  erotischer  Symplegmata. 

Die  zwette  Art  der  technischen  Herstellimg  mit  Relief  verzierter  Thon- 
geföfse  in  Pergamon,  wie  sonst  weit  verbreitet  in  dieser  Periode,  ist  die 
des  Ausdrückens  des  ganzen  Geföfses  aus  einer  Gesammtform.  Es  sind 
henkeUose  Becher,  bei  denen  dieses  Verfahren  besonders  anwendbar  war 
und  deren  Scherben  in  Pergamon  ganz  auffallend  zahl- 
reich vorkommea,  die  mit  bequem  eingebürgertem, 
jetzt  bedeutungslos  zu  nehmendem  Namen  sogenannten 
»Megarischen  Becher« ,  Ober  deren  antike  Benennung 
Robert  gehandelt  hat  im  Berliner  Winckelmanns- 
Programm  1890,  S.  3  f.,  dann  Dragendorff  in  de» 
Rhein.  Jahrb.  1895,  S.  i2flF..  Wie  sich  Form  und  Orna- 
mentik dieser  Geffifse  in  den  MetallgefiUsen  wieder- 
holen, haben  Pernice  und  Winter  bei  der  Herausgabe 
des  HUdesheimer  Silberfundes  (S.  29  f.  zu  Taf.  VI.  VII) 
bemerkt. 

Die  Aufeenflächen  dieser  Becher  sind  über  imd  über 
-.iiiS^*.  gefüllt   in   reichem   Formenspiele,    das   seine   Elemente 
I'  kaleidoskopisch   bald  so,    bald  so  hinwirft,   immer  sie 

aber  in  tektonisch  motivirter  Anordnung  vertheUt.  Auf 
Vorführung  in  vielen  Abbildungen  muTs  hier  verzichtet 
werden  und  kann  es  um  so  mehr,  da  Watzinger, 
a.  a.  0.  S.  58  ff.  den  Formenvorrath  classiflcirt  und  illu- 
strirt  hat,  der  ja  auch  sonst  bekannt  genug  ist :  die  Flecht- 
bänder, der  »Eierstab«,  dann  die  Fülle  der  Pöanzen- 
motive,  Akanthos,  Epheu,  Palmzweige,  Palmetten, 
Lorbeer  und  schuppige  Blattdecken,  KrSnze  (wovon 
ein  Beispiel  vorstehend),  Alles  unter  den  pergamenischcn  Scherben  über- 
reichlich vertreten.  Dann  Thierfiguren,  meist  reihenweise  laufend,  Hasen, 
Hunde,  Löwen.  Von  menschlichen  Figuren  erscheinen  im  pergamenisehen 
Vorrathe  Niken  und  tanzende,  fliegende  Eroten  {ein  Beispiel  mit  Thieren, 
einem  Drachen  in  der  oberen  Reihe,  vorstehend).  Das  mythische  Element 
fehlt  auf  den  Bechern  in  Pergamon  bisher  so  gut  wie  ganz.  Nur  ein  einziges 
Beispiel  hat  Hr.  Zahn  erkannt,  Iphigenia,  ruhig  dastehend,  nach  der  der 
Opferpriester  greift;  der  Priester  hat  nur  den  Unterkörper  mit  dem  Gewände 


'/. 


jyie  Kleiafunde  aus  Peri/amon.  21 

umschflrzt  und  hält  das  Opfermesser  in  der  linken  Hand.  Aber  als  ob  auf 
die  Bedeutung  gar  kein  Werth  mehr  gelegt  wäre,  ist  die  kleine  Gruppe  auf 
der  Scherbe  wie  gleichwerthig  neben  einem  laufenilen  Löwen  gestellt  (Ab- 
bildung vorstehend). 

Endlich  sind  noch  unt*'r  den  pergamenischen  Thongeftfsresten  wieder- 
holt vorkommende  Formen  der  Henkel  zu  erwähnen,  die  Knotenform ,  über 
welche  jüngst  Wolters  im   30.  Würzburger  Programme  1901,  S.  5 — 9,  ge- 
handelt hat,  und  die  «StützhenkeU,  wie  ich  sie  bei 
Schreiber  mehrfach  genannt  finde.      Die  letztere 
F<»rm,     schon    der    altgrlechisehen    Vasenfabrication 
geläufig,   entsprieht  der  natürlichen  Lage  der  Hand 
heim  Anfassen,    iür   den  Zeigefinger  das  Kund,   iiir 
den  aufdrückenden  Daumen  die  darauf  liegende  Platte. 
Zu  der   in    Pergamon,    wie  nebenstehend   an    einem 
'*  Beispiele  gegeben  ist,  geläufigsten  Grestalt  ausgebildet 

erscheint  dieser  Henkel  z.  B.  an  Hildesheimer  Silbergefilfsen ,  an  der  Athene- 
schale,  dem  Guirlandenbecher  {Pernice  und  Winter,  Taf.  I.  X).  An 
mehreren  Exemplaren  der  vereinzelt  erhaltenen  Griffplatte  ist  deren  Feld 
obenauf   mit    zierlichen    Abzeichen    in    Relief   versehen,    einem    Thyrsos, 

einer  Keule ,  einem  von  einer 
Schlange  umwundejien  Stabe,  also 
den  Attributen  dreier  in  Perga- 
mon angesehener  Grötter  oder 
Heroen.  Einmal  ist  ein  mit  an- 
scheinend auf  den  Rücken  ge- 
bundenen Händen  stehender  Eros, 
eine  ja  aus  statiiarischer  Behand- 


v,  '/. 


lung   uns   bekannte    Darstellung, 


auf  der  Henkelplatte  angebracht.      Dieses    Exemplar  und   eines   mit  dem 
Äsklepiosstabe  sind  vorstehend  abgebildet. 

loh  schliefse  den  Überblick  über  die  Zierformen  weit  der  pergame- 
nischen Kleinkunst  in  der  getrosten  Erwartung,  diifs  darin  manches  Ein- 
zelne und  ein  Gesammtcharakter  zu  finden  sind,  welche  das  Nachspüren 
nach  Einflüssen  der  Kunst  Alexandriens  in  gewisse  Schranken  verweisen. 
Dafs  eine  in  Malerei  und  Reliefverzierung  der  der  i>ergamenischen  Fund- 
stOcke   ganz   gleichartige  Keramik    von  Watzinger  aus  attischen  Funden 


22  Conze: 

nachgewiesen  ist,  mahnt  zugleich  auf's  Neue,  in  hellenistischer  Zeit  nicht 
allzuviel  locale  Sonderweisen  des  Kunsthandwerks  zu  suchen.  Man  müfste 
sonst  Import  herüber  oder  hinüber  zwischen  Athen  und  Pergamon  an- 
nt^hmen.  Daus  ein  Fabrikort  wie  Pergamon  in  der  Königszeit  seine  AUtags- 
waare  von  aufsen  her  bezogen  hätte,  ist  besonders  unwahrscheinlich,  aber 
für  Athen  gilt  doch  wohl  das  Gleiche. 

Nach  den  Formen  haben  wir  noch  die  Farben  der  pergamenischen 
Keramik,*  wie  sie  sich  in  unseren  zahlreichen  Fundstücken  zeigen,  zu 
boMchten.  Es  handelt  sich  dabei  um  den  Übergang  von  einer  Jahrhunderte 
lang  doniinirenden  Geschmacksrichtung  und  technischen  Übung  in  eine  die 
folgenden  Jahrhunderte*  beherrschende,  um  den  Übergang  aus  der  Keramik 
mit  schwarzem  Firnis,  in  die  mit  rothem  Überzüge,  aus  der  gi'iechischen  in 
die  römische  Weise,  die  auch  hier  wieder  nicht  römischen,  sondern  lielle- 
nistischen  Ursprungs  ist.  Das  pergamenische  Material,  welches  Dragendorff 
leider  noch  nicht  benutzen  konnte,  bestätigt  einerseits  seine  in  den  Bcmner 
Jahrb.  1895,  S.  38  (22  des  Sonderabdrucks)  gegebene  Zurückfulirung  der 
roth  überzogenen  Vasen  auf  Griechenland,  spricht  zugleich  aber  gegen 
seine  Ansicht,  dafs  diese  Technik  erst  in  Italien  zur  Vollendung  gebracht 
sei.  Technisch  vollendetst  schöne  Waare  der  Art,  was  mit  Abbildung  nicht 
anschaulich  zu  machen  ist,  findet  sich  in  gröfserer  Zahl  in  Pergamon. 
Diese  später  als  in  die  Königszeit  zu  setzen,  liegt  kein  Grund  vor. 

Oben  wurden  unter  Beigabe  einer  Abbildung  auf  Taf.  3  die  Gefaß»- 
scherben  mit  glänzendst  schwarzem  Überzüge,  die  sich  in  einer  Anzahl 
von  Stücken  auf  dem  Stadtberge  von  Pergamon  gefunden  haben,  als  ver- 
muthlich  attischer  Import  um  das  Jahr  400  v.  Chr.  erwähnt.  Die  unzweifel- 
haft aus  der  Königszeit  stammende  überwiegend  grofse  Masse  von  Vasen- 
scherben zeigt  nun ,  dafs  diese  Technik  des  glänzend  reinschwarzen  Über- 
zuges damals  in  Pergamon  nicht  mehr  geübt  wurde,  dafs  sie,  in  Pergamon 
selbst  vielleicht  nie  geübt,  verloren  gegangen  w^ar.  Sowohl  die  bemalten, 
als  aucli  die  mit  Relief  verzierten  Scherben  erscheinen  durchweg  nur  mit 
einem  trübe  schwärzlichen,  ja  bräunliclien  Überzuge,  der  beim  Brennen 
vielfach  unregelmäfsig  in  Roth  übergeht  (ein  Beispiel  auf  Taf.  5 ,  oben). 
Daneben  zeigt  sich  das  Roth  auch  absichtlich  von  dem  schwärzlichen 
Tone  gesondert  gehalten  (ein  Beispiel  auf  Taf.  5,  unten),  dann  wieder  ganz 
allein  und,  wie  gesagt,  in  vielen  Fällen  in  technisch  vollendet  leuchtender 
Reinheit  zur  Herstellung  gebracht.     Die  dominirende  Farbenschönheit  der 


Die  Kleinfunde  aus  Pergamon,  23 

römischen  P]j)oche,  die  der  sogenannten  Sigillatn,  der  Arretiner  GefaTse, 
steht  fertig  vor  uns,  etwa  ein  Jahrhundert  vor  der  Hochentwickehmg  der 
Fabrication  in  Arretium,  wo  die  im  I^ande  alteinheimische  Thontechnik 
einen  fruchtbaren  Boden  filr  die  neue  Anregung  aus  dem  griechischen 
Osten  geboten  haben  wird. 

Wir  haben  in  Pergamon  einen  Ausschnitt  aus  der  Übergangsepoche 
der  griechischen  Keramik  vor  uns,  deren  Schiklerung  auch  Watzinger 
(Athen.  Mitth.  1901,  S.  85)  zu  dem  Satze  fuhrt:  »Die  Kntwickehmg  endigt 
schliefslich  in  der  Erfindung  der  rothen  Glasur  der  griechischen  Terra- 
sigillata-Gefalse,  die  an  Stelle  der  gefirnisten  Gefafse  treten«.  Es  ist  ver- 
ständlich, dafe  mit  dem  Ausdrucke  »gefirnist«  die  scliwarze  griechische 
Waare  gemeint  sein  mufs.  Der  Entstellung  der  neuen  keramischen  Kunst- 
form, die  von  den  Römern  bis  in  unsere  nordischen  Gebiete  getragen 
wurde,  ist  man  hier  jedesfalls  ganz  nahe  gekommen.  Bei  der  wieder- 
holten Betrachtung  der  pergamenischen  Fundstücke  konnte  ich  mich  des 
ICindrucks  nicht  ganz  erwehren,  daCs  man  hier  die  neue  Technik  aus  einem 
V(»rfalle  der  alten  augenfällig  hervorgehen  sehe,  dals  mit  dem  Verloren- 
gehen der  schönen  schwarzen  Glasur  im  Verfalle  d(T  Fabrication  dunkel- 
farbigen Gefafsüberzuges  dieser  gelegentlich  und  häufiger  als  auch  in 
früheren  Zeiten  in's  Rothe  überspielte,  man  an  dem  Roth  dann  mehr 
(Jefallen  fand,  als  an  dem  trüben  Schwarzbraun,  und  dieses  Gefallen  dann 
zur  reinen  Darstelhmg  ehies  neuen  dominirenden  Farbentons  fiir  die  Ke- 
ramik führte,  dafs,  wie  bei  vielen  Erfindungen,  ein  gewisser  Zufall  im 
Spiele  gewesen  sei.  Aber  das  Werden  ist  auch  hier  nicht  so  leicht  bis 
in  sein  Erstes  hinein  zu  erkennen.  Wie  Stücke  glänzend  schwarzer  Thon- 
waare,  die  wir  fiir  attisch  hielten  und  vr>r  die  Königszeit  setzten,  so 
haben  wir  unter  unseren  Fundstücken  auch  Stücke,  w(*lche  den  Eindruck 
davon  nicht  allzu  weit  abliegender  Verfertigimg  geben ,  in  ganz  derselben 
Art  mit  kleinen  Mustern  gestempelt  sind  und  statt  des  Schwarz  ein  reines 
Roth  als  Überzug  aufweisen  (Taf.  3),  so  dafs  diese  Art  der  Fabrication 
etwa  von  Attika  hcM*  schon  nach  Pergamon  gekommen  war,  als  in  den 
dortigen  Töpfereien  jene,  allerdings  auch  auf  dasselbe  Zi(*l  hinfiihrende 
geleg(*ntliche  Umwandlung  des  Schwarz  in  Roth  sich  abspielte. 

Jedesfalls  wird  es  der  Aufmerksamkeit  werth  sein,  wie  an  einem  bedeu- 
tenden  Kunst-  und  Fabricationsplatze  wie  Pergamon  die  Übergangserschei- 
nungen der  Keramik  in  der  Periode  um   200  v.  Chr.  auftreten. 


24  Conzb: 

Schliefslich  ma>^  noch  ein  Eiiizetfund  erwähnt  werden.     Am  Schlüsse 
der    Behandlung    einoi-    einentJiümlich    geformten    Art    von    Kohl«nbefkeii 
Kriechischer  Fahrication    um    rlio   erste  Hälfte   des  2.  Jahrhunderts  v.  Chr. 
(Jahrbuch    des  InstitutH  1890,    S.  141)   habe  ich  ;ils  auffaDende  Thatsache 
erwSlint,    dafs    die   Reste    solcher  Kohlenbecken,    die   um  jene  Zeit  weit 
um  das  Mittelmeer   v^'rbreitet  vorkommen,    in    keineiQ   einzigen  Exemplar 
in  Pergamon  geftinden  sind.     Inzwiselien  ist  mir  in  Pergamon  von  einem 
Jungen    ein    solches   Stück ,    das    er   irgendwo    dort    auigelesen   hatte,    ge- 
bracht, und  ich  Iiabe  es  den  Berliner  Museen  übergeben.    Es  ist  beistehend 
abgebildet,    und  man    mag  daraus 
wenigstens  einigermafsen  erkemien, 
daß*    es  bei  völliger  Gleichheit  im 
Ganzen  sich  auszeichnet  durch  eine 
künstlerisch      fein      durchgeföhrtc, 
höchst    lebendige    Behandlung    des 
nach     Furtwängler's     Deutung 

(Jalirbucli    des    ln.stituts    1891, 
S.  iioff.)    Kvklopenkopfes.       Der- 
gleichen   kommt    sonst    wenigstens 
bei    keinem    der    mir    vor    Augen 
gekommenen  Köpfe  dieser  Art  vor. 
Das  pergamenische  Exemplar  wird 
dort ,    als    einem    künstlerisch    um 
die   Zeit    besonders    hochstehenden 
Fabrikorte,  entstanden  sein.    Die  kleine  Denkmälerclasse  soll  übrigens  nicht 
erwähnt   sein,    ohne    eine  Verweisung   auf  Mau 's  Äusftlbrimgen  über  den 
vermuthlichen  Namen  dieser  Geräthe  in  den  Römischen  Mittheilungen  des 
lastituts  1895,  S.  38  ff.. 

Es  erübrigt  noch,  auf  eine  Gruppe  von  Thongef&fsscherben  hinzu- 
weisen, <feren  »m.sere  Ausgrabungen  in  Pergamon  eine  ansehnliche  Zahl 
geliefert  haben.  Es  sind  Bruchstücke  von  Schalen,  zumeist  Böden  von 
Schalen,  aus  dunkelröthlichem  Thon,  auf  der  Innenseite  kräftig  glasirt: 
so  weit  auch  aufsen  Glasur  zu  sehen  ist,  reicht  sie  nicht  bis  unter  den 
Fuls.  Von  den  Ornamenten  im  Schalenboden  gebe  ich  hier  nur  ein  Bei.spiel. 
an  dem  die  in  der  Abbildung  dunkle  Farbe  leuchtend  braun,  die  helle 
leuchtend   gelb    ist.      Die  Zeichnung   des   Ornaments   ist,    wie   hier,    auch 


Die  Kleinfunäe  aus  Pergamon.  25 

sonst  in  den  Thon  eingetieft  und  dunkler  als  der  Grund  gefärbt,  schwarz 
auf  gelbem  oder  grünem,  braun  auf  gelbem  Grunde,  zuweilen  auch  ohne 
besondere  Färbung  der  eingetieften  Zeichnungslinien.  Der  Grund  ist  oft 
ohne  alle  Rücksicht  auf  die  Zeichnung  des  Ornaments  scheckig  braun  auf 
gelb,  auch  einmal  grün  auf  gelb.  Selten  ist  das  Ornament  ohne  Ritz- 
zeichnuug  nur  mit  pastoser  Farbe  auf  den  Grund  aufgesetzt,  dann  hell 
auf  dunklem  Grunde.  Bei  diesen  Stücken  hat  die  Zeichnung  einen  etwas 
abweichenden  Charakter,  ist  freier  bewegt,  vielleicht  nur  in  Folge  der 
anderen  Technik. 

Dieselbe  Technik  und  Formengebung  kommt  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  gleich  bei  Byzantinern ,  Arabern ,  Persern  verbreitet  vor.  Für  die 
pergamenischen  Fundstücke  entsteht  so  die  Frage  nach  ihrer  Zuschreibung 

an  Byzantiner  oder  Araber  oder  andere  mohammeda- 
nische Besiedler  des  Stadtberges. 

Ich  habe  mehr  mit  der  Kunstiudustrie  dieser 
Völker  Vertraute,  als  ich  es  bin,  um  Rath  ge- 
fragt, habe  aber  keine  hinreichend  feststehende 
Kenntnifs  geftmden,  die  zur  Entscheidung  über 
das  pergamenische  Material  fahren  könnte.  Hm. 
Sarre  verdanke  ich  dabei  den  Hinweis  auf  einen 
'/a  anscheinend     sehr    mafsgebenden    Ausspruch    des 

Engländers  Henry  Wallis  in  seiner  Schrift:  The 
Oriental  influence  on  ItaUan  ceramic  art,  London  1900.  Dieser  Ausspruch 
macht  getrost,  erst  einmal  das  pergamenische  Scherbenmaterial  ffir  sich 
zu  benutzen,  mit  der  Zuversicht  sogar,  dafs  in  ihm  eher  ein  fester  Aus- 
gangspunkt auf  das  Urtheil  auch  auf  weiteren  Gebieten  hin  zu  finden  sein 
mag,  als  dafs  eine  bereits  in  gröfserem  Umfange  festgestellte  Kenntnifs  zu 
seinem  Verstandnisse  fiihren  könnte. 

Wallis  sagt  a.  a.  0.  S.  XIII  von  seinen  kurzen  Ausfuhrungen  über  die 
Geschichte  der  orientalischen  Keramik,  sie  seien  nicht  als  endgültig  aus- 
gemacht gemeint.  »  The  time  has  not  yet  arrioedfor  unqualified  Statement  respectmg 
either  the  date  or  the  derwation  of  the  class  of  objects  here  deaU  with.  It  is  only 
after  systematic  excavations  on  the  sites  and  in  the  environs  of  Eastem  ciHes  which 
were  once  centres  offlourishing  artistic  industries  that  sufßcient  evidence  will  have 
been  coüected  to  permit  assertion  Uke  that  which  can  he  made  respecting  ^  later  arts. 
The  searchj  howeverj  is  only  now  in  üs  beginning. « 

Biila8.'hi/tior.Äbh.l902.    I.  4 


26  C  O  N  Z  E  : 

Die  Ausgrabung  in  Pergamon  mit  ihren  Funden  der  in  Frage  stehenden 
Art  ist  offenbar  ein  solcher  Punkt,  nach  dem  Wallis  zur  Belehrung  aus- 
schaut.  Hier  greifen  die  historische  Überlieferung,  die  Baureste  und  die 
Einzelfunde  in  einer  Weise  in  einander,  dafe  Licht  nach  allen  Seiten  hin 
entsteht. 

Die  historische  Überlieferung  hat  auf  unsere  Bitte  Hr.  Geiz  er  auf's 
Neue  bearbeitet.  Er  hat  mit  seiner  Kenntnifs  der  mittelalterlichen  Periode 
eine  Studie  eigens  über  Pergamon  in  byzantinisch  -  osmanischer  Zeit  zur 
Herausgabe  in  den  »Alterthümern  von  Pergamon«  geliefert  und  gestattet, 
dafs  ich  einige  hier  in  Betracht  kommende  Hauptdaten  seiner  Arbeit 
entnehme.  Wir  können  danach  mit  verstärkter  Zuversicht  sagen,  dafs 
Pergamon  mit  einer  gewaltsamen,  aber  rasch  vorübergehenden  ünter- 
brechimg  bis  in  das  1 4.  Jahrhundert  christlich,  byzantinisch  geblieben  ist. 
Die  Unterbrechung  fällt  in  das  Jahr  7 1 5  n.  Chr.,  als  die  Araber  unter 
Maslama  nach  einer  auf  das  AUeräufserste  verzweifelten  Gegenwehr  die 
Stadt  nahmen.  Es  hat  am  meisten  Wahrscheinlichkeit,  dafs  damals  die 
von  uns  kurz  so  genannte  byzantinische  Mauer,  der  Grenze  des  oberen 
Marktplatzes  folgend  und  dann  weiter  bis  an  den  Ostabhang  des  Berges 
verlaufend,  entstand,  zu  deren  Errichtung  man  in  die  noch  erheblich  auf- 
recht stehenden  Bauten  der  pergamenischen  Glanzzeit,  den  grofsen  Altar 
besonders,  verwüstend  und  für  unsere  Kenntnifs  so  vieles  rettend,  hinein- 
griff. Aber  schon  nach  Jahresfrist  stellte  Leo  111. ,  der  Isaurier  (716 — 741) 
sein  Regiment  in  Pergamon  wieder  her,  und  unter  den  Komnenen  wurde 
Pergamon  wieder  der  Mittelpunkt  eines  bevölkerten  und  betriebsamen 
Districts,  auch  Metropolis  in  der  Kirchenordnung  unter  Isaak  Angelos 
(11 85  — 1195).  Dieser  neuen  Blüthezeit  werden  die  wieder  weit  über  die 
eben  erwähnte  »byzantinische«  Mauer  hinausgerückten  und  aufserdem  in 
engerem  Ringe  die  Hochburg  einfassenden,  hohen  Ziegelmauern  ange- 
hören, von  denen  nach  den  Einzelheiten  ihrer  Construction  es  nie  zwei- 
felhaft sein  konnte,  dafs  sie  später  als  jene  »byzantinisclie«  Mauer  ent- 
standen seien.  Erst  gegen  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts  fangen  die 
Osmanen  an,  auch  im  pergamenischen  Gebiete  Fufe  zu  fassen;  Theil- 
fursten  setzen  sich  fest,  deren  Herrschaften  Urchan  (1326  — 1359)  ein  Ende 
macht.  Er  nimmt  Pergamon.  Sein  Sohn  Murad  Chan  baut,  wie  die  an 
ihr  erhaltene  Inschrift,  bezeugt,  die  heute  sogenannte  Köjunköprü  unweit 
der    Stadt.     Dessen    Sohn   Bajasid    Chan    {1389 — 1402)    fiihrt,    wiederum 


Die  Kleinfunde  aus  Pergamon.  27 

nach  Inschriftzeugnisse,   den  gewaltigen  Bau  der  noch  Hufi*echt  stehenden 
Ulu-Tsami  auf. 

Wie  schon  die  Lsige  dieser  Moschee  am  Fufee  des  Stadtberges  zeigt 
und  worauf  alle  anderen  Spuren  hinweisen,  setzten  sich  die  Osmanen  in 
der  römischen  Unterstadt,  auf  deren  Ruinen,  fest,  ohne  je  den  Stadtberg 
zu  besiedeln.  Ein  merkwürdiger  Aberglaube  hinderte  noch  jüngst,  wie 
man  in  Pergamon  behauptete,  den  jeweiligen  Kaimakam,  den  Stadtberg, 
das  Kaleh,  zu  betreten;  er  würde  sonst  sein  Amt  verlieren. 

Aus  diesem  historisch  beglaubigten  Verlaufe  der  Stadtgeschichte  von 
Pergamon ,  mit  dem  die  Baudenkmäler  übereinstimmen ,  ergiebt  sich ,  dafs 
die  einheitliche  Menge  von  Gefafssch erben  nachchristlicher  Zeit,  welche 
auf  dem  Stadtberge  gefunden  sind,  nur  byzantinisch  sein  kann.  Einge- 
sprengte Einzelstücke  müssen  dabei  aufser  Betracht  bleiben ,  da  Vereinzeltes 

auf  verschiedene  Weise  ja  zu  allen  Zeiten  hinaufkommen 
konnte. 

Für  den  byzantinischen  Ursprung  der  Schalenscherben 
kommt  im  Einzelnen  auch  noch  in  Anschlag  das  beistehend 
abgebildete,  auf  der  Innenseite  eines  Gefä&bodens  anstatt 
anderen  Ornaments  vor  der  Glasur  und  dem  Brennen  in 
den  Thon  eingeschriebene  Monogramm,  aufserdem  ein  auf 
«/j  der  Unterseite  eines  anderen  Gefafsbodens  eingeritztes  Ä, 

auf  noch  einem  anderen  ein  ♦. 
Wie  weit  diese  Fundstücke  vor  oder  nach  der  Maslama -Eroberung 
715  n.Chr.  fallen,  läfst  sich  anscheinend  noch  nicht  durchweg  erkennen. 
Nach  der  Stadtgeschichte  können  sie  und  werden  sie  wohl  hauptsächlich 
in  die  Spätzeit  gehören,  als  der  Stadtberg  mit  Wiederherstellung  und  Ver- 
stärkung des  spätrömischen  Mauerringes  wieder  stark  besiedelt  gewesen 
sein  mufs.  Weder  die  Araber  mit  ihrem  kurzen  zerstörenden  Einbrüche, 
noch  die  Herren  des  Platzes  seit  dem  14.  Jahrhundert,  die  in  der  Niederung 
wohnten,  können  so  zahlreiche  Reste  von  Haushaltungsbetrieb  oben  zurück- 
gelassen haben.  Auch  von  der  Bewohnung  des  Stadtberges  in  byzantinischer 
Zeit  rühren  die  christlichen  Kirchenruinen  auf  der  Hochburg  (Alterthümer 
von  Pergamon  II,  S.88.  IV,  S.74)  und  von  Einzelfunden  namentlich  mehrere 
bronzene  Crucifixe  mit  dem  eingravirten  Bilde  der  Panagia  her. 

Werfen  wir  zum  Schlüsse  noch  ein  Mal  einen  Rückblick  auf  die  ge- 
sammte  Masse    der  Kleinfunde  vom   Stadtberge,    so    sehen   wir   der  Zahl 


28  C  o  N  z  E :    Die  Kiemfunde  aus  Pergamon. 

nach  überwiegen  zwei  grofse  Gruppen,  Stücke  der  hellenistischen  und  der 
byzantinischen  Zeit,  entsprechend  der  nur  in  diesen  beiden  Perioden  vor- 
wiegend starken  Besiedelung  des  Stadtberges.  Von  der  ältesten  Ansiedelung 
nur  auf  der  höchsten  Höhe  zeugen  geringe  Reste;  in  römischer  wie  in 
ottomanischer  Zeit  lag  der  Schwerpunkt  der  Bewohnung,  in  römischer  vor- 
wiegend, in  ottomanischer  gänzlich,  in  der  Ebene. 


K.  Rrmifi.  Akad.  d,  WUsemeh. 


ZocÄa 


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ZocAy- 


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FhäL-litL  Ablt,  1902. 


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Conze:  Kleinfkmde  aoB  Pergamon. 


Taf.  1. 


K.  Prttifs.  Akad.  d.Wusfnich.  Fhil.-hül.  Abk.  1902. 


Gonze:  Kleinftmde  ans  Fergamon. 


K.  Pteitf».  Akad.  d.  WimwcA.  iM.  •  hitt.  AbK  1902. 


Conze:  Kleliiftinde  ans  Veegasoxm. 


K.  Preu/ii.  AAad.  d.  Wuamach.  FhU.  -  hat.  Abk.  1902. 


Gonze:  Eleinfonde  ans  Fergamon. 


K.  Bwt/i.  Akad.  d.  Wissrnteh. 


nU.-hitt.  Abh.  1902. 


Gonze:  Elelnfkmde  ans  Pergamon. 


ANHANG  ZU  DEN 


ABHANDLUNGEN 


DER 


KÖNIGLICH  PREUSSISOHEN 


AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN 


ABHANDLUNGEN  NICHT  ZUR  AKADEMIE  GEHÖRIGER  GELEHRTER. 


AUS  DEM  JAHRE 

1902. 


MIT  15  TAFELN. 


BERLIN  1902. 

VKRLAG    [)KR   Kf^NIGLlCHEN   AKADEMIE   DER    WISSENSCHAFTEN. 


OKDRUCKT  IN  DKR  REICHSDRUCKRRKl. 


IN  COMMISSION   BEI  GEORG  REIMER. 


Inhalt. 


Physikalische  Abhandlungen. 

C.  Runge   und   F.  Paschen:    Über  die  Strahlung  des   Quecksilbers 

im  magnetischen  Felde.     (Mit  6  Tafeln) Abb.  I.      S.  1—18. 

M.  Samt  ER   und   R.  Heyhons:     Die  V^ariationen   bei  Artemia  salina 

Leach.  und  ihre  Abhängigkeit  von  äufseren  Einflüssen  ....  Abb.  II.    8.  1— G2. 

W.  Krause:    Ossa  Leibnitii.     (Mit  1  Tafel) Abb.  III.  S.  I-IO. 

H.  ViRCHOw:    Über  Tenon^schen  Raum  und  Tenon'sche  Kapsei.     (Mit 

2  Tafeln) Abb.  IV.  S.  1-48. 

N.  Gaidukov:    Über  den   Einflufs    farbigen   Lichts   auf  die   Färbung 

lebender  Oscillarien.     (Mit  4  Tafeln) Abb.  V.    8.  1-36. 

Philosophische  und  historische  Abhandlungen. 

H.  Schäfer:    Ein  Bruchstück  altägyptischer  Annalen.     (Mit  2  Tafeln)  Abb.  I.     S.  1  — 41. 

W.  Stieda:    Über  die  Quellen  der  Uandelsstatistik  im  Mittelalter.     .  Abb.  II.    S.  1— 58. 


PHYSIKALISCHE  ABHANDLUNGEN. 


Über  die  Strahlung  des  Quecksilbers 
im  magnetischen  Felde. 


Von 


C.  RUNGE  und  F.  PASCHEN. 


Fhjfs.  AbL  nichi  «ur  Alead.  gehör.  Gelehrter.    1902.    I. 


Vorgelegt  in  der  Gesammtsitzung  am  6.  Februar  1902 
[Sitzungsberichte  St.  VII  S.  89]. 

Zum  Druck  eingereicht  am  gleichen  Tage,  ausgegeben  am  9.  April  1902. 


In  der  vorliegenden  Arbeit  haben  wir  uns  vorgesetzt,  an  den  Linien  des 
Queeksilberspectrums  den  Zusammenhang  zu  untersuchen,  der  zwischen  der 
von  Zeeman  entdeckten  Einwirkung  des  magnetischen  Feldes  auf  die 
Lichtschwingungen  und  der  Vertheilung  der  Linien  in  Serien*  besteht. 
Dieser  Zusammenhang  ist  schon  von  Th.  Preston  vor  einiger  Zeit  ausge- 
sprochen worden.*  Allein  es  ist  nicht  bekannt  geworden ,  in  welchem  Um- 
fang und  mit  welcher  Genauigkeit  er  ihn  nachgewiesen  hat.  In  seinen  Ver- 
öffentlichungen spricht  er  nur  von  den  Serien  im  Spectrum  des  Magnesiimi, 
Cadmium  und  Zink,  und  auch  in  diesen  Spectren  hat  er  nur  den  Typus 
der  Zerlegung  der  zweiten  Nebenserie  angegeben.  Die  Untersuchung  des 
Queeksilberspectrums  von  A.  Michelson^  bezieht  sich  nur  auf  den  sicht- 
baren Theil,  wo  keine  Wiederholungen  von  Serienlinien  vorkommen,  und 
die  Arbeit  von  Reese*,  der  auch  einige  Quecksilberlinien  untersucht  hat, 
streift  kaum  die  hier  behandelten  Fragen.  Nur  Kent*  geht  auf  die  Frage 
ein.  Seine  Resultate  sind  indessen  nicht  mit  unseren  Beobachtungen  ver- 
einbar. 

Zur  Erzeugung  des  Spectrums  haben  wir  ein  grofses  Rowland'sches 
Concavgitter  von  6?  5  Krümmungsradius  in  fester  Aufstellung  verwendet. 
Ein  Eisen gerüst  aus  starken  U- Trägern  (Fig.  i)  ruht  bei  A^B^C  auf  drei 
Betonpfeilern.  Der  Halbkreis  AB  von  6? 5  Durchmesser  bildet  einen  etwa 
30*"°  breiten  horizontalen  Tisch,   auf  dem  Spalt   und  Camera  beliebig  auf- 


*  Über  die  Serien   vergleiche   den   Bericht  von   Rydberg,   Rapp.  pres.  au  Congres 
Internat,  de  Physique,  Tome,  II,  p.  200. 

'    Th.  Preston,  Nature  Vol.  59,  p.  248.    1899. 

*  A.  Michelson,  Astroph.  J.  VII,  S.  136.    1898. 

*  H.M.Reese,  Astroph.  J.  XII ,  S.  120 — 135.    1900. 
'    N.  A.  Kent,  Astroph.  J.  XIII,  S.  289 — 319.    1901. 

1* 


4  C.Runge  und  F.  Paschen: 

gestellt  werden  können.  Das  Gitter  befindet  sich  bei  C.  Wir  hatten  den 
Spalt  an  dem  Ende  des  Halbkreises  bei  A  aufgestellt.  Zwei  hölzerne 
Cameras  von  je  etwa  2™  Breite  dienten  zur  Aufnahme  des  Spectrums. 
Setzte  man  sie  neben  einander,  so  konnte  man  eine  4°  lange  ununter- 
brochene Reihenfolge  von  photographischen  Platten  setzen,  so  dafs  eine 
Aufnahme  gleich  das  ganze  Spectrum  in  mehreren  Ordnungen  lieferte.  Bei 
der  Justirung  des  Gitters  fanden  wir  übrigens ,  dafs  das  Spectrum  durchaus 
nicht  auf  dem  »Rowland' sehen  Kreise«  lag,  der  durch  den  Spalt,  das 
Gitter  und  den  Krümmungsmittelpunkt  läuft.  Die  Abweichungen  betrugen 
bis  zu  5*"°^.  Sie  erklären  sich  nach  Cornu  bekanntlich  dadurch,  dafs  die 
Furchenabstände  von  einer  Seite  des  Gitters  zur  anderen  wachsen.^    Es  ist 

pi^  j  oftmals  wünsch enswerth ,  bei  derselben  Auf- 

CC\^  ^\  nähme  eine  Linie  gleichzeitig  in  mehreren 

Ordnungen  zu  photographiren ,  um  sich  von 
der  Realität  schwacher  Componenten  zu 
überzeugen.  Denn  es  können  manchmal 
durch  Mängel  des  Spaltes  oder  ungenaue 
Einstellung  der  Camera  falsche  Nebenlinien 
entstehen.  Reelle  Componenten  müssen  in 
den  verschiedenen  Ordnungen  in  verschie- 
denen ihren  Wellenlängen  entsprechenden 
Abständen  erscheinen.  Wenn  sie  das  thun, 
so  wird  dadurch  ihre  Realität  sehr  wahr- 
scheinlich gemacht.  Die  feste  Aufstellung  des  Rowland'schen  Gitters  hat 
den  weitern  Vortheil,  dafs  die  Justirung  sich  nicht  ändert,  und  dafs  man 
von  Erschütterungen  des  Gebäudes  sehr  viel  unabhängiger  ist.  Femer  war 
es  fiir  uns  von  Wichtigkeit,  dafs  für  die  gleichzeitig  photographirten  Linien 
das  magnetische  Feld  dasselbe  ist.  Die  Feldstärke  verschiedener  Aufnah- 
men aber  kann  verglichen  werden,  sobald  nur  eine  Linie  beiden  Auf- 
nahmen gemein  ist.  Dafür  konnte  aber  bei  der  grofsen  Ausdehnung  des 
gleichzeitig  photographirten  Gebietes  leicht  gesorgt  werden.  Wir  haben 
davon  besonders  bei  der  Untersuchung  anderer  Elemente  ausgiebigen  Ge- 
brauch gemacht.  Die  Resultate  dieser  Untersuchung  beabsichtigen  wir  dem- 
nächst zu  veröffentlichen. 


Vergl.  II.  Kayser,  Handbuch  der  Spectralanalyse ,  Bd.  i,  8.441. 


Über  die  Strahlung  des  Quecksilbers  im  ^nagnetischen  Felde.  5 

Zur  Erzeugung  des  magnetischen  Feldes  haben  wir  einen  D  üb  ois' sehen 
Halbring -Magneten  von  Hartmann  &  Braun*  verwendet,  den  die  Berliner 
Akademie  der  Wissenschaften  uns  ziu'  Verfugung  zu  stellen  die  Güte  hatte. 

Der  wichtigste  Punkt  bei  der  Untersuchung  ist  wohl  die  Lichtquelle. 
Wir  haben  Geifsler'sche  Röhren  mit  Quecksilber -Elektroden  benutzt  in  der 
Form,  wie  sie  von  F.  Paschen^  angegeben  worden  ist.  Im  Laufe  der 
Untersuchung  fanden  wir  es  nöthig,  noch  einige  Änderungen  daran  an- 
zubringen. Das  aufs  Gitter  fallende  Licht  darf  nur  von  solchen  Theilen 
der  Lichtquelle  heiTühren,  die  sich  in  dem  stärksten  Theil  des  magneti- 
schen Feldes  befinden.    Um  diefs  zu  bewirken,  w^urde  der  Geifs  1er' sehen 

Ftg.  2.  Fig.  3. 


B 
A 


Röhre  die  folgende  Foim  gegeben  (Fig.  2).  Die  Capillare  durchsetzte  senk- 
recht den  stärksten  Theil  des  Feldes,  und  eine  Blende  AB  liefs  nur  Licht 
aus  diesem  Theil  auf  den  Spalt  gelangen.  Um  den  gleichen  Vortheil  auch 
für  ultraviolette  Strahlung  zu  haben,  wurde  an  die  (kapillare  in  der  Mitte 
ein  Rohr  angesetzt,  das  von  einem  Flufsspathfenster  verschlossen  war  (Fig.  3). 
Ein  Quarzfenster  darf  man  wegen  der  Rotationsdispersion  des  Quarzes  nicht 
nehmen,  wenn  man  auch  die  Polarisation  der  Componenten  feststellen  will. 
Man  müfste  denn  schon  zwei  gleich  dicke  Stücke  von  rechts  und  links 
dreliendem  Quarz  verwenden.  Zur  Untersuchung  der  Polarisation  setzten 
wir  einen  Kalkspath  vor  das  Fenster  der  Röhre.  Wenn  wir  nun  durch 
Quarzlinsen  ein  Bild  der  Capillaren  auf  dem  Spalt  entwarfen,  so  wurde  es 
durch  den  Kalkspath  in  zwei  Bilder  zerlegt,  die  senkrecht  auf  einander 
polarisirt  sind.    Von  diesen  zwei  Bildern  konnten  wir  nun  durch  eine  ge- 

*    U.  Dubois,  Ann.  d.  Phys.,  Bd.  i,  S.  199. 

'   F.  Paschen,  Phys.  Zeitschrift  i.  Jahrg.,  S.  478.    1900. 


fi  C.  Runge  und  F.  Paschen: 

ringe  Änderung  an  den  Fufsschrauben  des  Linsenstativs  entweder  das  eine 
oder  das  andere  Bild  auf  den  Spalt  bringen.  Bei  richtiger  Stellung  des 
Kalkspaths  bestand  das  eine  Bild  aus  Licht,  dessen  elektrische  Schwingun- 
gen in  der  Lichtquelle  parallel  den  Kraftlinien  vor  sich  gehen,  das  andere 
Bild  aus  Licht,  dessen  elektrische  Schwingungen  in  der  Lichtquelle  auf 
den  Kraftlinien  senkrecht  stehen.  Dafs  die  Ebene  der  Schwingungen  nach 
dem  Durchsetzen  des  Kalkspaths  durch  die  Quarzlinsen  gedreht  wird,  thut 
nichts  zur  Sache. 

Der  Zusammenhang  zwischen  dem  Zeeman-Effect  und  den  Serien 
zeigt  sich  darin,  dafs  alle  Linien  einer  Serie,  d.  h.  alle  Linien,  deren 
Schwingungszahlen  durch  dieselbe  Formel  dargestellt  werden,  wenn  man 
die  Ordnungszahl  die  Reihe  der  ganzen  Zahlen  durchlaufen  läfst,  durch 
das  magnetische  Feld  in  derselben  Weise  zerlegt  werden,  Linien  verschie- 
dener Serien  dagegen  in  verschiedener  Weise.  Wie  das  zu  verstehen  ist, 
geht  am  besten  aus  den  Messungen  hervor.  Unsere  Messungen  beziehen 
sich  alle  auf  die  gleiche  Feldstärke,  obgleich  nicht  alle  Aufnahmen  bei 
der  gleichen  Feldstärke  gemacht  sind.  Man  kann  sie  nämlich  auf  die 
gleiche  Feldstärke  reduciren.  Denn  es  zeigt  sich,  dafs  bei  verschiedenen 
Feldstärken  die  Abstände  der  Componenten  einer  Linie  einander  proportional 
bleiben,  so  dafs  die  Componenten  immer  dasselbe  Bild  zeigen  und  nur  der 
Mafsstab,  in  dem  das  Bild  gezeichnet  ist,  mit  der  Feldstärke  wächst. 
Eine  scheinbare  Ausnahme  erleidet  diese  Regel  bei  einigen  schwächeren 
Componenten ,  die  bei  den  kräftigsten  Linien  beobachtet  werden.  Es  kann 
indessen  kaum  zweifelhaft  sein,  dafs  diese  Componenten  nicht  zu  den  Linien 
selbst  gehören,  sondern  zu  Satelliten,  die  ohne  magnetisches  Feld  dicht 
neben  ihnen  liegen.  Könnte  man  die  Componenten  des  Satelliten  allein 
beobachten,  so  würde  sich  vermuthlich  ergeben,  dafs  auch  ihre  Abstände 
einander  proportional  bleiben,  wenn  die  Feldstärke  sich  ändert,  obgleich 
ihre  Abstände  von  den  Componenten  der  Hauptlinie  nicht  einander  pro- 
portional bleiben.  Um  indessen  diese  Frage  befriedigend  zu  erledigen, 
müfste  man  gröfsere  Dispersion  zur  Verfügung  haben  als  sie  das  Row- 
land'sche  Gitter  gewährt.  Denn  die  Componenten  der  Hauptlinie  ver- 
decken die  Componenten  des  Satelliten  gar  zu  leicht,  besonders  bei  schwäche- 
ren Feldstärken. 

Unsere  Beobachtungen  zeigten  ferner,  dafs  der  mit  wachsender  Feld- 
stärke  wachsende  Mafsstab   der  Zerlegung  für  alle  Linien  des  Spectrums 


Uher  die  Strahlung  des  Quecksilbers  im  magnetischen  Felde,  7 

immer  im  gleichen  Verhältnifs  wächst,  d.  h.  wenn  bei  einer  Steigerung 
der  Feldstärke  der  Mafsstab  der  Zerlegung  einer  Linie  im  Verhältnis  a :  b 
wächst,  so  wächst  der  Mafsstab  der  Zerlegung  jeder  anderen  Linie  in  dem- 
selben Verhältnifs,  Vi^ir  haben  diese  Thatsache  bei  den  Quecksilberlinien 
für  Feldstärken  von  etwa  1 2000  (c.g.s.)  bis  25000  (c.g.s.)  geprüft.  Diese 
Beobachtungen  widerstreiten  den  Angaben  von  N.  A.  Kent\  der,  ebenso 
wie  H.  M.  Reese,  von  den  drei  Zinklinien  4680,  4722,  481 1,  welche  die- 
selben Zerlegungen  zeigen  wie  die  Quecksilberlinien  4047,  4359,  5461, 
ein  anderes  Verhalten  behauptet.  Danach  soll  der  Mafsstab  der  Zerlegung 
von  5461,  wenn  die  Feldstärke  über  18000  (c.g.s.)  hinauswächst,  nicht 
so  stark,  zunehmen  wie  der  von  4047  und  4358.  Indessen  ist  gegen  die 
Angaben  von  Kent  und  Reese  einzuwenden,  dais  sie  den  Typus  der 
Quecksilberlinie  5461  gar  nicht  erhalten  haben.  Sie  sprechen  von  ihm 
als  von  einem  diffusen  Triplet,  während  er  in  W^irklichkeit,  wie  die  Taf.  I 
zeigt  und  wie  schon  Michelson  ihn  beschrieben  hat,  aus  neun  Compo- 
nenten  besteht,  von  denen  die  mittleren  drei  senkrecht  zu  den  äu&eren 
sechs  polarisirt  sind.  Kent  und  Reese  haben,  indem  sie  die  mittleren 
drei  Componenten  durch  einen  Nicol  zum  Verschwinden  brachten,  den  Ab- 
stand der  beiden  Gruppen  der  äu&eren  mit  einander  verschwimmenden 
Componenten  gemessen.  Ihren  Messungen  ist  daher  ein  erheblich  gerin- 
geres Gewicht  beizulegen  als  den  unsrigen.  Ob  der  Mal^stab  der  Zer- 
legung der  Feldstärke  proportional  wächst  oder  in  einer  anderen  Abhängig- 
keit von  der  Feldstärke  steht,  haben  wir  nicht  untersucht,  da  wir  keine 
Feldstärken  gemessen  haben.  Die  von  uns  angewendete  Reduction  aller 
Beobachtungen  auf  die  gleiche  Feldstärke  setzt  nicht  die  Proportionalität 
voraus,  sondern  gründet  sich  nur  darauf,  dafs  der  Mafsstab  der  Zerlegungen 
bei  verschiedenen  Linien  in  der  gleichen  Weise  von  der  Feldstärke  abhängt. 
Im  einzelnen  gestaltete  sich  die  Reduction  in  der  folgenden  Weise,  Auf 
fünf  der  besten  Aufnahmen  wurden  die  Wellenlängenunterschiede  der  neim 
Componenten  der  kräftigen  grünen  Linie  A  =  5460.97  gemessen,  die  von 
allen  Linien  des  Spectrums  am  weitesten  durch  das  magnetische  Feld  zer- 
legt wird.  Nach  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  wurden  nun  1 3  Un- 
bekannte bestinamt,  nämlich  die  4  Factoren,  mit  denen  die  Messungen  von 
vier  der  Aufnahmen  zu  multiplieiren  sind,  um  den  Mafsstab  auf  den  der 


N.  A.  Kent,  Astroph.  J.  XIII,  8.  294. 


8  C.Runge  und  F.  Paschen: 

fönften  zu  reduciren ,  und  die  9  Wellenlängencorrecturen ,  die  an  den  Messun- 
gen der  fünften  Aufnahme  anzubringen  sind.  Es  gelingt  sogleich,  die  Normal- 
gleichungen so  umzuformen,  dafs  man  es  nur  mit  vier  Gleich imgen  för  die 
vier  Factoren  zu  thun  hat.  Jede  der  9  Wellenlängencorrecturen  ergibt  sich 
dann  als  lineare  Function  der  vier  Factoren.  Mit  den  so  gewonnenen  vier 
Factoren  wurden  nun  auch  die  anderen  Linien  der  fünf  Aufiiahmen  auf 
einander  reducirt,  und  die  unten  aufgeführten  Zerlegungen  sind  die  Mittel 
aus  den  so  gefundenen  Zahlen.  Die  Feldstärken  der  fünf  Aufnahmen  sind 
nicht  sehr  stark  von  einander  verschieden.  Die  Mafsstäbe  der  Zerlegung 
weichen  im  äufsersten  Fall  23  Procent  von  einander  ab. 

Für  viele  Linien,  namentlich  schwächere,  wurden  aber  auch  noch  zahl- 
reiche andere  Aufnahmen  verwerthet.  Um  diese  auch  auf  dieselbe  Feld- 
stärke zu  reduciren,  wurden  die  Mittel  der  Zerlegungen  der  Linien  5461, 
4359?  4047,  wie  sie  sich  aus  den  fünf  besten  Aufnahmen  ergeben  hatten, 
als  richtig  angenommen  und  nun  fiir  jede  neue  Aufnahme  der  Reductions- 
factor  nach  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  bestimmt,  ohne  jedoch 
Gorrecturen  der  Wellenlängen  der  einzelnen  Componenten  als  Unbekannte 
einzufuhren.  Man  hat  es  dann  bei  jeder  Linie  aufser  mit  dem  gesuchten 
Reductionsfactor  mit  nur  einer  Unbekannten  zu  thun,  der  Parallelverschie- 
bung der  Componenten  der  neuen  Aufnahme.  Die  Parallelverschiebung  be- 
stimmt sich,  wie  man  nach  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  leicht  zeigt,  in 
der  Weise,  dafs  der  Schwerpunkt  der  Componenten  fiir  die  neue  Aufnahme 
mit  dem  Schwerpunkt  der  gegebenen  Componenten  übereinstimmen  mufs. 

Die  Feldstärke,  auf  die  alle  Messungen  reducirt  sind,  ist  von  uns  nicht 
direct,  sondern  nur  mit  Hülfe  der  Messungen  von  Michelson,  Reese,  Mar- 
chand luid  Blythwood  zu  24600  (c.  g.s.)  bestimmt  worden.  Wir  geben 
die  Rechnung  weiter  unten.  In  der  folgenden  Tabelle  sind  alle  Messungen 
zusammengestellt.  Die  Wellenlängen  der  Linien,  ohne  die  Einwirkimg  des 
magnetischen  Feldes,  sind  die  von  Kayser  und  Runge  gegebenen.  Natür- 
lich ist  die  relative  Genauigkeit  der  Componenten  erheblich  gröfser  als  die 
absolute,  die  hier  eine  untergeordnete  Bedeutung  hat.  Die  Bezeichnungen  . 
»parallel«  und  »senkrecht«  bedeuten,  dafs  die  elektrischen  Schwingungen 
parallel  oder  senkrecht  zu  den  Kraftlinien  sind.  Der  angegebene  mittlere 
Fehler  bezieht  sich  nur  auf  die  relative  Genauigkeit,  Die  Intensitäten  der 
Componenten  sind  geschätzt  in  einer  Scala,  in  der  die  gröfste  Intensität 
gleich  10,  die  kleinste  gleich  i  oder  <  i  gesetzt  ist.    Die  mit  AX  bezeichnete 


Über  die  Strahlung  des  Quecksilbers  im  7nagnetischen  Felde. 


Colonne  enthält  die  Wellenlängenunterschiede  der  Componenten  gegen  die 
unveränderte  Linie  in  Tausendsteln  einer  Angström 'sehen  Einheit.  Die 
mit  —  AA/X'  überschriebene  Colonne  gibt  die  Differenzen  der  Schwingungs- 
zahlen {'Ix  =  Zahl  der  auf  i*^  kommenden  Wellen,  wo  X  in  Centimetern 
gemessen  ist).  Die  Reihenfolge  der  Linien  ist  nach  den  Serien  und  nach 
wachsenden  Schwingungszahlen  angeordnet.  Die  Nebenserien  sind  eigent- 
lich sechs.  Aber  je  drei  von  ihnen,  die  in  der  Scala  der  Schwingungs- 
zahlen gezeichnet  einander  congruent  sind,  werden  auch  wohl  zusammen 
als  eine  Nebenserie  bezeichnet.  Bei  der  zweiten  Nebenserie  bestehen  alle 
drei  aus  einfachen  Linien,  bei  der  ersten  Nebenserie  dagegen  ist  jede  Linie 
von  Satelliten  begleitet.  Zuerst  sind  die  drei  Serien  der  zweiten  Neben- 
serie, dann  die  drei  Serien  der  ersten  Nebenserie  mit  den  Satelliten  auf- 
geföhrt  und  endlich  die  Linien,  die  nicht  zu  den  Serien  gehören. 


Ungestörte 
Wellen- 
länge 


Wellenltngen  im 

magnetischen 

Felde» 

parallfl  |  senkrecht 


Mittlerer 
Fehler 


Inten- 
sität 


AX 


-AXA' 


Bemerkungen 


Zweite   Nebenserie  I. 


1.605 

3 

+635 

-2.13 

1.454 

5 

+484 

—  1.63 

1.389 

4« 

-*-3>9 

—  1.07 

1.127 

3 

+157 

-0.53 

5460.97 

0.970 

0.0034 

4» 

0 

0 

0.807 

3 

-163 

-H>.55 

0.654 

4« 

-316 

-1-1.06 

0.483 

5 

-487 

+1.63 

0.334 

3 

-646 

+3.17 

1.939 

0.0034 

<  I 

-•-339 

-3.05 

1.876 

0.0034 

I 

+176 

-1.58 

I.8I6 

0.0034 

3 

•4-116 

—1.04 

1.763 

^  0.0034 

I 

+  63 

-0.56 

3341.70 

1.700 

3 

0 

0 

"639 

I 

-  61 

+0.55 

Nach  kleineren  Wellenlängen  nimmt  man 
noch  zwei,  nach  nrofseren  noch  eine 
senkrecht  zu  den  Kraftlinien  schwin- 
gende Componente  wahr,  die  vemiuth- 
lich  zu  Satelliten  der  Hauptlinie  ge- 
hören, da  ihre  Abstände  von  der 
Hauptlinie  sich  nicht  proportional  zu 
den  anderen  Abständen  mit  der  Feld- 
stärke ändern.  Auch  zwischen  den  auf- 
gefilhrten  bemerkt  man  noch  schwache 
Linien. 


^    Die  ersten  drei  Ziffern  der  Wellenlängen  sind  fortgelassen. 

*  Manchmal  waren  die  Componenten  0.654  und  1.289  stärker  als  die  Componenten 
0.483  und  1.454,  manchmal  diese  stärker  als  jene. 

'  Die  Intensität  der  mittelsten  Componente  ist  bei  Rohren  mit  Ansatz  schwächer  als 
die  der  benachbarten.  Die  mittelste  wird  in  den  Rohransatz  absorbirt.  Wir  haben  uns 
hiervon  auch  aufserhalb  des  magnetischen  Feldes  mit  dem  Echelonspectroskop  überzeugt. 
Wenn  man  durch  Erhitzen  des  Quecksilbers  den  Druck  im  Rohr  steigert,  so  sieht  man  in 
den  Röhren  mit  Ansatz  die  Umkehrung  der  Linien  5461  und  4359. 

Phys,  Äbh,  nicht  zur  Akad,  gehör.  Gelehrter.   1902.    I.  2 


10 


C.Runge  und  F.  Paschen: 


Ungestörte 
Wellen- 
länge 

Wellenlängen  im 

magnetischen 

Felde 

Mittlerer 
FeMer 

Inten* 
sität 

A\ 

-AX/X.* 

Bemerkungen 

parallel 

senkrecht 

1.584 

0.0024 

2 

-116 

-HI. 04 

1.524 

0.0024 

I 

-,76 

-I-I.58 

1.463 

0.0034 

<  I 

-238 

+2.I3 

2925-5« 

5.510 

5.604 
5.416 

0.006 
0.006 

I 
I 
I 

+  94 
-  94 

—  I.IO 
-HI. 10 

Die  Componenten   sind   getrennt   nur 
beobachtet,    wenn  die  parallel  den 
Kraftlinien  schwingenden  Componen- 
ten unterdrückt  wurden. 

Zweite   Nebenserie  II. 


4358.56 


2893.67 


2576.31 


8.668 
8.458 


3-713 
3.621 


6.31 


8.968 
8.867 


8,249 
8.150 


3-849 
3.808 


3.534 
3-496 

6.419 
6.200 


+408 

-2.15 

+307 

-1.62 

O.OOII 

+  108 
—  102 

-0.57 
+0.54 

-311 

+1.64 

-410 

+2.16 

0.0030 

2 

+179 

-2.14 

0.0030 

2 

+138 

—1.65 

0.0023 

I 

-»-  43 

—0.51 

0.0023 

t 

-  49 

-1-0.58 

0.0030 

2 

-136 

+1.62 

0.0030 

2 

-174 

•4-2.08 

O.Ol 

+109 

—1.64 

O.Ol 

—110 

-hl  .66 

Zwei  schwächere  senkrecht  zu  den 
Kraftlinien  schwingende  Componen- 
ten bei  4359.05  und  4358.07,  deren 
Abstände  von  der  Hauptlitiie  sich  mit 
der  Feldstärke  nicht  proportional  zu 
den  anderen  Abständen  ändern,  ge- 
hören vermuthiich  zu  Satelliten  der 
Uauptlinie.  Auch  schwächere  parallel 
den  Kraftlinien  bchwingende  Compo- 
nenten sind  zu  bemerken,  die  auch 
wohl  den  Satelliten  angehören. 


Die  Comi)onenten  sind  nur  dann  ge- 
trennt beobachtet,  wemi  die  parallel 
schwingenden  unterdrückt  waren. 


4046.78 


2752.91 


6.780 


2.910 


7.136 
6.423 


3.086 


2.753 


} 


Zweite  Nebenserie  IIL 


0.0022 


0.007 
0.0 10 
0.007 


7  I 
6 


I 

3 


■356 
o 

•357 


—2.17 

o 

4-2.18 


4-176 
o 

->57 


—2.32 

o 

-1-2.07 


Drei  schwächere,  senkrecht  zu  den 
Kraftlinien  schwingende  Componen- 
ten bei  7.223,  7.080,  6.365  gehören 
vermuthiich  nicht  zu  der  Hauptlinie 
sondern  zu  Satelliten,  da  ihre  Ab- 
stände von  der  Hauptlinie  sich  nicht 
proportional  den  anoeren  Abständen 
mit  der  Feldstärke  ändern.  Auch 
schwächere,  parallel  zu  den  Kraftlinien 
schwingende  Componenten  sind  zu 
bemerken,  die  auch  wohl  zu  den 
Satelliten  gehören. 


Über  die  Strahlung  des  Quecksilbers  im  magnetischen  Felde. 


11 


O" 


Ungestörte 

WeUen- 

länge 


WellenUngeii  im 

magnetischen 

Felde 

paimUd  I  Bcnkrecht 


Mittlerer 
Fehler 


Inten- 
sität 


AX 


-AX/X' 


Bemerkungen 


3663.46 
Satellit 


3663.05 
Satellit 


3023.64 
Satellit 


3021.68 
Hauptlinie 

2803.69 


3131.95 
Satellit 


3.  »98 
3.050 
2.903 


2.007 

1.950 
1.884 


3.582  I 

3.528 
3.398 

3332 


3.769  ; 
3.734  , 
3.546 
3500 

".705 
1.655 

3.69 


3.732 
3.672 
3.610 

3.542 


3.370 

3.318 
3.249 

3.«87 
3.428 
3.274 

3.128 

2.977' 


1.569 

3.776 
3.604 


2.102 
2.058 
2.007 

1.884 

1.843 
1.784 


Erste   Neben 


0.0019 


0.0024 

0.0024 

0.003 1 

0.0038 

0.0024 

0.009 

0.0031 

0.0024 

0.0024 


0.0  t 


0.004 
0.0 10 
0.010 
0.004 

0.014 
0.014 


I 

3 

2 

5 

2 

2 
2 

3 
5 
3 
4 
t 

2 

u 

2 
I 

4 
I 

3 
I 

3 

2 
2 
2 
2 

3 

3 

2 

3 
I 
I 


+272 
+212 

+150 
-4-122 
+  82 
4-  68 

-  62 

-  90 
-128 
-142 
—211 
-273 

-fr-378 
+224 

4-148 

+  78 
o 

-  73 

-U7 
—222 

-371 
4-129 
4-  94 

-  94 
—140 

4-112 

-fr-  25 

-  25 

—III 

4-  86 
~  86 


sene 

—2.06 

— 1.61 

-1.14 

-0.92 

—0.62 

—0.51 

40.47 
40.68 

40.97 

4-1,08 

4-1.60 

4-2.07 

—2.81 
—1.67 

— i.io 

—0.58 

o 

-♦0.54 

4-1.09 
4-1.65 
4-2.76 

-1.4 1 

—1.03 
4-1.03 

+I.53 
—1.22 
-0.27 
40.27 
4-1. 21 

—  I.IO 
-fr-I.IO 


I. 


}Die  durch  Klammern  zusammenge- 
fafsten  Linienpaare  liefen  in  eine 
Linie  zusammen,  wenn  beide  Arten 
von  Schwingungen  zugelassen  waren. 


! 


Die  beiden  Componenten  von  grofster 
Wellenlänge  werden  bei  dieser  Feld- 
stärke von  den  Componenten  der 
Linie  3663.46  verdeckt.    Sie  sind  bei 

feringer  Feldstärke  beobachtet  und 
ann  auf  die  grofsere  Feldstärke  re- 
ducirt  worden. 


>  Nicht  deutlich  getrennt. 


Nicht  deutlich  getrennt. 


Die  Componenten  sind  nur  dann  ge- 
trennt beobachtet,  wenn  die  parallel 
schwingenden   unterdrückt   wurden. 


Erste   Nebenserie  IL 


0.0037 

I 

4-152 

-1.55 

0.0030 

3 

-f-108 

—  I.IO 

0.0030 

4 

+  57 

-0.58 

0.0037 

<  I 

0 

0 

0.0030 

4 

-  66 

4-0.67 

0.0030 

3 

-107 

-fr- 1.09 

0.0053 

t 

-166 

-•-1.69 

Die  als  gleichzeitig  parallel  und  senk- 
recht zu  den  Krattlinien  schwingend 
aufgeführten  Componenten  scheinen 
nicht  genau  zu  coincidlren.  Die  paral- 
lel scnwingenden  haben  vermutlilich 
einen  etwas  grofsern,  die  senkrecht 
schwingenden  einen  etwas  kleinern 
Abstand  als  den  angegebenen. 


'    Diese  Coinponente  ist  sehr  schwach,  wesentlich  schwächer  als  3663.128  und  daher 
nur  mit  geringer  Genauigkeit  bestimmt. 


12 


C.  Runge  und  F.  Paschen: 


Ungestörte 
Wellen- 
länge 

Wellenl 

magn< 

F( 

parftllel 

ängen  im 

^tischen 

3lde 

senkrecht 

I.84I? 

I.84X? 
1.815 

1.764 

3131-66 

Satellit 

»•555 

I.716 
1.604 

1.502 

1.452? 

1.452? 

5.936? 

5936? 

5.897 
5.858 

5.819 

3J25.78 

5.780? 

5.780? 

Hauptlinie 

5.744  . 

5.705 
5.664 

5.627 

5.627 

• 

5.346 

2655.29 

529 

Satellit 

3-932 

4.234 
3970 

2653.86 
Satellit 

3.788 

3.906 
3.812 

3.754 
2.295 

2652.22 

2.220 

Hauptlinie 

2.145 

Mittlerer 
Fehler 


Inten- 
sität 


AX 


-AX/X» 


Bemerkungen 


2967.64 
Satellit 


2967.37 


2534.89 


7.740 

7.640 

7.541 

7.423 

7.423 

7.370 

7.318 

7.318 

4.920 

4.920 

4.89 

4.860 

4.860 

0.0026 

<  1 

0.0015 

3 

0.0018 

3 

0.0015 

3 

0.0015 

3 

0.0018 

3 

0.0015 

3 

0.0026 

<  X 

0.00 10 

I 

0.0007 

2 

0.0007 

3 

0.00 10 

I 

0.00 10 

1 

0.00 10 

1 

0.0007 

2 

0.0007 

3 

0.00x4 

I 

0.0043 

I 

I 

0.0043 

I 

0.0x2 

I 

0.0 13 

I 

0.012 

I 

0.012 

I 

0.012 

I 

0.012 

I 

0.006 

3 

0.012 

3 

0.006 

2 

-4-i8x 

+155 

+104 

H-  56 
-56 
-105 

-158 
—208 

+156 
+XI7 
+   78 

•♦-  39 
o 

-36 

-  75 
-116 

->53 
•♦-  56 

-  56 

+110 
+  72 
+  46 
-48 

-  72 
—106 

+  75 
o 

-  75 


-1.85 

-1.58 
—1.06 

-0.57 

•^•57 
+1.07 

+1.59 
-4-2.12 

—1.60 
—1.20 
—0.80 
-0.40 
o 

•^.37 
+0.77 

+1.19 
+1.57 

-0.79 
+0.79 

—1.56 
—1.02 
-0.65 
+0.68 
-1-1.02 

+1.51 

—1.07 

o 

+1.07 


Die  mit  ?  bezeichneten  Componenten 
sind  nur  ohne  Ralkspath  beobachtet 
worden.  Ihr  Polarisationszustand 
kann  daher  nicht  angegeben  werden. 


Die  Componenten  sind  nur  getrennt 
beobachtet  worden,  wenn  die  parallel 
schwingenden  Componenten  unter- 
drflckt  wurden. 


Erste  Nebenserie  HI. 


0.003 
0.004 
0.003 

0.004 
0.004 
0.004 

O.OOI 

0.001 


I 

+100 

-I.I4 

I 

0 

0 

2 

-  99 

+I.I2 

4 

+  53 

—0.60 

• 

3 

0 

0 

3 

-  52 

•+O.59 

I 

H-  30 

-0.47 

1 

-  30 

-+O.47 

Die  mittlere  Componente  ist  breit. 


Die  Componenten  konnten  getrennt  nur 
dann  beobachtet  werden,  wenn  die 
parallel  den  Kraftlinien  schwingen- 
den Componenten  unterdrückt  waren. 


Uher  die  Strahlung  des  Quecksilbers  vn  magnetischen  Felde. 


13 


Linien  des  Quecksilberspectrums,  die  nicht  zu  den  Serien 

gehören. 


Ungestörte 
Wellen- 
länge 


AX 


-AX/X* 


Mittlerer 
Fehler 


Inten- 
sit&t 


Benierkimgen 


5790.49 


5769.45 


4916.41 


4347.65 


4339.47 


4108.2 


4078.05 


3984.08 


+369 
o 

-399 

+414 
o 


— I.IO 

o 
+1.19 

—1.24 
o 


-415     +1.25 


+271 
o 

-259  ; 

+206 

o 

—206 

•4-246 

o 

—252 

+156 
o 


—  I.I2 

O 

•♦-1.07 

—1.09 

O 

•♦-1.09 

-I.3I 

o 
+1-34 


.92 

o 


—180     +1.07 


+268 
o 

-274 


— I.6I 
o 

+1.65 


0.0067 
0.0082 
0.0067 

0.0017 
0.0021 
0.0017 


0.0018 
0.0020 
0.0018 

0.0048 
0.0064 
0.0048 


0.0034 

0.0043 
0.0034 


I 

3 
I 

2 

5 

2 


I 

2 
I 

2 

4 

2 

I 

3 
I 


I 

2 
I 


3 
6 


Bei  allen  hier  aufgeführten  Linien  aufser  der  letzten 
schwingen  die  beiden  äoTseren  Componenten  senkrecht 
zu  den  Kraftlinien,  die  mittlere  dagegen  parallel  den 
Kraftlinien. 

^'1  57S9.33  liegt  noch  eine  schwache  Linie,  deren  Zer- 
legung im  magnetischen  Felde  aber  nicht  mit  Sicher- 
heit hat  beobachtet  werden  können. 


Die  Wellenlänee  ist  von  Eder  und  Valenta  bestimmt', 
welche  die  Linie  unter  den  Bandenlinien  des  Queck- 
silbers führen. 


Die  Linie  3984.08  (Kayser  und  Runge)  besteht  im 
ungestörten  Zustand  aus  3  Componenten  4.196;  4.1 21; 
4.054.  Bei  Einschaltung  des  Feldes  erhielten  wir  nur 
einen  verschwommenen  Streifen. 


^  Die  Linien  dieser  Liste,  bei  denen  kein  mittlerer  Fehler  ang^eben  ist,  sind  nur 
ein  Mal  beobachtet.     Die  Genauigkeit  ist  bei  ihnen  erheblich  geringer. 

'  Eder  und  Valenta,  Über  die  verschiedenen  Systeme  des  Quecksilbers.  Abhand- 
lungen der  Wiener  Akademie,  1894. 


14 


C.  Runge  und  F.  Paschen: 


Ungestörte 
Wellen- 
länge 

AX 

~A\/X'- 

Mittlerer 
Fehler 

Inten- 
sität 

Bemerkungen 

+  141 

—0.92 

2 

•  3906.6 

0 

0 

4 

-144 
+165 

+0.94 
—1.08 

2 
I 

Die  Wellenlängen   sind    die    von  Eder  und  Valenta 
angegebenen. 

3902.1 

0 

0 

2 

-159 

+1.04 

I 

2847.85 

H-94 
0 

-94 

— 1.16 

0 

+1.16 

I 
I 

Die  Componenten  konnrcn  wir  getrennt  nur  beobachten, 
wenn  die  parallel  den  Kraftlinien  schwingende  Coui- 
pouentft  unterdrflckt  wurde. 

2536.72 

+"5 
->«5 

-1.79 
+1.79 

0.0028 
0.0028 

10 
10 

Diese  kräftige  Linie  spaltet  sich  in  zwei  Componenten, 
die  beide  senkrecht  und  pai-allel  den  Kraftlinien 
schwingen.  Neben  diesen  beiden  Com})ouenten  er- 
scheint nach  der  Seite  der  grofseren  Wellenlängen  je 
eine  schwache  Componente  im  Abstand  0.090.  Man 
sollte  vermuthen,  dals  diese  zu  einer  Linie  2536.81 
gehören.  Aber  wir  haben  im  ungestörten  Zustande 
neben  2536.72  keine  Linie  beobachtet. 

Soweit  die  Genauigkeit  der  Messungen  reicht,  zeigen  die  Linien  der- 
selben Serie,  d.  h.  solcher  Linien,  die  durch  dieselbe  empirische  Formel  von 
Kayser.und  Runge  oder  von  Rydberg  dargestellt  werden,  die  gleiche  Zer- 
legung durch  das  magnetische  Feld  in  dem  Sinne,  dafs  in  der  Scala  der 
Schwingungszahlen  gezeichnet  die  Componenten  aller  Serienlinien  die  glei- 
chen Abstände  haben  und  dafs  entsprechende  Componenten  auch  in  der- 
selben Weise  polarisirt  sind.  Nur  sind  bei  den  schwächeren  Linien  in  der 
Regel  nicht  alle  Componenten  beobachtet,  und  bei  den  kleineren  Wellen- 
längen rücken  die  Componenten  so  dicht  an  einander,  d(ifs  sie  nicht  mehr 
getrennt  werden  konnten.  So  sind  z.  B.  bei  den  zu  einer  Serie  gehörenden 
Linien  5461,3342,2926  9  Componenten  der  ersten  (abgesehen  von  den 
schwachen  Componenten,  die  wir  Satelliten  zuschreiben),  9  Componenten 
der  zweiten  und  nur  3  Componenten  der  dritten  beobachtet.  Dennoch  ist 
kaum  daran  zu  zweifeln,  dafs  die  Zerlegung  auch  bei  der  dritten  Linie 
die  gleiche  ist.  Die  beobachteten  Componenten  bestätigen  es,  während  das 
Fehlen  einiger  Componenten  sich  durch  ihre  geringe  Intensität  erklärt.  Die 
Genauigkeit,  mit  welcher  sich  dieselben  Schwingungsdifferenzen  wiederholen, 
entspricht  durchaus  der  Genauigkeit  der  Messungen.  So  haben  wir  z.  B. 
bei  5461   und  3342  för  — AA/A'  die  Werthe 


über  die  Strahhmg  des  Quedcsäbers  nn  magnetischen  Felde. 


15 


5461 

3342 

Differenz 

Quadrate 

-3.13 

—2.05 

—0.08 

64 

—1.62 

-1.58 

—0.04 

16 

—1.07 

-1.04 

—0.03 

9 

-0.53 

—0.56 

-♦-0.03 

9 

0 

0 

0 

— 

■HJ.55 

•^.55 

0 

•♦-1.06 

+1.04 

-H).02 

4 

-••1.63 

+1.58 

+0.05 

25 

-♦-2.17 

+2.13 

+0.04 

16 

Summe  143 

}/'-f-- 


42 


Der  mittlere  Fehler  0.042  für  die  Differenz  der  Werthe  von  AA/A'  stimmt 
hinreichend  überein  mit  dem  Werthe,  den  man  für  diese  Gröfse  aus  den  mitt- 
leren Fehlern  der  Wellenlängen  der  Componenten  von  5461  und  3342  be- 
rechnen kann.  Man  berechnet  bei  5461  für  AX/V  einen  mittlem  Fehler 
von  o.oii,  bei  3342  von  0.035  und  0.041.  Daraus  folgen  fiir  die  Diffe- 
renzen der  Werthe  von  AA/X"  bei  5461  imd  3342  die  mittleren  Fehler  0.037 
und  0.042,  je  nachdem  es  sich  um  die  genaueren  oder  weniger  genauen 
Componenten  von  3342  handelt. 

Die  dritte  Serienlinie  2926  liefe  nur  3  Componenten  erkennen.  Die  beob- 

.  .. 

achteten  Werthe  von  AA/A'  sind  aber  auch  hier  in  Übereinstimmung  mit 
den  zu  erwartenden,  wenn  man  annimmt,  dafs  nur  die  stärksten  Compo- 
nenten erschienen  sind. 

Bei  der  ersten  Nebenserie  ist  die  Wiederholimg  der  Typen  schwieriger 
zu  beobachten  als  bei  der  zweiten,  weil  die  Linien  zu  kleineren  Wellen- 
langen gehören  und  daher  in  der  Scala  der  Wellenlängen  die  Componenten 
näher  an  einander  liegen.  Soweit  die  Genauigkeit  der  Messung  reicht,  zeigt 
sich  jedoch  auch  hier  die  gleiche  Zerlegung  der  Linien  derselben  Serie,  so- 
wohl der  Hauptlinien  wie  der  Satelliten.  Kent  behauptet,  dafs  für  Linien 
derselben  Serie  die  Zerlegung  nicht  dieselbe  sei,  sondern  dafs  AA/A*  z.  B. 
von  Hg  5461  zu  Hg  3342  im  Verhältnifs  von  3  zu  4  zunehme.*  Da  er 
indessen  die  einzelnen  Componenten  der  untersuchten  Linien  nicht  getrennt 
hat,  so  will  der  Widerspruch  mit  unseren  Messungen  wenig  bedeuten. 


Kent,  Astroph.  J.  XllI ,  8.316.  1901. 


16 


C.  Runge  und  F.  Paschen: 


Die  nicht  zu  den  Serien  gehörenden  Linien  werden  bis  auf  die  starke 
Linie  2536.72  alle  in  je  drei  Componenten  zerlegt.  Die  Differenzen  der 
Schwingungszahlen  der  Componenten  sind  nahezu  dieselben,  zeigen  aber 
doch  Abweichungen,  die  erheblich  über  die  Beobachtungsfehler  hinausgehen. 
Es  ist  z.  B.  kein  Zweifel  möglich,  dafs  die  Componenten  von  5769  gröfsere 
Schwingungsdifferenzen  ergeben  als  die  Componenten  von  5790  und  ebenso 
die  von  4339  gröfsere  als  die  von  4348. 

Einen  Überblick  über  die  sämmtlichen  vorkommenden  Schwingungs- 
differenzen gewährt  die  folgende  Tafel.  Von  den  Serienlinien  ist  hier  bei 
jeder  Serie  nur  die  stärkste  aufgeführt;  die  anderen  würden,  wie  oben 
bemerkt,  bei  vollständigen  Beobachtungen  dieselben  Schwingungsdiffe- 
renzen ergeben.  Ein  s  oder  p  neben  der  Zahl  bedeutet,  dafs  die  elektrische 
Schwingung  senkrecht  zu  den  Krafllinien  oder  parallel  zu  ihnen  vor 
sich  geht. 


Tabelle  der  Schwingungsdiffe 

die  Componenten  im 


renzen  — AA/A*  der  ungestörten  Linie  gegen 
magnetischen  Felde  (24600  c. g. s.). 


5461 

—2.138 

—  1.628 

—  1.078 

-0.53p 

op 

+0.5  5P 

+1.068 

+1.638 

1 
+2.I7S 

4359 

—2.15s 

—  1.62s 

-0.57p 

•+0.54P 

+1.64S 

+2.i6s' 

4047 

—2.178 

op 

+2.i8s 

3663.5 

—2.068 

—  I.6I8 

—1.14s 

-0.92p 

-0.62  8 

--0.51p 

op 

+0-47P 

-K).688 

+0.97P 

+1.088 

+X.608 

+2.07  s 

3132.0 

-1.558 

—  I.IOS 

-0.58  p  U.  8 

op 

-K).6* 

p  u.8 

+1.09S 

+1.698 

*  1 

2967.6 

— I.I48 

op 

+I.I28 

1 

1 

3663.0 

—2.8 18 

—1.678 

— i.iop 

-0.588 

op 

-HJ.548 

+I.09P 

+1.65  si         +2.:tj 

3«3«-7 

-1.85? 

-1.58s 

— i.o6p 

-0.578 

+0.578 

+I.07P 

+1.59S 

+2.12? 

2967.4 

—0.60  p  U.8 

op 

-K).59pu.8 

3655.0 

—  1.988 

—1.56s 

-'.3SP 

—1.19s 

— o.8ip 

—0.76s 

-0.37p 

-H).38p 

-H).77s 

+0.82P 

+I.I58 

+I.33P 

+1.588 

+  I.99S 

3125.8 

—  1.60? 

—  I.20S 

—0.80  s 

—0.40p 

0? 

+0.37P 

+0.778 

+I.I98 

+1.57? 

3650 

—  1.288 

-0.32p 

+0.36P 

+1.27S 

4078 

—  I.6IS 

op 

+1.65S 

5769 

-1.248 

op 

+1.258 

1 

4339 

—  I.3I8 

op 

+1.348 

5790 

—  I.IOS 

op 

+I.I9S 

1 

434« 

—1.098 

op 

+1.098 

4916 

— I.I2S 

op 

+I.07S 

4108 

1 

—0.92s 

op 

+1.078 

3907             ! 

' 

—0.92  s 

op 

+0.948 

3902 

—1.088 

op 

+i.04s! 

1 

2848 

—1.16 

op 

+i.i6s 

1 

2537                    ! 

-1.79 

1 
1 

+1.79 

ptt.8 

pU.  8 

■  • 

Über  die  Strahlung  des  Quecksilbers  im  magnetischen  Felde.  17 

In  der  Tabelle  sind  zunächst  die  Serienlinien  aufgeführt  und  zwar  zuerst 
die  Repräsentanten  der  drei  Serien,  die  unter  der  Bezeichnung  zweite  Neben- 
serie zusammengefafst  werden.  Dann  folgen  die  Repräsentanten  der  ersten 
Nebenserie  und  zwar  in  solcher  Anordnung,  dafs  die  Satelliten  und  Haupt- 
linien, deren  Schwingungszahlen  dieselben  Differenzen  ergeben  wie  die  drei 
Serien  der  zweiten  Nebenserie,  immer  zusammengestellt  sind.  Die  Anordnung 
entspricht  genau  den  Rydberg'schen  Gesetzen  für  die  zusammengesetzten 
Triplets.^  Zuletzt  sind  die  nicht  zu  den  Serien  gehörenden  Linien  aufgefahrt. 

Die  Tabelle  zeigt  deutlich  einen  Zusammenhang  zwischen  den  Schwin- 
gungsdifferenzen der  verschiedenen  Linien.  Bestimmte  Differenzen  wieder- 
holen sich  so  oft  und  mit  so  grofser  Genauigkeit,  dafs  man  es  kaum  dem 
Zufall  wird  zuschreiben  wollen.  In  den  drei  zusammengeliörigen  Serien 
hat  die  Linie  der  gröfsten  Wellenlänge  die  meisten  Componenten,  die  der 
kleinsten  Wellenlänge  die  wenigsten.  Während  aber  bei  der  zweiten  Neben- 
serie die  bei  kleinerer  Wellenlänge  wegfallenden  Componenten  aus  der  Mitte 
genommen  sind,  fallen  bei  der  ersten  Nebenserie  die  seitlichen  weg.  Von 
den  1 1  nicht  zu  den  Serien  gehörenden  Linien  zerlegen  sich  7  in  Compo- 
nenten mit  denselben  Schwingungsdifferenzen.  Dieselben  Differenzen  treten 
auch  bei  den  meisten  Serienlinien  auf,  nur  dafs  hier  noch  weitere  Compo- 
nenten hinzukommen.  Die  in  der  zweiten  Nebenserie  auftretenden  Schwin- 
gungsdifferenzen im  Mittel:  — 2.15;  — 1.62;  — 1.07;  — 0.55;  o;  -»-0.54; 
-!-i.o6;  -1-1.64;  -»-2.17  sind  sehr  nahe  aequidistant.  Die  beobachteten  Werthe 
'sind  sehr  wenig  verschieden  von  den  Vielfachen  von  ±0.54:  ±0.54;  ±1.08; 
±1.62;  ±2.16.  Eben  diese  Schwingungsdifferenzen  sind  auch  unter  den 
übrigen  Linien  am  häufigsten  vertreten.  Insbesondere  ist  ±1.08  die  Weite 
der  letzten  sieben  nicht  zu  den  Serien  gehörenden  Triplets.  Es  zeigt  sich 
damit  ein  Zusammenhang  dieser  Triplets  mit  den  Serien,  der  vielleicht  in 
letzter  Linie  auf  die  constante  lonenladung  zurückzufuhren  ist. 

Die  Feldstärke,  auf  welche  unsere  Messungen  sich  beziehen,  haben 
wir  aus  den  Messungen  von  Michelson^  Reese^  und  Blythwood  und 
Marchand^  bestimmt  unter  der  Annahme,  dafs  die  Abstände  der  Compo- 
nenten der  Feldstärke  proportional  sind. 


'   Vergl.  Runge  und  Paschen,  Ann.  d.  Pliys.,  Bd.  5,  S.  725. 

•  A.  Micheison,  Astroph.  J.  VII ,  S.136.  1898. 

•  Reese,  Astroph.  J.  XII,  S.  120 — 135.  1900. 

^  Blythwood  und  Marchand,  Phil.  Mag.  40,  S.  397. 

Phys,  Abh.  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter.  1902.   I. 


18    C.  Runge  u.  F.  Paschen:  Über  die  Strahlung  d^s  Quecksilbers  u.  s.w. 
Es  ergaben  sich  die  Werthe: 

nach  Michelson  21367  c.g.s.  nos  4  Hg-Lioien, 

nach  Reese  36330  cg.s.  aus  3  Hg-Linien, 

nacli  Reese  25020  c.g.s.  aus  6  Cd-,  Zn-,  Mg -Linien  ^ 

nach  Blythwood  und  Marchand  25030  c.g.s.  aus  4  Ug-Linien. 

Da  Michelson  und  Reese  die  Hg-Linien  nicht  vollständig  zerlegt  haben, 
so  geben  wir  den  ersten  beiden  Zahlen  das  Gewicht  i,  den  letzten  beiden 
das  Gewicht  2  und  finden  als  Mittel: 

Feldstarke:  24633  cg.s.  (mittlerer  Fehler:  1000  c.g.s.). 

Eine  genauere  Bestimmung  der  Feldstärke  wäre  erwünscht,  weil  der  mittlere 
Fehler  der  Feldstärke  relativ  wesentlich  grö&er  ist,  als  der  der  Schwin- 
gungsdifferenzen der  Componeuten. 


Erklärung  der  Tafeb. 


Die  Tafeln  stellen  etwa  12 bis  13 -fache  Verffröfserungen  unserer  photographi- 
schen Aufnahmen  dar,  die  Hr.  Hans  Haus wal dt  die  Güte  hatte  mit  grofser  Sorg- 
falt fiir  uns  herzustellen.   Auch  die  Drucke  sind  von  Hrn.  Hauswaldt  ausgeführt. 

Taf.     I.  Die  drei  Typen  der  zweiten  Nebenserie  des  Quecksilbers. 

Taf.  n.  Die  Quecksilberlinie  3650  der  ersten  Nebenseiie  mit  ihren  Satelliten. 
Schwingungen  senkrecht  zu  den  Kraftlinien. 

Taf.  m.  Dieselben  Linien.     Schwingungen  parallel  den  Kraftlinien. 

Taf.  IV.  Dieselben  Linien.     Beide  Arten  von  Schwingungen. 

Taf.  V.  Die  Quecksilberiinie  3125.8  der  ersten  Nebenserie  mit  ihren  Satelliten. 
Sch\^ingungen  senkrecht  zu  den  Kraftlinien  und  beide  Arten  von  Schwin- 
gungen vereinigt. 

Taf.  VL  Die  Quecksilberlinie  2967.4  der  ersten  Nebenserie.  Schwingungen  senkrecht 
zu  den  Kraftlinien  und  beide  Arten  von  Schwingungen  vereinigt.  Der 
Satellit  von  2967  ist  auf  der  Reproduction  nicht  zu  sehen.  Die  beideft 
gelben  Quecksilberlinien  5790.5  und  5769.4. 


^   Die  Cd-,  Zn-,  Mg -Linien  wurden  gleichzeitig  mit  Hg-Linien  im  magnetischen  Felde 
aufgenommen,  indem  wir  die  Cd-,  Zn-,  Mg -Elektroden  amalgamirten. 


K.  Preii/s.  Akad.  d.  Wissensch, 


Anhang  z.  d.  Abh.  1^02. 


t  A  ^  12.9  mm. 


1 A  —  I2.e  mm. 


5461.0 

Ehktntche  SchwingaogM  »«nkr^eht  la  den  Kraftlinien. 
t  A^  12.e  mm. 


5481.0 
EhktritchB  Schwingungen  parallel  den  Kraftlinien. 
1 A  =  12.6  m, 


C.  RUNGE  und  F.  PASCHEN:  Strahlung  des  Quecksilbers. 
Taf.  I. 


A'  Preujs.  Akad.  d.  Wissensch, 


Anhang  z,  d.  Abh,  i(^o2. 


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C.  RUNGE  und  F.  PASCHEN:  Strahlung  des  Quecksilbers. 


Taf.  II. 


A'.  Preufs,  Akad,  d,  Wissensch. 


Anhang  z,  d.  Abh,  ii)02. 


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2 


C.  RUNGE  und  F.  PASCHEN:  Strahlung  des  Quecksilbers. 


Taf.  11 1. 


h'.  Preitfs,  Akad.  d,  IVissensc/i. 


Anlumg  z,  d.  AM,  1^02. 


C.  RUNGE  und  F.  PASCHEN:  Strahlung  des  Quecksilbers. 


Taf.  IV. 


fC.  Preu/s,  Akad,  d,  IVisscnsch. 


Anhang  z,  d,  Abh,  i(^02. 


Od 


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od 


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5 


C.  RUNGE  und  F.  PASCHEN:  Strahlung  des  Quecksilbers. 


Taf.  V. 


K,  Preu/s.  Akad,  d,  Wissensdu 


Anhang  z,  d,  Ahh.  i()02. 


Ob 


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I 


1^ 


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O) 


I 


C.  RUNGE  und  F.  PASCHEN:  Strahlung  des  Quecksilbers. 


Taf.  VI. 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach.  und  ihre 
Abhängigkeit  von  äufseren  Einflüssen. 


Von 


Dr.  M.  SAMTER  und  Dr.  R.  HEYMONS, 


Fhya.  Abh.  nieht  tut  Ahad.  gehör.  Oelehrttr.  1902.   II. 


Vorgel^t  in  der  Sitzung  der  phys.-math.  Ciasse  am  17.  Juii  1902 

[Sitzungsberichte  St.  XXXVI.  S.  841]. 

Zum  Druck  eingereicht  am  gleichen  Tage,  ausgegeben  am  23.  October  1902. 


Einleitung. 

im  Frü}\jahr  1901  benutzten  wir  einen  mehrwöchentlichen  Aufenthalt  am 
Ostufer  des  Kaspischen  Meeres  zu  einem  zweimaligen  Besuch  der  Salz- 
lagunen von  MoUa  Eary,  um  die  Lebensbedingungen  der  dortigen  Artemia 
zu  mitersuchen. 

MoUa  Eary  liegt  in  einer  nur  spärlich  bewachsenen  Sandsteppe ,  welche 
stellenweise  noch  reich  an  Muschelresten  —  Cardium  —  ist  und  sich  so- 
mit noch  zweifellos  als  ehemaliger  Meeresboden  zu  erkennen  gibt.  Das 
betreffende  Gebiet  ist  reich  an  Salz,  auch  fuhrt  vom  Kaspischen  Meere, 
und  zwar  vom  Balchanski-Meerbusen  aus,  ein  enger,  stellenweise  nur  wenige 
Meter  breiter  Wasserarm  in  geschlängeltem  Verlaufe  in  die  Steppe  hinein. 
Die  Länge  dieses  mit  stark  salzigem  Wasser  gefüllten  Kanals,  der  von 
Ketten  niedriger  Sanddünen  umsäumt  ist,  beträgt  mehrere  Kilometer.  An 
verschiedenen  Stellen  bildet  der  Kanal  verhältnifsmäfsig  grolse  seenartige 
Erweiterungen,  die  zeitweilig  unter  einander  nur  noch  durch  eine  ganz 
enge  Gommunication  zusammenhängen  und  somit  fast  vollständig  abge- 
schlossene Reservoire  darstellen. 

Der  Salzgehalt  in  diesen  verschiedenen  Wasserbecken  war  in  Folge  ihrer 
nahezu  vollkommenen  Trennung  ein  verschiedener.  Während  einige  nur 
etwa  8° — 15®  Beaume  aufwiesen,  fanden  wir  in  anderen  das  Wasser  bereits 
so  concentrirt,  dals  das  Salz  in  grofsen  Mengen  am  Boden  und  am  Ufer 
auskrystaUisirte ,  bei  brennender  Sonnenhitze  eine  Schneelandschaft  vor- 
täuschend. Abgesehen  von  den  grofsen  Wasserbecken  gab  es  eine  An- 
zahl kleiner  flacher  Tümpel,  die  am  Rande  der  grofsen  Wasserreservoire 
lagen,  aber  zur  Zeit  unserer  Anwesenheit  von  den  letzteren  vollständig 
getrennt  waren.  Auch  der  Salzgehalt  dieser  kleinen  Tümpel,  welche  theil- 
weise   nur  einen  Durchmesser  von  einem   ode^  wenigen  Metern  besafsen, 


4  M.  Samteb  und  R.  Heymons: 

ist  ein  variabler.  Im  allgemeinen  l&fst  sich  aber  sagen,  dals  diese  Tümpel 
einen  erheblich  geringern  Salzgehalt  aufwiesen,  als  die  benachbarten  gro&en 
Wasserbecken. 

Es  ist  wohl  anzunehmen,  dals  im  Winter  oder  im  Frühjahr  nach 
wiederholten  starken  Regengüssen  die  Tümpel  mit  den  groJGsen  tiefen  Wasser- 
becken in  Zusammenhang  treten  können.  Wenn  hierauf  das  Wasser  dann 
später  wieder  zurückweicht,  so  ist  es  natürlich  klar,  dafe  im  Laufe  der 
Zeit  der  Boden  am  Rande  am  stärksten  ausgelaugt  werden  wird,  und  dais 
daher  die  dort  in  den  Vertiefungen  in  Gestalt  kleiner  flacher  Tümpel  zurück- 
bleibenden Wasseransammlungen  weniger  Salz  enthalten  müssen  als  die 
gröfseren  und  tieferen  central  gelegenen  Wasserbecken.  Der  verschiedene 
Salzgehalt  der  letzteren  ist  andererseits  auch  leicht  verständlich ,  wenn  man 
ihre  räumliche  Trennung  von  einander,  sowie  ihre  verschiedene  Tiefe  be- 
rücksichtigt, imd  wenn  man  ferner  den  Umstand  in  Betracht  zieht,  dafs 
in  Molla  Eary  an  verschiedenen  Stellen  brackige  Quellen  aus  dem  Boden 
entspringen. 

Zur  Zeit  unserer  Anwesenheit  fanden  wir  nicht  nur  die  gröfeeren 
stärker  salzigen  seenartigen  Becken,  sondern  auch  die  kleinen  Tümpel 
gröJGstentheils  von  Artemia  besetzt.  Letztere  fehlten  dagegen  vollständig  in 
einem  von  zahlreichen  Ostrakoden  und  Wasserinsecten  bevölkerten  Brack- 
wassertümpel, der  von  den  Kirgisen  zum  Tränken  der  Kamele  benutzt 
wird,  xmd  sie  fehlten  femer  auch  in  einigen  mit  Salzwasser  gefällten  seen- 
artigen Erweiterungen,  deren  Wasser  grofse  Mengen  von  Schwefelwasser- 
stoff enthielt.  In  einem  kleinen  Tümpel,  aus  dessen  Grunde  eine  warme 
Schwefelquelle  hervorsickerte,  fanden  sich  nur  einige  wenige  todte  Arte- 
mien  vor. 

Die  Individuenzahl ,  in  der  die  Artemia  im  Frühjahr  in  Molla  Kary 
auftrat,  mufs  als  eine  geradezu  ungeheure  bezeichnet  werden;  sie  bezifferte 
sich  in  manchen  der  grofsen  seenartigen  Becken  auf  viele  Millionen.  Nament- 
lich in  den  Morgenstunden  näherten  sich  die  Thierchen  dem  Ufer  und  ver- 
liehen dem  Wasser  eine  röthliche  Färbung.  In  dem  vom  Winde  am  Ufer 
ausgeworfenen  Salzschaum  bildeten  die  angespülten  ilrfewia- Leichen  stellen- 
weise dicke  rothe  gallertige  Massen  und  Klumpen. 

Das  Vorkommen  des  genannten  entomostraken  Krebses  in  Molla  Kary 
wurde  bereits  durch  Walter  —  1888  —  festgestellt,  aus  dessen  Mitthei- 
lungen  indessen   hervorgeht,    dafe    er   daselbst   die  Artemia  nur  aus   fast 


Die  .Variationen  bei  Artemia  saÜna  Leach.  5 

concentrirtem  Salzwasser  erlangt  hat.  Dem  gegenüber  ist  hervorzuheben, 
dais  es  uns  möglich  war,  die  Artemien  an  der  gleichen  Örtlichkeit,  zu  der- 
selben Zeit  und  somit  wohl  auch  im  wesentlichen  immer  unter  den  gleichen 
äulseren  Lebensbedingungen  aus  Wasser  von  sehr  verschiedenem  Salzgehalt 
zu  erbeuten. 

Die  Temperatur  dürfte  bis  zur  Zeit  unserer  Ankunft  in  Molla  Eaiy 
noch  keinen  wesentlichen  Einflufs  auf  die  Entwickelung  der  Artemia^ 
Generationen  in  dieser  oder  jener  besonderen  Richtung  in  den  verschiedenen 
Wasseransammlungen  ausgeübt  haben  können.  Es  ist  dieses  wenigstens 
deswegen  sehr  unwahrscheinlich,  weil  sich  in  Folge  andauernder  Nord- 
winde die  Tagestemperaturen  noch  stets  in  verh&ltnifsmälsig  niedrigen 
Grenzen  gehalten  hatten.  Erst  während  unseres  Aufenthalts  in  Molla  Eary, 
der  das  erste  Mal  auf  den  8./21.  bis  10./23.  Mai,  das  zweite  Mal  auf  den 
1 5-/2 8.  bis  18./31.  Mai  fiel,  trat  einmal  grölsere  Hitze  ein,  so  dais  sich  in 
den  Mittagsstunden  die  oberflächlichien  Sandschichten  in  der  Steppe  bis 
auf  45®  R.  erwärmten. 

In  den  folgenden  Mittheilüngen  sollen  die  verhältnifsmäisig  gering- 
fügigen Temperaturunterschiede,  die  wir  in  den  verschiedenen  Wasser- 
becken beobachtet  haben,  als  unwesentlich  nicht  berücksichtigt  werden, 
sondern  es  soll  nur  der  verschiedenartige  Salzgehalt  des  Wassers  und  sein 
Einflufs  auf  den  Körperbau  der  Artemia  in  »Betracht  gezogen  werden,  ein 
Factor,  der  bekanntlich  auch  von  Seiten  früherer  Beobachter  in  erster  Linie 
Berücksichtigung  gefimden  hat« 

Die  Gründe,  welche  es  uns  als  wünschenswerth  erscheinen  liefsen, 
gerade  an  Artemia  den  Einflufs  der  äuiseren  Lebensbedingungen  festzustellen, 
bedürfen  wohl  kaum  einer  ausföhrlichen  Erörterung.  Nicht  geringes  Auf- 
sehen erregte  es  ja,  als  Schmankewitsch  in  den  Jahren  1 871  — 1877 
einige  Abhandlungen  veröflfentlichte ,  in  denen  er  die  Ansicht  vertrat,  dafs 
sich  der  EinfluGs  des  Wassers  von  verschiedenem  Salzgehalte  an  dem  Körper- 
bau der  Artemia  in  verschiedener  Hinsicht  deutlich  zu  erkennen  gäbe. 

Das  wesentlichste  Resultat  von  Schmankewitsch  besteht  bekanntlich 
in  der  Beobachtung,  dais  die  Artemia  salma  in  Salzwasser  von  abnehmender 
Concentration  bestimmte  und  als  solche  gut  charakterisirte  Varietäten  bildet, 
welche  eine  deutliche  Annäherung  an  das  Gmus  Branchipus  darstellen ,  wäh- 
rend umgekehrt  die  Artemia  saUna  in  stark  salzigem  Wasser  allmählich  die 
Eigenthümlichkeiten  der  Artemia  mtOumseni  annimmt. 


6  M.  Samter  und  R.  Hbymons: 

Freilich  hat  es  auoh  keineswegs  an  Zweifeln  und  an  widersprechen- 
den Urtheilen  gefehlt.  Namentlich  Bateson  —  1894  —  ist  nach 
Untersuchung  eines  von  verschiedenein  Orten  des  westlichen  Central- 
asiens  und  Westsibiriens  stanunenden  Materials  zu  sehr  wesentlich  an- 
deren Ergebnissen  wie  Schmankewitsch  gekommen.  Ihm  zufolge  be- 
sitzt allerdings  ÄTUmia  eine  außerordentlich  groise  Neigung  zu  Varia- 
tionen imd  Ver&nderungen  aller  Art,  doch  ist  deren  Abhängigkeit  von 
dem  Salzgehalt  des  umgebenden  Mediums  nicht  im  einzelnen  nachweis- 
bar; »ahnost  each  locality  has  its  own  pattem  of  ArtemkL^  which  differs 
from  those  of  other  localities  in  shades  of  colour,  of  average  size  or  in 
robustness,  and  in  the  average  number  of  spines  on  the  swimming  feet, 
but  none  of  these  di£Eerences  seem  to  be  especially  connected  with  the 
degree  of  salinity«. 

Die  Bateso  naschen  Befunde  sind  im  grofsen  und  ganzen  veriiältnüs- 
mSTsig  wenig  bekannt  geworden,  wenigstens  bei  dem  deutschen  Leserkreise, 
vielleicht  in  Folge  ihrer  Veröffentlichung  in  einem  um&ngreichen  Werke, 
das  nicht  nur  Artemia,  sondern  die  Vaiiations -Verhältnisse  im  allgemeinen 
behandelt.  So  weit  sie  trotzdem  zur  Eenntnifs  gelangt  sind,  dürfte  sich 
aber  wohl  die  Überzeugung  im  allgemeinen  Bahn  gebrochen  haben,  dafs 
mit  ihnen  nunmehr  die  Ergebnisse  von  Schmankewitsch  ihrer  eigen- 
artigen  Bedeutung  entkleidet  worden  seien,  dafs  dieselben  jedenfalls  nicht 
das  Interesse  beanspruchen  dürften,  welches  man  ihnen  anfangs  entgegen- 
gebracht hatte,  in  der  Meinung,  dafs  es  in  der  That  möglich  sei,  durch 
Veränderung  des  umgebenden  Mediums  eine  Art  in  die  andere,  und  eine 
Gattung  in  die  andere  zu  überfuhren. 

Allerdings  darf  man  gegenwärtig  doch  noch  durchaus  nicht  sagen, 
dafs  diese  Fragen  nun  auch  bereits  endgültig  erledigt  sind,  denn  einmal 
hat  Walter  —  1888  —  einige  kurze  Mittheilungen  über  die  in  Molla  Kary 
lebenden  Artemien  gemacht,  welche  recht  wohl  mit  den  Schmankewitsch- 
schen  Ejrgebnissen  harmoniren ,  und  ferner  ist  auch  nicht  zu  übersehen ,  dafs 
das  Material  von  Bateson  zwar  von  einer  grofsen  Zahl  räumlich  weit  ge- 
trennter Orte  herstammt,  dafs  aber  doch  in  jedem  einzelnen  Falle  immer 
eine  nur  verhältnifsmäfsig  sehr  geringe  Zahl  von  Individuen  zur  Unter- 
suehung  gelangt  ist,  während  umgekehrt  Schmankewitsch  seine  Mit- 
theilungen gerade  auf  den  Vergleich  zahlreicher,  unter  gleichen  ökologischen 
Verhältnissen  lebender  Thiere  basirt  hatte. 


Die  Variationen  hei  Artemia  salina  Leach.  7 

Unter  diesen  Umständen  dürfte  es  wohl  von  Interesse  sein,  die  Beein- 
flussung des  Körperbaues  durch  den  Salzgehalt  des  umgebenden  Mediums 
in  möglichst  engem  Anschluls  an  die  Schmankewit  seh 'sehe  Unter- 
suchungsmethode einer  erneuten  Prüftmg  zu  unterziehen.  Beobachtungen 
in  dieser  Hinsicht  lassen  sich  nun,  wie  dieses  auch  von  Seiten  des  russischen 
Forschers  geschehen  ist,  auf  zweierlei  Art  und  Weise  vornehmen,  einmal 
durch  genauen  Vergleich  der  unter  natürlichen  Lebensverhältnissen  im  Freien 
aufgewachsenen  Thiere,  und  zweitens  durch  Züchtung  der  Artemien  in 
der  Gefangenschaft  unter  künstlicher  Veränderung  des  Salzgehaltes  in  den 
Aquarien. 

In  dieser  Abhandlung  werden  wir  nur  diejenigen  Ergebnisse  bringen, 
welche  auf  Untersuchungen  der  in  Transkaspien  in  freier  Natur  gesammelten 
Thiere  beruhen,  bei  denen  jedenfalls  störende  Einflüsse,  wie  sie  in  der 
Gefangenschaft  leicht  eintreten  können,  sich  nicht  geltend  gemacht  haben. 

Die  Bearbeitung  des  von  uns  gesammelten  Materials  ist  in  der  Weise 
vorgenommen  worden,  dafe  wir  Beide  uns  sowohl  an  den  Untersuchungen 
als  auch  an  den  theoretischen  Erwägungen  betheiligt  haben.  Im  wesent- 
lichen ist  aber  die  Aufstellung  der  Berechnungen  sowie  die  Zusammen- 
stellung der  Beobachtungen  in  dem  speciellen  Theile  durch  den  erstge- 
nannten Autor  —  Samter  — ,  die  Abfassung  der  allgemeinen  Capitel 
durch  den  letztgenannten  —  Heymons  —  erfolgt. 


1.  Specieller  TheiL 

I.  Ober  die  habitaellen  Eennzeichen  der  Artemia  salina  von 

MoUa  Eary. 

Den  oben  citirten  Satz  von  Bateson,  dafs  nahezu  jeder  Fundort  von 
Artemia  salina  auch  eine  eigene  Rasse  von  dieser  Thierform  beherbergt, 
haben  wir  auch  hinsichtlich  der  von  uns  besuchten  Örtlichkeit  bestätigt 
gefunden. 

Zwar  kann  an  der  Zugehörigkeit  der  in  MoUa  Blary  lebenden  Artemia 
zur  Species  salina  gar  kein  Zweifel  bestehen,  doch  finden  sich  einige  an 
und  für  sich  geringfügige,  aber  immerhin  constante  Unterschiede  vor,  durch 
welche  sich  die  von  uns  beobachtete  Artemia  salina  beispielsweise  von  der 
Artemia  salina  aus  den  Limanen  von  Odessa  unterscheidet,  die  Schmanke- 
witsch  zum  Gegenstande  seiner  Untersuchungen  gemacht  hatte.  Das  Nähere 
geht  aus  den  nachstehenden  Angaben  hervor. 

A.  Weibchen. 

Korperlänge. 

Die  Körperlänge  der  Artemia  aus  MoUa  Kary  variirt  von  lO-j-*""  bis  5°°. 
Exemplare  von  17 — 18"",  wie  in  den  Seen  von  Odessa,  kommen  nicht  vor. 

Verhältnifs  von  Vorderkörper*  und  Abdomen. 

Durchschnittlich  variirt  das  Verhältnifs  von  16:18  bis  16:19.  Dem- 
gegenüber variirt  die  Artemia  von  Odessa  von  15:18  bis  1 5 :  30. 

*  Unter  Vorderkorper  verstehen  wir  mit  Schmankewitsch  Kopf  und  Thorax  zu- 
sammen genommen,  d.h.  denjenigen  Korpertheil,  der  vom  Vorderende  des  Kopfes  bis  zum 
Uinterrande  des  letzten  beintragenden  Korpersegmentes  —  11.  Thoraxsegment  —  reicht. 


IHe  Variationen  bei  Ariemia  salina  Leach.  9 

Segmentation  und  Sculptur. 

Die  Gliederung  in  acht  Abdominalsegmente  ist  meist  gut  ausgebildet. 
Wenn  sie  bisweilen  nach  hinten  an  Deutlichkeit  abnimmt,  so  ist  dieses 
Verhalten,  obwohl  es  meist  in  hohen  Concentrationsgraden  sich  zeigt,  doch 
nicht  ausschliefslich  auf  diese  beschr&nkt.  Bei  deutlicher  DifFerenzirung  der 
acht  Abdominalsegmente  von  einander  lälst  sich  bisweilen  noch  eine  mehr 
oder  weniger  deutlich  ausgeprägte  Gliederung  des  8.  Abdominalsegmentes 
in  zwei  auf  einander  folgende  Abschnitte  —  8.  und  9.  Segment  —  nach- 
weisen. Diese  Gliederung,  welche  auch  für  die  Gattung  Branchipus  charak- 
teristisch ist,  befindet  sich  hinter  der  Mitte  des  8.  Abdominalsegmentes. 
Die  von  Schmankewitsch  erwähnten  kurzen  Borsten  —  »Härchen«  oder 
»Fühlborsten«  —  trafen  auch  wir  etwas  vor  dem  Hinterrande  der  ein- 
zelnen Abdominalsegmente  an  imd  beobachteten  dieselben  aufserdem  noch 
ungef&hr  in  der  Mitte  des  8.  Abdominalsegmentes,  kurz  vor  der  Stelle,  an 
welcher  sich  gelegentlich  die  Abgliederung  in  ein  8.  und  9.  Segment  voll- 
ziehen kann. 

Dagegen  haben  wir  in  der  Umgebung  dieser  Borsten  niemals  auf- 
fallende Cuticularbildungen  irgend  welcher  Art  oder  gar  Stachelhäufchen 
entdecken  können,  welche  Schmankewitsch  an  der  Artemia  aus  Odessa 
beschrieb,  und  auf  deren  Auftreten  er  sogar  besonderes  Gewicht  gelegt  hat. 

Furca. 

In  der  Mehrzahl  der  Fälle  besteht  die  Furca  aus  zwei  lappenfbrmigen, 
in  der  Mitte  beiderseits  verbreiterten  Anhängen.  Das  8.  Abdominalsegment 
weist  an  der  Afteröfl6iung  zwischen  den  beiden  Furcalästen  beiderseits  eine 
halbkugelfbrmige  Aushöhlung  auf.  Zu  beiden  Seiten  derselben  steht  der 
Furcalast  mit  dem  Ende  des  8.  Abdominalsegmentes  in  directer  Verbindung. 
Lateral  ist  jeder  der  Furcaläste  durch  eine  geringfügige  Einschnürung  von 
dem  genannten  Segmente  abgesetzt.  Die  breite  lappenformige  Gestalt  der 
Furcaläste  nimmt  unter  gewissen  Umständen  eine  schmale,  am  Ende  zu- 
gespitzte, lanzettförmige  Gestalt  an,  wobei  gleichzeitig  eine  Verkürzung  in 
der  Längsrichtung  stattfindet.  Selten  kommt  es  zum  völligen  Schwinden 
der  Furcaläste. 

Furcalborsten. 

Je  gröfser  die  Furcaläste  sind,  desto  reicher  ist  ihre  Beborstung.  In 
der  Regel  stehen  die  Borsten  am  medialen  Rande  und  an  dem  terminalen 

Pkys,  Ähh,  nicht  zur  Akad,  gehör.  Gelehrter,   1902.    IL  2 


10  M.  Samter  und  R.  Heymons: 

Ende,  während  sie  am  Lateralrande  selten  auftreten.  Ihre  Zahl  variirt  von 
o  bis  lO  an  jedem  Aste.  Doch  kommen  die  Extreme  nur  selten  vor.  In 
der  Regel  bewegt  sich  die  Variation  bei  der  Borstenzahl  zwischen  i  und  6. 
Die  Artemia  aus  Odessa  zeigt  eine  Variation  von  o  bis  22. 

Erste  Antenne. 

Die  Länge  der  ersten  Antenne  variirt  entsprechend  der  Thierlänge 
durchschnittlich  zwischen  0T99  und  0T58.  Unweit  von  ihrer  Spitze  finden 
sich  neben  einander  drei  lange  Sinnesborsten,  welche  das  Ende  der  Antenne 
verdecken.  Dieses  Ende  läuft  in  zwei  abgestutzte  Kegel  aus ,  welche  in  Höhe 
und  Breite  von  einander  stark  abweichen.  Auf  diesen  Kegeln  sitzen  einige 
Sinneskolben  von  schlauchförmiger  Gestalt  mit  abgerundetem  Ende.  Der 
gröfsere  der  beiden  Kegel  trägt  in  der  Regel  drei,  der  kleinere  stets  eine» 
Kolben.  Es  finden  sich  auf  dem  gröfsern  Kegel  nie  mehr  als  drei,  bisweilen 
auch  nur  zwei  Kolben.  Die  Artemia  aus  Odessa  aber  besitzt  nach  Schm an- 
kewitsch gelegentlich  auch  vier  Kolben,  niemals  aber  zwei.  Die  Kolben 
sind  niemals  im  Gegensatz  zu  der  Form  aus  Odessa  gebogen,  sondern  stets 
aufgerichtet.     Die  erste  Antenne  mifst  den  10.  Theil  der  Körperlänge. 

Zweite  Antenne. 

In  der  Länge  variirt  die  zweite  Antenne  des  Weibchens  von  0T72 
bis  0^48.  Dir  Verhältnifs  zur  Körperlänge  ist  1:13.  Die  Antenne  zeigt 
die  Gestalt  eines  Homes  und  zerf&Ut  in  zwei  Theile,  einen  gebogenen 
schmalen ,  zahnartigen  Endtheil ,  welcher  mit  einer  abgesetzten  Spitze  endigt, 
und  in  einen  Basaltheil.  Das  Verhältnifs  von  Endtheil  und  Basaltheil  ist 
annähernd  constant.  Der  Basaltheil  ist  stark  aufgewölbt  und  seitwärts  ver- 
dickt.    Die  seitliche  Verdickung  tritt  fast  bei  allen  Individuen  auf. 

Auf  der  Verdickung  zeigt  das  Integument  Stachelbildungen.  Diese 
Stacheln  finden  sich  am  zahlreichsten  und  sind  am  stärksten  entwickelt  in 
den  Randpartien;  nach  der  Mitte  der  Aufwölbung  verflachen  sie  sich  und 
zeigen  in  der  Mitte  ein  aus  dem  Niveau  der  Oberfläche  der  Antenne  sich 
kaum  erhebendes  pflasterförmiges  Mosaik.  Die  Stacheln  enden  stumpf  in 
Gestalt  kleinster  Kegel. 

Zwischen  denselben  entspringt  eine  gröfsere  Zahl  von  Sinneshaaren, 
deren  Zahl  meist  15  —  25  beträgt. 

Fast  in  allen  Fällen  besitzen  die  Antennen  an  der  Basis  des  Endtheiles 
auf  der  Aufsenseite  einen  kurzen  Auswuchs  in  Gestalt  eines  abgestumpften 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach,  11 

Kegels,  auf  welchem  ein  Sinneshaar  entspringt.     Nur  wenigen  Individuen 
fehlt  dieser  Auswuchs. 

Labrum. 

Die  iJlnge  der  Oberlippe  beträgt  durchschnittlich  den  15.  Theil,  die 
Breite  den  23.  Theil  der  Körperlänge.  Bei  9*  Beaume  ist  sie  d^T^^  lang 
und  o™36  breit;  bei  24®  Beaume  or"4i  lang  und  or*2  7  breit.  Es  beträgt 
also  die  Breite  ^  der  Länge. 

Am  Ende  der  Oberlippe  heben  sich  die  seitlichen  Theile  derselben 
gegen  den  Mitteltheil  ab,  welcher  nach  innen  mehr  oder  weniger  zurück- 
springt, so  dafs  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  die  Oberlippe  zwischen  den 
Seitentheilen  eine  gröfsere  oder  kleinere  Einbuchtung  besitzt,  vereinzelt 
fehlt  dieselbe.  Auf  den  Seitentheilen  und  an  dem  Rande  der  Einbuchtung 
findet  sich  eine  grofee  Zahl  kleinster  Härchen. 

Erste  Maxille. 

Die  imterhalb  der  Oberlippe  frei  hervorragende  erste  Maxille,  deren 
lange  Borstenreihe  in  der  Mittellinie  des  Thieres  eng  an  einander  liegt, 
besitzt  eine  Durchschnittslänge  von  0T16 — o"f°i2  imd  eine  Breite  von 
0T13 — oTio.  Die  Zahl  ihrer  Borsten  ist  annähernd  constant;  im  Durch- 
schnitt 12  — 13,  im  Extrem  und  mehr  vereinzelt  10 — 15  Borsten.  Aufser 
diesen  Borsten  besitzt  jede  Maxille  einen  langen  und  ziemlich  breiten  Zacken 
neben  der  letzten  und  kleinsten  Borste.  Nach  der  Mitte  werden  die  Borsten 
länger,  welche  sämmtlich  befiedert  sind. 

Zweite  Maxille. 

Die  sehr  kleine  zweite  Maxille  besteht  aus  einer  stark  befiederten ,  langen, 
kräftigen  und  an  der  Basis  stark  verdickten  Fühlborste  und  dem  eigentlichen 
Maxillarkörper,  welcher  in  der  Mitte  eine  starke  Aufwölbung  besitzt,  aus 
deren  dicht  befiederter  Oberfläche  3 — 4  mit  feinsten  Haaren  bedeckte  kurze, 
eng  an  einander  gedrängte  Borsten  entspringen.  Die  Länge  der  zweiten 
Maxille  bis  zur  Basis  der  Fühlborste  beträgt  o"Ti6  — o°ri3,  die  Breite  bis 
zur  höchsten  Erhebung  o^To; — or"o6. 

Kieme. 

Die  Kieme,  welche  an  der  lateralen  Seite  der  Extremität  sich  distal 
an  den  Branchialanhang  anschliefst,  ist  von  ovaler  Gestalt.  Ihre  Länge 
beträgt  o".'"40 — o°^37,   ihre  Breite  0^27 — 0T24.     In  allen  Fällen  ist  das 

2* 


12  M.  Samter  und  R.  Hetmons: 

Verhältniüs  von  Länge  und  Breite  wie  3:2.  Der  Gestalt  nach  ist  die  Kieme 
also  stets  rund  oval  und  nicht  längs  oval  wie  die  der  Artemia  aus  den 
Seen  von  Odessa. 

Branchialanhang. 

Der  Branchialanhang ,  welcher  unmittelbar  an  der  Basis  der  Extremität 
entspringt,  milst  der  Länge  nach  0T3 2  bis  o°T2 1 ,  der  Breite  nach  o^Tös 
bis  o"f'46;  er  ist  also  imgefahr  doppelt  so  breit  als  lang. 

Mitteldarm. 

Die  Länge  des  Mitteldarms  — Magendarms  nach  Schm ankewitsch  — 
variirt.  In  der  Regel  erstreckt  sich  dieser  Darmabschnitt  bis  in  den  Bereich 
des  6.  Abdominalsegmentes  hinein ,  um  dort  bald  in  der  Mitte  desselben, 
bald  aber  auch  schon  vor  oder  erst  hinter  der  Mitte  des  6.  Segmentes  in 
den  Enddarm  überzugehen.  In  einigen  FäUen  reicht  der  Mitteldarm  bis 
in  das  7.  Abdominalsegment  hinein  und  gelegentlich  findet  er  auch  schon 
im  5.  Segmente  sein  Ende. 

Brutsack. 

Der  Brutsack,  welcher  an  der  Basis  des  Abdomens  entspringt,  ist 
birnfbrmig.  Seine  beiden  Seitentheile  sind  meist  flach  ausgezogen ;  mit  dem 
nach  hinten  schlauchförmig  verlängerten  Mitteltheil  deckt  er  ventral  die 
beiden  ersten  Abdominalsegmente  und  einen  Theil  des  dritten.  Erst  das 
4.  Abdominalsegment  liegt  in  allen  Fällen  frei.  Länge  und  Breite  des  Brut- 
sackes in  seiner  gröfsten  Ausdehnung  sind  annähernd  gleich.  Nach  der 
Gröfse  der  Individuen  beträgt  Länge  und  Breite   i-J-"" — ■^' 


>oim 


B.    Männchen. 

Leider  war  es  nicht  möglich,  in  dem  gleichen  ausgedehnten  Maise, 
wie  wir  diefs  bei  den  weiblichen  Thieren  gethan  haben,  auch  Männchen 
der  Artemia  salina  zur  Untersuchung  heranzuziehen,  weil  wir  von  dem 
letztern  Geschlechte  nur  ein  einziges  Individuum  in  MoUa  Kary  erbeuteten. 

Alle  unsere  Ergebnisse  über  die  Variationsverhältnisse  und  Rassen- 
eigenthümlichkeiten  können  also  aus  diesem  Grunde  streng  genommen  nur 
für  Weibchen  Gültigkeit  beanspruchen.  Für  die  Männchen  müssen  wir 
uns  eines  ürtheils  enthalten ,  wenn  natürlich  auch  wohl  keine  Zweifel  vor- 
liegen können,  dafs  bei  den  Männchen  die  Verhältnisse  genau  ebenso  liegen 
werden. 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach.  13 

Wir  beschränken  uns  darauf,  einige  der  wichtigeren  Kennzeichen  des 
in  MoUa  Kary  gefiindenen  männlichen  Thieres  mitzutheilen. 

Die  Körperlänge  beträgt  8*"™,  wovon  etwa  3"^8  auf  den  Vorderkörper, 
4T2  auf  das  Abdomen  kommen. 

Die  Abgrenzung  der  8  Abdominalsegmente  ist  deutlich.  Das  8.  Segment 
weist  etwas  vor  seiner  Mitte  lateral  2  kurze  Stacheln  auf,  läfst  aber  keine 
Abgliederung  in  2  Abschnitte  —  8.  und  9.  Segment  —  erkennen. 

Die  Furca  stinunt  in  ihrem  Bau  mit  dem  oben  fui*  das  Weibchen  an- 
gegebenen Verhalten  überein.    Jeder  Furcalast  trägt  an  seinem  distalen  Ende 

2  Borsten.    Der  rechte  Furcalast  ist  aufserdem  ungef&hr  in  der  Mitte  seiner 
medialen  Seite  noch  mit  einer  etwas  kleineren  3.  Borste  versehen. 

Die  Bauart  der  ersten  Antenne  weicht  nicht  von  derjenigen  des  Weib- 
chens ab.  Ausser  den  3  langen  Sinneshaaren  lassen  sich  2  kegelförmige 
Erhebungen  nachweisen,  von  denen  die  kleinere  mit  einem,  die  gröfsere 
mit  3  Sinnesschläuchen  besetzt  ist. 

Eine  genauere  Beschreibung  erfordert  die  zweite  Antenne.    An  ihr  sind 

3  Glieder  zu  unterscheiden,   von   denen   das   erste  —  basale  —  und  das 
zweite  gelenkig  mit  einander  verbunden  sind. 

Die  Basalglieder  sind  in  der  Medianlinie  mit  dem  Kopfi-ande  verwachsen, 
sie  besitzen  eine  Länge  von  0T95,  eine  Breite  von  oT'sS.  An  dem  proxi- 
malen Ende  der  basalen  Antennenglieder  befindet  sich  ein  nach  vom  ge- 
richteter knopffÖrmigerVorspnmg,  welcher  sich  etwa  0T09  über  die  an- 
grenzende Körperpartie  erhebt  und  dessen  Breite  0T13  beträgt.  Die  Cuti- 
cula  ist  an  diesem  knopfartigen  Vorsprunge  mit  kleinen  (Sinnes-)  Kegeln  be- 
setzt, welche  je  eine  kurze  und  feine  Borste  tragen. 

Die  Länge  des  zweiten  —  mittlem  —  Antennengliedes  beträgt  i"J°39, 
seine  Breite  an  der  Basis  o"T87.  Bemerkenswerth  ist  der  Umstand,  dafs 
die  blattförmig  erweiterte  proximale  Partie  dieses  GUedes  schwach  einge- 
krümmt ist,  und  zwar  derartig,  dafs  die  Concavität  der  Krümmung  medial- 
wärts  gewendet  ist. 

Es  schliefst  sich  das  nur  wenig  scharf  abgesetzte  dritte  Antennenglied 
an,  das  fast  die  unmittelbare  Fortsetzung  des  zweiten  Gliedes  darstellt,  und 
dessen  Länge  o°T44,  dessen  Breite  an  der  Basis  0T34  beträgt.  Dieses  Glied 
endigt  distal  mit  einer  einfachen  abgestumpften  Spitze. 

Oberlippe,  Mundwerkzeuge  und  Extremitäten  bieten  beim  Männchen 
nichts  Erwähnenswerthes. 


14  M.  Samter  und  R.  Hetmons: 

Der  Mitteldarm  reicht  bis  etwas  über  die  Mitte  des  6.  Abdominal- 
segmentes  nach  hinten. 

Die  Copulationsorgane  erreichen  im  ausgestreckten  Zustande  den  Hinter- 
rand des  3.  Abdominalsegmentes. 

C.    Zusammenfassung. 

In  der  Länge  der  Individuen,  im  Verhältnifs  von  Vorderkörper  und 
Abdomen  zu  einander,  in  der  Sculptur  der  Cuticula,  der  Zahl  der  Furcal- 
borsten,  der  Gestalt  der  Kiemen  u.  s.w.  finden  sich  einige  geringfiigige ,  aber 
constante  und  charakteristische  Abweichungen  zwischen  der  von  uns  unter- 
suchten asiatischen  Artemia-Form  und  der  von  Schmankewitsch  studirten 
Artemia  aus  Odessa  vor.  Beide  Formen  können  somit  als  zwei  verschiedene 
Local Varietäten  oder  locale  Subspecies  der  Arternia  salina  aufgefafst  werden. 


IL  über  den  Einflufs  äufserer  Factoren  bei  der  Greschlechtsbestmimimg. 

Mannliche  Artemia  salina  sind  in  Molla  Kary  bisher  nicht  gefunden 
worden.  Walter  (1888),  der  hierauf  schon  sein  Augenmerk  gerichtet 
hatte,  hebt  ausdrücklich  hervor,  dafs  er  männliche  Artemien  in  Molla  Kary 
vermifst  habe.  Wie  bereits  im  vorigen  Abschnitte  mitgetheüt  wurde,  ist 
es  auch  uns  nur  gelungen,  ein  einziges  männliches -Arfewirö- Individuum  in 
den  transkaspischen  Lagunen  zu  erlangen. 

Wir  bemerken  hierzu ,  dafSs  wir  bei  unserer  Anwesenheit  in  Molla  Kary 
an  Ort  und  Stelle  bereits  Hunderte  von  lebenden  Individuen  untersuchten, 
und  dafs  wir  femer  gleichfalls  viele  Hunderte  von  conservirten  Thieren 
nach  unserer  Rückkehr  präparirt  haben.  Eine  noch  weit  beträchtlichere 
Zahl  von  Thieren  wurde  endlich  wenigstens  oberflächlich  auf  das  Greschlecht 
hin  geprüft.  Die  Gesammtzahl  der  auf  die  Geschlechtsverhältnisse  durch- 
musterten erwachsenen  Individuen  dürfte  sich  auf  mehrere  Tausend  be- 
ziffern. Von  der  oben  erwähnten  einen  Ausnahme  abgesehen,  waren  es 
sämmtlich  Weibchen,  die  sich  in  lebhafter  parthenogenetischer  Fortpflanzung 
befanden  und  theils  Dauereier  —  Latenzeier  — ,  theils  Sommereier  —  Subitan- 
eier  —  oder  Embryonen  in  ihrer  Binittasche  enthielten. 

Die  untersuchten  Thiere  stammten,  wie  wohl  kaum  ausdrücklich  her- 
vorgehoben zu  werden  braucht,  aus  Wasser  von  sehr  verschiedenartigem  Salz- 


Die  Variationen  bei  Artemia  salma  Lexich.  15 

gehalt.  Das  männliche  Thier  wurde  in  einem  Wasserbecken  gefiuigen,  das 
eine  Concentration  von  9°  Beaume  aufwies  und  das  von  Schaaren  weiblicher 
Thiere  bevölkert  war. 

Es  ist  von  Schmankewitseh  (1877)  ^^  Meinung  ausgesprochen 
worden,  dals  man  Männchen  am  häufigsten  bei  einer  bestimmten  Varietät 
der  Artemia  aalina  —  var.  b  —  finden  solle ,  und  zwar  bei  einer  Form ,  die 
bei  der  geringsten  Concentration  des  Salzwassers  vorkommt.  Aulserdem 
aber  sollen  auch  männliche  Artemien  zu  gewissen  Zeiten  auftreten ,  besonders 
bei  bestinamter  Concentration  des  Salzwassers  und  verhältniismäüsig  schneller 
Verdampfting  desselben. 

Hiermit  würde  es  also  scheinen,  als  ob  eine  äulsere  Ursache,  der 
steigende  Salzgehalt,  einen  entscheidenden  Einfluls  auf  die  geschlecht- 
liche Differenzirung  habe.  Da  die  erwähnten  Befinde  von  Schmanke- 
witseh gelegentlich  als  instructives  Beispiel  för  die  Abhängigkeit  der 
Geschlechtsbestimmimg  von  äufseren  Factoren  genannt  und  verwerthet 
worden  sind  —  wir  verweisen  in  dieser  Hinsicht  auf  das  Lehrbuch 
von  Korscheit  und  Heider  (1902,  S.  380),  so  glauben  wir  auf  diesen 
Punkt  etwas  näher  eingehen  zu  müssen.  Allerdings  sind  wir  nicht  in 
der  Lage  gewesen,  die  Schmankewitseh 'sehen  Befimde  in  vollem 
Umfange  nachzuuntersuchen,  und  sie  namentlich  dahingehend  zu  prü- 
fen, ob  in  ganz  schwach  salzigem  Wasser  die  Männchen  häufig  sind. 
Es  ist  diels  deswegen  unmöglich,  weil  wir  die  von  Schmankewitseh 
beschriebene  Varietas  b  in  MoUa  Kary  überhaupt  nicht  angetroffen 
haben. 

In  dieser  Beziehimg  müssen  wir  uns  also  eines  Urtheils  enthalten. 
Dagegen  scheint  es  uns  nicht  zutreffend  zu  sein,  wenn  auf  Grund  der 
Schmankewitsch'schen  Ergebnisse  die  Sache  so  einfach  dargestellt  wird, 
daüs  eine  bestimmte  Concentrationsstufe  des  Salzwassers  für  die  Entstehimg 
männlicher  Thiere  bei  Artemia  mafsgebend  sei. 

Wenn  wirklich  der  steigende  Salzgehalt  des  Wassers  der  entscheidende 
Factor  für  die  Production  männlicher  Thiere  sein  würde,  so  wäre  in  den 
zahlreichen  und  zum  Theil  bis  zum  Selbstabsatz  von  Salz  concentrirten 
Wasserbecken  von  Molla  Kary  wohl  für  das  Auftreten  einer  Anzahl  männ- 
licher Thiere  in  vielen  Fällen  die  geeignete  Gelegenheit  geboten  gewesen. 
Unserer  Aufmerksamkeit  hätten  die  männlichen  Thiere  sicherlich  nicht  ent- 
gehen können,  und  ihr  Fehlen  in  den  betreffenden  Wasserbecken,  das  wir 


16  M.  Samter  und  R.  Heymons: 

demnach  mit  Bestimmtheit  behaupten  können,  lafst  also  nur  den  Schluis 
zu,  dafe  das  Salz  allein  nicht  den  entscheidenden  Einflufs  bei  der  Geschlechts- 
differenzirung  besitzt. 

Im  Anschlufs  hieran  mag  bemerkt  werden,  dafs  die  Fortpflanzungs- 
erscheinungen von  Artemia  sich  allem  Anscheine  nach  im  Rahmen  der- 
jenigen Erscheinungen  bewegen,  die  wir  von  zahlreichen  anderen,  sich 
auch    theüweise    parthenogenetisch    fortpflanzenden    Thierformen    kennen. 

Wir  erinnern  nur  an  die  bekannten  Beobachtungen  an  Cladoceren 
und  Rotatorien.  Auch  bei  ihnen  glaubte  man,  das  Auftreten  bestimmter 
Fortpflanzungscyklen  in  erster  Linie  auf  äufserlich  einwirkende  Ursachen 
zurückfuhren  zu  können.  So  soll  bei  Hydatina  nach  Maupas  die  niedrige 
Temperatur,  nach  Nufsbaum  dagegen  die  mangelhafte  oder  ungenügende 
Ernährung  der  jugendlichen  Weibchen  das  Auftreten  männlicher  Thiere 
begünstigen.  Diese  Befunde  sind  aber  noch  fraglich,  denn  nach  den  Unter- 
suchungen von  Lauterborn  (1898)  ist  bei  den  limnetischen  Rotatorien 
der  Eintritt  der  Sexualperioden  keineswegs  nur  auf  direct  wirkende  äußere 
Ursachen  zurückzuführen,  sondern  er  hängt  in  erster  Linie  von  inneren, 
jeweilig  mit  dem  Entwickelungsgange  der  betreflfenden  Species  in  Zu- 
sammenhang stehenden  Ursachen  ab. 

Die  Bedingungen  für  die  Periodicität  der  parthenogenetischen  und 
gamogene tischen  Generationen  bei  den  Cladoceren  sind  ebenfalls  trotz  aller 
der  darauf  gerichteten  Ursachen  noch  nicht  in  ihrem  eigentlichen  Wesen 
klar  gelegt,  es  ist  im  allgemeinen  wenigstens  nicht  möglich  gewesen,  das 
Auftreten  der  Fortpflanzungscyklen  mit  Sicherheit  allein  auf  äulsere  Ur- 
sachen zurückzufuhren.  Nur  in  den  eisigen  Gewässern  der  hochalpinen 
Regionen  sowie  in  den  Gewässern  des  hohen  Nordens  pflegt  die  zwei- 
geschlechtliche Fortpflanzung  regelmäfsig  mit  parthenogenetischer  zu  alter- 
niren  (Zschokke  1901),  so  dafs  hier  Klima  und  Jahreszeiten  die  Fort- 
pflanzungsweise bestimmen. 

Um  noch  einen  Fall  aus  dem  Insectenreiche  zu  erwähnen,  so  sei 
bemerkt,  dafs  nach  Uzei  (1895)  bei  manchen  Thysanopterenarten  eine 
bestimmte  Gesetzmäfsigkeit  in  den  Fortpflanzungscyklen  in  keiner  Weise 
nachweisbar  ist,  indem  bei  manchen  Arten  die  parthenogenetische  Fort- 
pflanzung »ganze  Jahre  hindurch  andauern  kann,  bis  sich  einmal  zuföUig 
zwischen  die  unzähligen  parthenogenetischen  Generationen  eine  Generation 
einschiebt,  welche  aus  befruchteten  Eiern  entstand«. 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach,  17 

Wir  sind  weit  davon  entfernt ,  diese  Beispiele  zu  verallgemeinerny 
sondern  wollen  damit  nur  betonen,  dals  man  im  allgemeinen  Bedenken 
tragen  mufs,  das  zeitweilige  Auftreten  m&nnlicher  Individuen  bei  vorzugs- 
weise parthenogenetisch  sich  fortpflanzenden  Thieren  ohne  weiteres  diesen 
oder  jenen  äu&eren  Lebensbedingungen  zuzuschreiben. 

Die  Erörterungen  von  Hertwig  (1899)  über  die  geschlechtliche  und 
ungeschlechtliche  Fortpflanzung  lassen  vielleicht  einen  Vergleich  mit  den 
Protozoen  als  zulässig  erscheinen.  Gerade  wie  bei  den  Protozoen  die  Noth- 
wendigkeit  vorliegt,  zeitweise  den  Bau  ihres  einzelligen  Körpers  durch 
Befruchtung  zu  reorganisiren ,  so  ist  wohl  zweifellos  auch  bei  allen  Metazoen 
die  zeitweilige  Vermischung  der  Idioplasmen  zweier  Individuen  mittels  Eizelle 
und  Samenzelle  för  den  dauernden  Fortbestand  der  Art  erforderlich,  und 
es  wird  hiermit  sogar  bei  den  typisch  parthenogenetisch  sich  fortpflanzenden 
Thieren  das  gelegentliche  Auftreten  gamogenetischer  Generationen  noth- 
wendig  und  verständlich. 

Bei  Anpassung  der  parthenogenetischen  Thiere  an  eine  ganz  bestimmte 
Lebensweise  unter  in  streng  gesetzmäfsigem  Wechsel  sich  wiederholenden 
äufseren  Lebensbedingungen  —  Jahreszeiten,  Futterwechsel  —  kann  das 
geschilderte  Verfahren  sehr  leicht  zu  einem  rhythmischen  und  regelmSfsigen 
Cyklus  von  parthenogenetischen  und  gamogenetischen  Generationen  führen  — 
z.  B.  Cladoceren  der  alpinen  und  borealen  Region,  Aphiden  — ,  und  es 
ist  möglich,  daüs  hiermit  thatsächlich  äuiäere  Factoren  einen  gewissen, 
wenn  auch  niu*  secundären  Einflufs  auf  die  Geschlechtsbestimmung  aus- 
üben können. 

In  anderen  Fällen  dagegen,  und  zwar  wahrscheinlich  namentlich  dann, 
wenn  die  äufseren  Lebensverhältnisse  weitergehenden  imd  verschiedenartigen 
Schwankungen  unterworfen  sind,  hat  sich  aber  eine  derartige  Periodicität 
noch  nicht  genügend  befestigt,  und  das  gelegentliche  Auftreten  begattungwS- 
fähiger  Individuen  erfolgt  in  unregelmäfsigen  Intervallen  gerade  so,  wie  das 
Auftreten  sich  conjugirender  Protozoenindividuen  an  keine  bestimmte  Zeit 
und  an  keine  bestinmite  äufsere  Ursache  gebunden  zu  sein  braucht. 

Eine  eigentliche  Erklärung  können  wir  in  diesen  Fällen  in  der  Regel 
ebensowenig  wie  bei  den  Conjugationen  der  Protozoen  geben ,  sondern  das 
zeitweilige  Auftreten  copulationsfahiger  oder  richtiger  gesagt  copulations- 
bedürftiger  Nachkommenschaft  auch  bei  den  Metazoen  nur  inneren,  in 
der    specifischen   Organisation    der   betreffenden    Thiere   beruhenden    und 

Phys.  Abh,  nicht  zur  Äkad.  gehör.  Gelehrter,    1902,    IL  3 


18  M.  Samtkr  und  R.  Heymons: 

uns  ihrem  eigentlichen  Wesen  daher  noch  unverständlichen  Ursachen  zu- 
schreiben. 

Äufeere  Factoren  gewinnen  in  diesen  Fällen  erst  dadurch  eine  gewisse 
Bedeutung,  dafe  eben  die  gesammte  Constitution  des  Thieres  bereits  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  sich  modificirt  hat.  Die  äuDseren  Bedingungen 
sind  die  gleichen,  sie  waren  sogar  schon  früher  auch  in  dei-selben  In- 
tensität vorhanden,  sie  können  aber  erst  dann  einen  Einflufs  auf  die 
Zeugungsvorgänge  ausüben,  wenn  nach  langen  Reihen  gleichmäfsiger 
Generationen  die  Beschaffenheit  der  Thiere  selbst  in  irgend  einer  für  uns 
nicht  erkennbaren  Weise  sich  geändert  hat. 

Soweit  sich  die  Dinge  zur  Zeit  beurtheilen  lassen,  scheint  sich 
Artemia  der  letztgenannten  Kategorie  von  Organismen  anzureihen,  bei 
denen  wohl  irgend  eine  Gesetzmäfeigkeit  in  dem  Einfluls  äufserer  Factoren 
auf  die  Geschlechtsbestimmung  nicht  nachweisbar  und  erkennbar  ist. 

Abgesehen  hiervon,  müssen  wir  es  aber  auch  noch  Ar  auJGserordent- 
lieh  zweifelhaft  halten,  ob  das  auslösende  Moment  zur  Erzeugung  getrennt 
geschlechtlicher  Individuen  bei  Artemia  gerade  in  einer  bestimmten  Con- 
centrationsstufe  des  Salzwassers  zu  erblicken  ist. 

DaSchmankewitsch  gar  nicht  angegeben  hat,  welche  Concentrations- 
stufe  bei  zunehmendem  Salzgehalte  die  entscheidende  sein  soll,  so  sind  wir 
zwar  nicht  in  der  Lage,  seinen  Angaben  direct  widersprechen  zu  können, 
wir  hielten  es  aber  angesichts  des  Interesses,  welches  diesem  Gegenstande 
zweifellos  doch  zukommt,  für  angebracht,  unsere  eigenen  negativen  Befunde 
in  dieser  Hinsicht  hervorzuheben. 


IIL  DieYariationserscheinimgen  der  weiblichen  Artemia  von  MollaEary. 

Die  Zahl  der  Salzseen  und  Salztümpel,  denen  wir  in  Molla  Kary  Artemien 
entnahmen,  betrug  fünfzehn.  In  demselben  Gebiete  befanden  sich  noch 
einige  Tümpel,  in  welchen  keine  Artemien  lebten.  Der  Salzgehalt  dieser 
Tümpel  betrug  nur  i*^Beaume.  Mit  dem  Steigen  der  Concentration ,  welche 
in  den  betreffenden  Seen  und  Tümpeln  herrschte,  stieg  auch  die  Zahl  der 
in  ihnen  lebenden  Individuen,  um  zwischen  lo®  und  24*^  Beaume  ihr  Maxi- 
mum zu  erreichen.  Obwohl  im  allgemeinen  mehr  Individuen  aus  stark- 
salzigem als  aus  schwachsalzigem  Wasser  xmtersucht  werden  konnten,  so 


Die  Variationen  bei  Artemia  saUna  Leach.  19 

genügt  dennoch  die  Zahl  der  letzteren  vollkommen,  um  den  deutlichen 
Beweis  zu  liefern,  dals  eine  gleichmäCsige  Stufenleiter  der  Abänderungs- 
erscheinungen bei  der  Artemia  in  Abhängigkeit  von  dem  Grade  der  Salz- 
concentration  zu  constatiren  ist. 

Es  nimmt  in  steigender  Concentration  die  Länge  des  Körpers 
schrittweise  ab;  das  Abdomen  wird  relativ  länger,  indem  das  Ver- 
hältnifs  von  Vorderkörper  und  Abdomen  sich  ändert.  Auch  an 
den  einzelnen  Abdominalsegmenten  läfst  sich  die  Verlängerung 
derselben  auf  das  bestimmteste  nachweisen,  wie  wenigstens  ge- 
naue Messungen  des  6.  bis  8.  Abdominalsegmentes  zeigen.  Die 
Furca  wird  relativ  und  absolut  kleiner,  die  Zahl  der  Furcal- 
borsten  nimmt  von  Grad  zu  Grad  ab,  die  Kiemen  werden  relativ 
gröfser,  der  Mitteldarm  schliefslich  kürzer. 

Es  ist  besonders  hervorzuheben,  dafe  diese  Anpassungserscheinungen 
nicht  an  jedem  einzelnen  Individuum  m  gleichem  Mafse  hervortreten, 
sondern  dafs  sie  nur  im  allgemeinen  fär  die  Summe  der  Individuen  aus 
einer  und  derselben  Concentrationsstufe  zutreffen.  Es  ändert  sich  also  nicht 
das  Individuum  mit  allen  seinen  in  Betracht  kommenden  Charakteren  gleich- 
mälsig  und  auf  einmal  ab. 

In  einem  See  oder  Tümpel  einer  bestimmten  Concentration  zeigen  in 
Folge  dessen  auch  durchaus  nicht  alle  Individuen  unter  sich  genau  den 
gleichen  Grad  der  Anpassung  durch  gleichmäisige  Umgestaltung  aller  ihrer 
Charaktere.  Sie  stellen  durchaus  keine  einheitliche  Colonie  dar,  welche  sich 
von  den  Thieren  aus  Salzwasser  von  anderen  Concentrationen  unterscheidet, 
und  es  kommt  somit  in  den  Seen  und  Tümpeln  verschiedenen  Concentrations- 
grades  auch  niemals  zur  Entstehung  verschiedener,  von  einander  streng  zu 
sondernder,  different  gestalteter  Varietäten.  In  jeder  Concentration  kommen 
vielmehr  alle  möglichen  Übergänge ,  alle  möglichen  Variationserscheinungen 
der  in  Betracht  gezogenen  Charaktere  vor,  so  dafs  bei  der  ersten  Prüfung 
eine  Abhängigkeit  der  Thierform  von  der  Salzconcentration  scheinbar  gar 
nicht  nachzuweisen  ist. 

Die  Messung  des  Salzgehaltes  wurde  na<5h  dem  Vorgange  von  Schm an- 
kewitsch mit  einer  Beaume- Spindel  vorgenommen,  trotz  der  Nachtheile, 
welche  diese  Art  der  Bestimmung  nothwendig  mit  sich  bringt.  Die  bei 
einer  Temperatur  von  30*^  C.  aufgenommenen  Werthe  wm-den  auf  15®  C. 
umgerechnet. 


20 


AL  Samter  und  R.  Heymons: 


Körpergröfse. 

Um  die  Abhängigkeit  der  Eörperlänge  von  der  Concentration  nach- 
zuweisen, wurden  im  ganzen  257  Individuen  untersucht.  Es  wurden  bei 
allen  Untersuchungen  nur  geschlechtsreife  Weibchen  berücksichtigt,  welche 
Eier  trugen. 

Am  linken  Rande  der  ersten  Tabelle  stehen  die  Goncentrationsgrade 
nach  Beaume  unter  einander.  Am  Kopfe  derselben  findet  sich  die  Thierlänge 
in  Millimetern,  ima  Viertelmillimeter  steigend,  von  s""""  bis  10T50.  Die 
Zahlen  innerhalb  der  Tabelle  geben  die  Zahl  der  Individuen  an,  welche  bei 
der  betreffenden  Concentration  die  entsprechende ,  obenstehende  Körperlänge 
besagen. 


Beobachtete  Werthe  für  die  Korperlänge  der  Individuen  nach  dem  Grade 

der  Concentration. 


5 

5-25  5-50 

5-75 

6 

6.25 

6.50 

6.75 

7 

I 
7-25  7.50 

7-75 

8 

8.35 

8.50 

8.75 

9 

9.25 

9.50 

10 

10.50 

8 

I 

I 

2 

5 

I 

I 

9 

3 

I 

1 

4 

4 

2 

2 

' 

I 

10 

I 

6 

17 

II   14 

14 

5 

4 

i 

15 

:  I 

2 

2 

4 

II 

4 

9 

5  ,  3 

7 

4 

2 

I 

1 

23 

I 

I 

2 

5 

6 

5 

2 

i 

1 

24 

I 

9 

12 

20 

IS 

8 

6 

4 

5  . 

Es  wurden  demnach  untersucht: 

aus     i®=     I  Expl. 
»       8   =  10      » 
»       9=17      » 

»  10  =  72      » 

»     15   =  55      » 
»     23   ^  22      » 

»       24    =:  80        » 

Hieraus  geht  hervor,  dafs  wir  in  MoUa  Kary  die  absolut  gröfsten 
Individuen  der  Artemia  salino  im  schwächer  salzigen  Wasser,  die  kleinsten 
Individuen  im  stärker  salzigen  Wasser  angetroflfen  haben. 

Auch  relativ  besitzt  die  Mehrzahl  der  Individuen  im  Salzwasser  niedei-er 
Concentration  eine  bedeutendere  Körperlänge,  als  im  Walser  von  höherm 
Salzgehalt. 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach.  21 

Um  einen  leichtem  Überblick  zu  ermöglichen,  haben  wir  auf  Grund 
unserer  Ergebnisse  noch  die  durchschnittlichen  Werthe  berechnet.  Es  er* 
gibt  sich  folgendes  Resultat: 

Berechnete  Werthe  für  die  K5rperlänge  der  Individnen  nach  dem  Grade 

der  Concentration. 

mm 

Bei     1®  =  9.50 

8  =8.45 

9  =8.26 

10  =7-39 

15  =7.01 

23  =6.15 

24  =6.17. 

Diese  Werthe  zeigen  deutlich,  dafis  bei  steigender  Concentration  die 
Eörperlänge  abnimmt.  Naturgemäfs  können  diese  Zahlen  nicht  exact  sein, 
da  die  Zahl  der  Individuen  ftkr  jede  untersuchte  Concentration  verschieden 
ist,  und  nur  diejenigen  Zahlen  dem  wirklichen  Werthe  näher  kommen,  welche 
auf  die  gröfste  Zahl  der  untersuchten  Individuen  sich  stützen.  Da  jedoch  die 
Fehlerquelle  nur  die  erste  Decimale  trifft,  so  wird  hierdurch  das  Gesetz  selbst 
in  keiner  Weise  berührt. 

Wenn  sich  nun  constatiren  läfst,  dafs  die  Steigerung  der  Concen- 
tration eine  Verkleinerung  der  Individuen  hervorruft,  so  zeigt  zugleich  die 
Tabelle,  dafs  dieser  Einflufs  nicht  gleichmäfsig  auf  sämmtliche  Individuen 
wirkt ,  da  innerhalb  derselben  Concentration  die  Körperlänge  stark  variirt. 

Wir  müssen  daher  den  Satz  bezüglich  der  Einwirkung  der  Concentration 
auf  die  Körperlänge  dahin  formuliren ,  dafs  bei  der  Summe  der  Individuen 
eine  Beeinflussung  der  Körperlänge  nach  der  Concentration  zu  Tage  tritt. 
Der  Einflufs  der  Salzconcentration  auf  die  Grölse  des  Thieres  ist  bedeutend, 
denn  von  i®  bis  24^  Beaume  verliert  dasselbe  ungefähr  -J-  seiner  ursprüng- 
lichen Länge.  Der  mittlere  Werth  fiir  die  Concentration  von  i®  ist  wahr- 
scheinlich höher  als  9T50.  Schmankewitsch  hat  den  gleichen  Grad 
der  Einwirkung  auf  die  Thiergröfse  berechnet,  da  nach  ihm  dieselbe  von 
14""  auf  10"°*  zurückgeht. 

Länge  des  Abdomens. 

Um  die  Abhängigkeit  der  Abdominallänge  vom  Salzgehalt  festzustellen, 
wurde  fiir  jedes  Individuum  und  für  jeden  Concentrationsgrad  die  Differenz 
berechnet,  um  welche  das  Abdomen  länger  oder  kürzer  ist  als  der  Vorder- 


22  M.  Sahteb  und  R.  Hethons: 

körper.  Alsdann  wurde  för  jedes  Individuum  das  Verhfiltni6  der  abdo- 
minalen Difforenz  zur  KörperUUige  berechnet.  Durch  diese  VerhftltzüiszBlilen 
müssen  selbst  kleine  Abänderungen  deutlicher  zum  Ausdruck  kommen,  als 
durch  Zahlen,  welche  das  Verhältnils  von  Abdomen  und  Vorderkörper  aus- 
drücken. 

Die  Zahlen ,  welche  in  der  ersten  Columne  unter  einander  stehen ,  geben 
wiederum  den  Concentrationsgrad  an,  die  Zahlen  am  Kopfe  der  Tabelle  den 
Theil,  welchen  die  betreffende  Abdominaldifferenz  in  Bezug  auf  die  Körper- 
Ulnge  miJ^t,  die  Zahlen  innerhalb  der  Tabellen  selbst  die  Zahl  der  Individuen, 
welche  bei  der  betreffenden  Concentration  das  oben  angefahrte  Verhftltnifs 
zeigen. 

Es  wurden  260  Individuen  auf  die  Lftnge  des  Abdomens  untersucht. 

Beobachtete  Werth«  far  den  Lftngenunterschied  iwischea  Vorderkdrper  und 
Abdomen  gemessen  nach  der  Körperlinge. 


Es 

wurden 

demnach  tmtersucht; 

aus     i*  = 

I  Expl. 

.       8    = 

21        - 

"     10    = 

103        - 

.     15    = 

60        . 

"     24    = 

75     ■ 

hl. 

te  Werth 

ffl 

den  Llngenuntersc 
nach  dem  Gr»de  d 

hiod  zwischen  V 
er  Concentratio 

Bei     t"  =  den  19.  Theil  der  KörpeHinge 

-      8  =    -     13 

.     10  =    .     13 

-      15   =    •      13 

-     34  =    .     11 

r  und  Abdomen 


Nach  diesen  Werthen  ist  eine  Gröfsenzunahme  des  Abdomens  bei 
steigender  Concentration  vorhanden;  sie  bewegt  sich  jedoch  in  einem  sehr 
engen  Rahmen,  denn  von  15*  bis  24*  tritt  keine  Steigerung  ein,  von  10"  bis  15' 


Die  Variationen  bei  Artemia  ealina  Leach. 


23 


aber  beträgt  sie  nur  die  Differenz  zwischen  dem  13.  und  12.  Theil  der 
Eörperlänge,  welche  diesen  Concentrationen  entspricht. 

Wenn  das  ZahlenverhSltniTs  för  8^  einen  Schlufs  gestattet,  dann  ist 
auch  zwischen  8  und  10®  keine  Differenz  zu  constatiren.  Selbst  wenn  sie 
aber  auch  noch  höher  anzuschlagen  wäre»  so  wäre  trotzdem  keine  bedeu- 
tende Verschiedenheit  in  dem  Verhältnifs  vom  Vorderkörper  zum  Abdomen 
bei  8®  und  10®  Beaume  vorhanden. 

Es  ist  sicher»  dafis  bei  dem  von  uns  untersuchten  Material  von  MoUa 
Kary  das  Abdomen  zum  Vorderkörper  nicht  in  dem  starken  Mafse  nach 
der  Salzconcentration  variirt»  wie  wir  diefs  nach  den  Untersuchungen 
von  Schm ankewitsch  hätten  annehmen  sollen.  Während  nach  seinen 
Angaben  das  Verhältnils  von  Vorderkörper  zum  Abdomen  in  den  Grenzen 
von  15:18  bis  15 :  30  väriirt,  schwankt  das  Verhältnils  von  Vorderkörper 
und  Abdomen  bei  der  Artemia  aus  MoUa  £[ary  zwischen  16:18  bis  16:19. 

Um  weitere  Belege  für  die  Abhängigkeit  der  Abdominallänge  von  dem 
Grade  der  Concentration  zu  gewinnen,  schien  es  uns  von  Wichtigkeit  zu 
sein,  die  drei  letzten  Abdominalsegmente  einzeln  zu  messen  und  sie  in 
Relation  ziu*  Körperlänge  zu  bringen. 

Die  Messungen  wurden  selbstverständlich  sänmitlich  unter  dem  Mikro- 
skop vorgenommen  und  bis  auf  o™ooi  berechnet. 

Länge  des  6.  Abdominalsegmentes. 

Es  wurden  123  Individuen  auf  die  Länge  des  6.  Abdominalsegmentes 
untersucht.  Die  Zahlen  am  Kopfe  der  Tabelle  geben  wie  in  den  folgenden 
Tabellen  den  Theil  der  Körperlänge  an,  welchen  das  betreffende  Abdominal- 
segment beträgt.  Ebenso  zeigen  die  Zahlen  innerhalb  dieser  wie  der  folgenden 
Tabellen  die  Anzahl  der  Individuen  an,  welchen  bezüglich  des  betreffenden 
Abdominalsegmentes  die  obenstehenden  Längenmafse  zukommen. 

Beobachtete  Werthe  für  die  Länge  des  6.  Abdoroinalsegmentes  nach  dem  Grade 

der  ConcentratioB. 


Vxo 

'/„ 

V" 

V.3 

Vx4 

VrS 

V.6 

'Ar    . 

V.e 

I* 

1 

8 

2 

4 

2 

9 

2 

2 

8 

4 

2 

I 

10 

2 

8 

16 

4 

2 

15 

6 

9 

10 

7 

I 

24 

2 

5 

II 

6 

2 

4 

24 


M.  Samter  und  R.  Hetmons: 


Es  wurden  demnach  untersucht: 

aus     1^  =     I  Expl. 
»8^8» 
»      9   =  19     » 

»     10   =  32      » 

»     15    =  33      • 
»    24   =  30     » 

In  den  Concentrationen  von  i®  bis  15®  fehlen  dem  6.  Abdominalsegmente 
die  Verhältnisse  1:10  und  i:ii,  in  den  Concentrationen  von  10®  und  15° 
die  Verhältnisse  1:17  und  1:18,  in  der  Concentration  von  24®  die  Ver- 
hältnisse i:i6  bis  1:18.  In  schwachen  Salzconcentrationen  hat  demnach 
Artemia  ein  relativ  kürzeres  6.  Abdominalsegment  als  in  starken  Salzconcen- 
trationen. Noch  deutlicher  wird  dieser  Umstand,  wenn  wir  aus  der  Summe 
der  beobachteten  FäUe  fiir  jede  Concentration  den  mittlem  Werth  bestimmen. 

Berechnete  Werthe  für  die  Länge  des  6.  Abdominalsegmentes  nach  dem  Grade 

der  Concentration. 

Bei     i^  =  den  i8.      Theil  der  Rörperläuge 


8  = 

9  = 
10  = 

15   = 


14.26. 

»387. 
«3-63. 


Abdominalsegment  relativ  länger. 


•    24  =  ••    12.43.    " 

Mit  steigender  Concentration  wird  das  6. 

Zu  gleicher  Zeit  ist  in  jeder  Concentration  eine  Variation  in  weitem 
Umfange  vorhanden. 

Es  besteht  nur  die  Tendenz  der  Verlängerung,  abhängig  von  der 
Steigerung  der  Concentration.  Die  Tendenz  tritt  aus  der  Summe  der  In- 
dividuen deutlich  zu  Tage. 

Die  nämlichen  Gesetze  gelten  auch  fiir  die  beiden  letzten  Abdominal- 
segmente. 

Beobachtete  Werthe  für  die  Länge  des  7.  Abdominalsegmentes  nach  dem  Grade 

der  Concentration. 


V- 

V" 

V" 

Vx3 

Vw 

'As 

Vx6 

Vx7 

Vx8 

Vx9 

I* 

I 

8 

2 

I 

4 

I 

9 

6 

IG 

4 

2 

IG 

3 

8 

14 

6 

I 

15 

3 

4 

6 

II 

8 

I 

24 

I 

2 

2 

5 

IG 

7 

5 

I 

I 

Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leajch. 


25 


Es  wurden  demnach  untersucht: 

aus     1°  =     I  Expl. 
»      8    =    8      » 

»9=22        » 

»     lo   =  32     » 

»     15    =  33      » 
»     24   =  34     » 

In  steigender  Concentration  wird  das  7.  Abdominalsegment  länger. 
Es  variirt  innerhalb  der  einzelnen  Concentrationen. 

Berechnete  Werthe  für  die  Länge  des  7.  Abdominaleegmentes  nach  dem  Grade 

der  Concentration. 

Es  mifst  das  7.  Abdominalsegment : 

bei     i*^=:den  19.      Theil  der  Rörperl&nge 


.      8  =    - 

►       17.50.       . 

.        9    =:     . 

•       15.09.       • 

•      10    =s     • 

1       14.81.       •          • 

•      15    =     • 

•       14.60.       • 

.      24    =     . 

.       14.14.       • 

Beobachtete  Werthe  fflr  die  L&nge  des  8.  Abdominalsegmentes  nach  dem  Grade 

der  Concentration. 


Vt 

v« 

V9 

V- 

V" 

!• 

I 

8 

2 

4 

3 

I 

9 

4 

10 

20 

»5 

5 

21 

8 

24 

18 

29 

4 

Es  wurden  untersucht: 


aus     I"  = 


I«» 

= 

I 

Expl. 

8 

= 

10 

» 

9 



34 

» 

15 

sz: 

34 

i> 

24 

=r 

51 

« 

Berechnete  Werthe  für  die  Länge  des  8.  Abdominalsegmentes  nach  dem  Grade 

der  Concentration. 
Es  miist  das  8.  Abdominalsegment: 

bei     i"  =  den  10.      Theii  der  Körperlänge 

•  8  =    •       9*30.      " 

•  9  ^    •       8.47.      • 

•  15  s=    •       8.08.      • 

•  24  s    •       7.72.      • 

Thys,  Abh.  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter.   1902,   IL 


26 


M.  S  A  M  T  £  R  und  R.  H  £  Y  M  O  N  s : 


Lassen  wir  den  filr  die  Concentration  von  i°  gültigen  Werth  unbe- 
rücksichtigt, so  variirt  nach  den  gefundenen  Werth  en  in  einer  Concentra- 
tion von  8®  bis  24®  Beaume  die  Länge  des 

6.  Abdominalsegmentes  vom  15.  bis  i2.Theil  der  Körperlänge 

7.  »  »     17«    •    14'      »         »  » 

8.  »  »       9.    »      7.      »  •      » 

imd  zwar  ist  die  Variation  abhängig  vom  Concentrationsgrad.  Läfst  sich 
somit  auch  im  einzelnen  constatiren,  dafs  bei  steigender  Concentration  die 
drei  letzten  Abdominalsegmente  relativ  an  Länge  zunehmen,  so  ist  zugleich 
auch  im  einzelnen  der  geringe  Grad  dieser  Zunahme  nachgewiesen. 

Es  läfst  sich  demzufolge  an  der  Artemia  von  MoUa  Kary  nicht  dieselbe 
Gröfsenzunahme  in  der  Länge  des  Abdomens  nachweisen,  wie  diefe  fiir  die 
Artemia  salina  der  Fall  ist,  welche  Schmankewitsch  untersucht  hat. 


Furca. 

Auch  die  Furca  ist  der  Einwirkung  der  Salzconcentration  imterworfen, 
in  der  Weise,  dafs  sie  bei  steigender  Concentration  an  Länge  sehr  stark 
abnimmt. 

Die  Verkleinerung  der  Furca  in  Folge  starkem  Salzgehaltes  ist  im 
allgemeinen  eine  sehr  viel  wesentlichere  und  weit  mehr  aufifallige,  als 
die  entsprechende  Verlängerung  der  Abdominalsegmente  aus  derselben  Ur- 
saxjhe.  Allerdings  mufs  hinzugefugt  werden,  dafs  auch  die  FurcaUänge, 
ähnlich  wie  diefs  für  die  übrigen  Cliaraktere  zutrifft,  durchaus  nicht  bei 
allen  Individuen  ausnahmslos  in  genau  dem  gleichen  Mafse  von  dem  Ein- 
flüsse des  Salzgehaltes  abhängig  ist. 

Die  Länge  der  Furca  wurde  im  Vergleich  zur  Länge  des  8.  Abdo- 
minalsegmentes gemessen.  Die  Zahlen  an  der  Spitze  der  Tabelle  geben 
den  jeweiligen  Theil  der  FurcaUänge  im  Vergleich  zur  Länge  des  ge- 
nannten Segmentes  an. 

Beobachtete  Werthe  für  die  Länge  der  Furca  nach  dem  Grade  der  Concentration. 


V3 

'A 

Vs 

'A 

V7 

Vs 

V9 

'Ao 

V" 

V" 

V.3 

Vrs 

V16  i  V'8 

V« 

1/ 

/29 

8° 

12 

6 

4 

2 

10 

7 

'7 

34 

3> 

8 

3 

15 

4 

17 

16 

5 

I 

4 

2 

3 

I 

I 

I 

I 

24 

' 

II 

23 

15 

18 

5 

4 

4 

1 

I 

I 

I 

Die  Vcttiatianen  bei  Artemia  salina  Leach. 


27 


Es  wurden  untersucht: 


aus 

8*» 

^ 

24 

FuTcaläste 

» 

lO 

= 

100 

» 

» 

15 

= 

56 

• 

» 

24 



85 

» 

Berechnete  Werthe  für  die  L&nge  der  Furca  nach  dem  Grade  der  Concentration. 

1£a  miist  die  Forca: 

bei    8®  SS  den  3.83.  Theil  des  8.  Abdominalsegmentea 

•  10  SS    •     6.25>      •         •  • 

•  15   =s    •     7»'4'     •        •  • 

•  34  =    •     7.57.      •        •  • 

Furcalborsten. 

Mit  zunehmender  C!oncentration  nimmt  die  Zahl  der  Furcalborsten  ab. 
Die  Anzahl  der  Furcalborsten  wird  durch  die  Zahlen  oben  über  der  Tabelle 
angegeben.  Die  Zahlen  innerhalb  der  Tabelle  geben  die  Häufigkeit  des 
Vorkonunens  der  betreffenden,  am  Kopfe  der  Tabelle  stehenden  Borsten- 
zahl bei  der  betreffenden  Concentration  an. 


Beobachtete  Werthe  für  die  Zahl  der  Furcalborsten  nach  dem  Grade 

der  Concentration. 


0 

I 

3 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

IG 

1» 

I 

I 

8 

I 

3 

I 

I 

I 

I 

I 

9 

3 

6 

4 

13 

8 

4 

IG 

3 

4 

IG 

17 

'5 

6 

4 

3 

3 

3 

I 

15 

1 

6 

8 

18 

18 

9 

3 

I 

24 

I 

4 

19 

30 

13 

4 

I 

Es  wurden  untersucht: 


aus     i^'ss 
»      8   = 


» 


9 
10 

24 


2  Expl. 

8 

36 

65 
64 

71 


28  M.  Saht  ER  und  R.  Heymons: 

Berechnete  Werthe  fflr  die  Zahl  der  Furcalborsten  nach  dem  Grade 

der  Concentration. 

Jeder  der  beiden  Furcaläste  besitzt: 

bei     i^  =  4.50  Borsten 
.      8  =  5.25 

•  9  =383 

•  10    s  3.80  • 

•  15  =340 

•  24    s=  2.9t  • 

Abgesehen  von  der  Variabilität  innerhalb  derselben  Concentration  hängt 
die  Zahl  der  Borsten  von  dem  Salzgehalt  ab.  Selbst  in  den  Concentrationen 
niederer  Grade  zeigen  sich  durchschnittlich  nicht  so  viel  Borsten,  wie 
Schmankewitsch  für  die  von  ihm  untersuchte  Artemia  gefunden  hat. 
Die  Einwirkung  des  Concentrationsgrades  ist  daher  bei  der  Artemia .  aus 
Molla  Kary  nicht  sehr  grofs. 

Kieme. 

Auch  Ar  die  Kieme  ist  eine  Verschiedenheit  in  der  Einwirkiuig  der 
gleichen  CJoncentration  nach  der  Verschiedenheit  der  Localität  hervorzu- 
heben. Nehmen  wir  hierauf  zunächst  keine  Rücksicht,  so  zeigen  unsere 
Aufstellungen,  daßs  die  Kieme  mit  steigender  Concentration  eine  Gröfsen- 
zunahme  erfahrt.  Sie  wird  zugleich  breiter  und  länger.  Breite  und  LAnge 
sind  nach  unseren  Befunden  an  der  Zunahme  durchaus  gleichmä£sig  be- 
theiligt. Es  wird  also  in  der  Form  der  Kieme  bei  verschiedenartiger  Con- 
centration kein  Unterschied  hervorgerufen.  Die  Kieme  behält  ihre  lang- 
ovale Gestalt  in  allen  Concentrationsgraden.  Von  9^  bis  24^  Beaimie  beträgt 
stets  ihre  Breite  -J  ihrer  Länge. 

Die  Gröfsenzunahme  ist  eine  relative;  in  der  gesättigten  Concentration 
ist  die  Kieme  daher  nicht  grö&er,  sondern  etwas  kleiner  als  in  schwacher 
Concentration.  Da  aber  in  steigender  Concentration  die  Thierlänge  schneller 
abnimmt,  wird  die  Kieme  bei  steigender  Concentration  verhältnifsmäfeig 
gröfser.  Innerhalb  derselben  Concentration  divergiren  bei  den  einzelnen 
Individuen  die  Gröfsenverhältnisse  stark.  Man  kann  daher  wiederum  nur 
von  einer  Tendenz  zur  Vergröfserung  der  Kieme  bei  steigender  Salzcon- 
centration  sprechen. 

Die  erste  Tabelle  gibt  die  Länge,  die  zweite  die  Breite  der  Kieme  im 
Verhältnifs  zur  Länge  des  Thieres.  Die  Zahlen  über  den  beiden  Tabellen 
geben  demnach  den  Theil  an,  welchen  die  Kieme  in  Bezug  auf  die  ganze 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach. 


29 


Eörperl&nge  miist.     Die  Zahlen  in  den  Tabellen  geben  die  Häufigkeit  des 
Vorkommens  der  betreffenden  Mafse  an. 

Beobachtete  Werthe  fflr  die  Lftnge  der  Kieme  nach  dem  Grade  der  Concentration. 


V.4 

•/., 

V.6 

7.7 

V.8 

Vi9 

v~ 

V" 

Vm 

V.5 

V- 

'/.» 

9* 

I 

I 

4 

3 

2 

2 

1 

I 

I 

I 

lO 

2 

3 

II 

4 

6 

I 

»5 

I 

4 

II 

5 

4 

I 

24 

2 

3 

lO 

4 

3 

3 

Es  wurden  demnach  untersucht: 

aus    9®=  17  Expl. 
»     10  =  26      » 
»     15   =  26      » 
»    24  =  25      » 

Berechnete  Werthe  fflr  die  L&nge  der  Kieme  nach  dem  Grade  der  Concentration. 

Bei    9*  s  den  30.23.  Theil  der  Körperl&nge 

•  10  =    *     18.50.     •        •  • 

•  15  =    "     ^7*38'     •        ■  • 

•  24  s    •     16.48.     •        •  • 

Mit  steigender  Concentration  nimmt  die  Länge  der  Kieme  relativ  zur 
Körperlänge  zu.  Absolut  ist  aber  die  Kieme  am  gröfsten  in  schwachen 
Concentrationen.     Durchschnittlich  mifst  sie  bei  einer  Concentration: 

von    9®  Beaume  0T40, 
»    24®        »        0T37. 

Beobachtete  Werthe  fflr  die  Breite  der  Kieme  nach  dem  Grade  der  Concentration. 


Vk> 

V« 

V.. 

V.3 

Vm 

V.5 

V.6 

•At 

V.« 

V.9 

V30 

V31 

•Ä. 

V33 

V34 

9* 

• 

2 

I 

I 

I 

2 

I 

4 

2 

I 

10 

I 

2 

I 

2 

3 

I 

12 

4 

'5 

3 

I 

3 

I 

6 

6 

4 

I 

' 

24 

I 

2 

2 

3 

6 

2 

3 

4 

2 

Es  wurden  untersucht: 


aus 

g'' 

= 

15 

Expl. 

» 

10 

^ 

26 

» 

» 

15 

= 

26 

» 

9 

24 

rs 

25 

w 

30  M.  Saht  ER  und  R.  Heymons: 

Berechnete  Werthe  für  die  Breite  der  Kieme  nach  dem  Grade  der  Concentration. 

Bei    9°  =  dem  29.93.  Theile  der  Korperlänge 

•  10  =    •     3^* '9*      •         •  • 

•  15   =    •     26.96.      •         •  • 

•  24  ^    •     25.44.      •         •  •• 

Auch  die  Breite  der  Kieme  nimmt  mit  steigender  Concentration  relativ 
zur  Körperlänge  zu.  Absolut  aber  nimmt  die  Breite  der  Kieme  in  steigender 
Concentration  ab.     Durchschnittlich  mifst  sie: 

bei   9®  Beaume  o"*."2  7, 
»    24?         »       o°r24. 

In  dem  Salzwasser  verschiedenen  Grades,  welchem  wir  bei  unseren 
Untersuchungen  die  Artemia  entnahmen,  ändert  sich  bei  den  letzteren  das 
Verhältnifs  von  Kiemenlänge  und  Kiemenbreite  zu  einander  nicht.  Die 
Breite  der  Kieme  beträgt,  wie  oben  erwähnt,  bei  9**  bis  24®  Beaxune  ^  ihrer 
Länge. 

Nach  den  Untersuchungen  von  Schmankewitsch  beträgt  bei  der 
Artemia  aus  den  Seen  von  Odessa  bei  9**  die  Breite  der  Kieme  -j-,  bei  24^ 
^  ihrer  Länge.  Demnach  ist  bei  der  Artemia  aus  Odessa  die  Kieme,  je 
nach  der  Concentration,  Gestaltsveränderungen  imterworfen,  sie  kann  aus 
einer  langovalen  in  eine  rundovale  Form  übergehen. 

Nun  zeigt  ein  Vergleich  der  von  Schmankewitsch  und  von  uns 
gefundenen  Werthe,  bezüglich  der  Längenzunahme  der  Kieme,  eine  inter- 
essante Thatsache.  Nach  den  von  Schmankewitsch  angegebenen  Ver- 
hältnifszahlen  beträgt  bei  der  Artemia  aus  Odessa  die  Kiemenlänge 

bei  9^  =  o™6i, 
»  24^  =  0^76. 

Demnach  wird  bei  dieser  Artemia  die  Kieme  bei  steigender  Concen- 
tration absolut  länger. 

Nach  unseren  Beobachtungen  beträgt  aber  bei  der  Artemia  aus  MoUa 

Kary  die  Kiemenlänge 

bei  9®  =  o°r40, 

»  24^=0^^37. 

In  diesem  Falle  wird  also  die  Kieme  bei  steigender  Concentration 
absolut  kürzer. 

Würde  sowohl  auf  die  Artemia  aus  Odessa  wie  von  Molla  Kary  die 
Concentrationssteigerung   eine    gleichmäfsige  Oberflächenvergröfserung  der 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach,  31 

Kiemen  herbeiftlhren ,  dann  müfste  die  Kieme  der  Artemia  aus  Molla  Kary 
in  gleichem  Verl) ältnüs,  wie  sie  an  Länge  abnimmt ,  an  Breite  zunehmen. 
Sie  müfste  aus  einer  rundovalen  in  eine  kreisrunde  Form  übergehen.  Da 
sie  aber  im  Gegensatz  zu  der  von  Sehmankewitsch  charakterisirten  Form 
an  Breite  gar  nicht  zunimmt,  an  Länge  aber  sogar  abnimmt,  so  wirkt  die- 
selbe Concentration  auf  die  Kieme  der  Artemia  aus  Odessa  und  MoUa  Kary 
verschieden.     Diese  Verschiedenheit  ist  eine  beträchtliche. 

Zusammenfassung. 

Das  Resultat  unserer  Untersuchungen  läfst  sich  in  folgenden  beiden 
Sätzen  zusammenfassen : 

1 .  Der  Salzgehalt  des  umgebenden  Wassers  übt  auf  den  Organismus 
der  Artemia  salina  einen  nachweisbaren  Einflufe  aus,  der  sich  namentlich 
in  gewissen  Umgestaltungen  hinsichtlich  der  Gröfsen-  und  Formverhältnisse 
des  Körpers  ausspricht. 

2.  Die  Einwirkung  der  Salzconcentration  ist  eine  relative,  sie  kommt 
zwar  immer  bei  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Individuen  mehr  oder 
weniger  deutlich  in  annähernd  übereinstimmender  Weise  zum  Ausdruck, 
dagegen  ist  individuellen  Schwankungen  hierbei  noch  ein  ziemlich  weiter 
Spielraum  gesteckt,  so  dafs  durchaus  nicht  bei  jedem  Einzelindividuum 
genau  die  gleichen  Abänderungen  in  den  Gröfsen-  und  Zahlenverhältnissen 
des  Körpers  und  seiner  Anhänge  die  Folge  einer  bestimmten  Salzconcen- 
tration sind. 


32  M.  Samter  und  R.  Heymons: 


2.  Allgemeiner  Theil. 

I.  Das  Yariationsproblem  bei  Artemia  in  seiner  ursprünglichen 

Formulinmg. 

Nachdem  wir  in  dem  ersten  Theile  dieser  Arbeit  die  Ergebnisse  unserer 
eigenen  Untersuchungen  mitgetheilt  haben,  schliefst  sich  jetzt  die  Frage  an, 
ob  wir  auf  Grund  dieser  Befunde  zu  den  gleichen  theoretischen  Ergebnissen 
wie  die  früheren  Autoren,  und  namentlich  wie  Schmanke witsch,  kommen 
können,  oder  ob  diels  nicht  der  Fall  ist. 

Wie  in  der  Einleitung  gesagt  wurde,  hat  diese  Frage  den  eigentlichen 
Ausgangspunkt  unserer  Untersuchungen  gebildet,  denn  es  sollte  nicht  nur 
unsere  Aufgabe  sein,  den  thatsächlichen  Umfang  der  Variationserscheinungen 
bei  Artemia  salina  auf  Grund  erneuter  Untersuchungen  festzustellen,  sondern 
wir  verfolgten  von  vom  herein  die  Absicht,  die  von  anderer  Seite  gezogenen 
Schlufsfolgerungen  mit  den  neuerdings  festzustellenden  Thatsachen  zu  ver- 
gleichen und  sie  auf  ihre  Berechtigung  hin  zu  prüfen. 

Die  Ergebnisse  von  Schmankewitsch,  soweit  sie  auf  allgemeines 
und  weitgehendes  Interesse  Anspruch  erheben,  gipfeln  in  drei  Hauptsätzen, 
hinsichtlich  deren  Begründung  wir  theils  auf  die  Originalarbeit  von 
Schmankewitsch,  theils  auf  die  von  uns  gegebenen  folgenden  kritischen 
Erörterungen  verweisen, 

1.  Durch  Einwirkung  von  Salzwasser  von  bestimmter  Concentration 
werden  bei  Artemia  salina  bestimmte  Varietäten  gebildet. 

2.  Durch  den  Einfluls  starksalzigen  Wassers  gewinnt  die  Artemia 
salina  die  Charaktere  einer  anderen  Form,  Artemia  mühauseni. 

3.  Durch  den  Einflufs  schwachsalzigen  Wassers  nähert  sich  die  Ar- 
temia salina  dem  Genus  Branchipus, 

Schmankewitsch  hat  diese  Hauptsätze  zwar  nicht  ausdrücklich  in 
der  vorliegenden  Fassung  formulirt,  sie  lassen  sich  aber  doch  ohne  weiteres 
aus  seinen  Darlegungen  ableiten.  In  den  folgenden  Abschnitten  der  vor- 
liegenden Arbeit  wird  festzustellen  sein ,  ob  und  in  wie  weit  die  theoretischen 
Ergebnisse  von  Schmankewitsch  als  zutreffend  angesehen  werden  können. 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach.  33 

II.  Die  Varietätenbildong  bei  Artemia  in  Abhängigkeit  von  der 

Salzconcentration. 

Im  speciellen  Theil  haben  wir  darauf  aufmerksam  gemacht,  dafs  bei 
der  Artemia  in  MoUa  Kary  zwar  der  Einflufs  des  Salzes  auf  die  über- 
wiegende Mehrzahl  der  Individuen  mehr  oder  weniger  deutlich  ersichtlich  ist, 
dafs  er  aber  trotzdem  nicht  in  jedem  einzelnen  Falle  in  gleicher  Intensität 
zu  Tage  tritt.  Bei  einzelnen  Individuen  weichen  einzelne  Charaktere  stärker 
ab,  als  bei  anderen,  nur  bei  der  Hauptmenge  der  Individuen  bleibt  die 
Tendenz  der  Variation  immer  die  gleiche. 

Es  geht  hieraus  hervor,  dals  die  verschiedenfiich  concentrirten  Salz- 
wassertümpel und  Salzwasserseen  in  MoUa  Kary  auch  nicht  von  bestimmten, 
scharf  von  einander  zu  isolirenden  Artemia-FQtmtrx  bevölkert  sind.  Jedes 
Wasserbecken  hat  zwar  seine  vorherrschende  Artemia-Form,  seinen  von 
der  jeweiligen  Salzconcentration  abhängigen  Specialtypus;  diesen  Formen 
oder  Typen  kann  aber  keineswegs  der  Rang  von  Varietäten  in  dem  ge- 
bräuchlichen zoologischen  Sinne  zugesprochen  werden,  da  es  eben  factisch 
unmöglich  ist,  irgend  welche  Abgrenzungen  zwischen  ihnen  vorzunehmen. 
Alle  die  verschiedenen  -Ärtonia-Typen  gehören  in  Wirklichkeit  einem  und  dem- 
selben  Formenkreise  an,  alle  möglichen  Übergänge  kommen  zwischen  ihnen 
vor,  und  wollte  man  hier  von  Varietäten  sprechen ,  so  würde  man  bald  ge- 
zwungen sein,  für  jede  Wasserlache  eine  oder  mehrere  Varietäten  aufzustellen. 

Dieses  Resultat  contrastirt  mit  den  Ergebnissen  von  Schmankewitsch. 
Dieser  Forscher  beschreibt  nur  eine  geringe  Zahl  von  Varietäten  aus  den 
Limanen  von  Odessa,  welche  durch  ganz  bestimmte  Merkmale  ausgezeichnet 
sind  und  stets  in  einer  bestimmten  Concentrationsstufe  des  Wassers  leben. 

Es  ist  klar,  dafe  der  herv^orgerufene  G-egensatz  ein  nicht  unwesent- 
licher ist,  er  ist  wenigstens  von  nicht  zu  unterschätzender  Wichtigkeit, 
sobald  wir  die  Frage  der  Artbildung  bei  Artemia  prüfen  wollen.  Varietäten 
werden  bekanntlich  sehr  häufig  als  begiimende  Arten  angesehen.  Kommen 
nun  bei  der  Artemia  Varietäten  im  Sinne  von  Schmankewitsch  vor, 
Varietäten,  welche  sich  scharf  von  einander  sondern  lassen  imd  durch 
prägnante  Merkmale  ausgezeichnet  sind,  dann  ist  wenigstens  theoretisch 
nicht  die  Möglichkeit  von  der  Hand  zu  weisen,  dafs  aus  diesen  Varietäten 
durch  Consolidirung  ihrer  Merkmale  auch  im  Laufe  der  Zeit  Subspecies 
oder  Species  werden  können. 

Pkys,  Ahh.  nicht  zur  Akad,  gehör.  Gelehrter,   1902,   IL  5 


34  M.  Samter  und  R.  Heymons: 

Wir  haben  mit  diesen  Worten  nur  kurz  auf  die  Bedeutung  der 
Varietätenfrage  bei  Artemia  hinweisen  wollen,  wir  gehen  jetzt  in  medias 
res  und  wenden  uns  zu  einer  Kritik  der  Angaben  des  genannten  Forschers. 

Schmankewitsch  untersuchte  die  Variationserscheinungen  an  der 
Artemia  salina  aus  dem: 

1 .  Chadschibai- )  \ 

2.  Kujalnitzki-  )  ^  bei  Odessa, 

3 .  Salz wasserpfötzen  ) 

4.  Sakki-Liman  und  Anf  kleinen  Seen  bei  Sewastopol, 

5.  Seen  aus  der  Umgegend  von  Astrachan. 

Da  ihm  ein  derartig  um&ssendes  Material  zur  Verf&gung  stand,  imd 
er  seine  Beobachtungen  über  sechs  Jahre  (1871 — 1876)  fortgesetzt  an- 
stellte, wobei  er  die  Artemien  zu  derselben  Jahreszeit  an  verschiedenen 
Ortlichkeiten  und  zu  verschiedenen  Jahreszeiten  an  ein  und  derselben 
Fundstätte  sammelte,  so  erhielt  er  Arfemia-Formen ,  welche  den  verschieden- 
artigsten Einwirkungen  der  Concentration  ausgesetzt  waren ,  und  wir  dürfen 
wohl  annehmen,  daCs  in  diesen  Einwirkungen  die  Summe  der  Möglich- 
keiten enthalten  ist. 

Schmankewitsch  hat  5  Varietäten  aufgestellt: 
I.    Artemia  saüna^ 
Varietät  a, 
Varietät  b, 

erste  Varietät  der  Artemia  milhauseni, 
zweite  Varietät  der  Artemia  milhatiseni. 

Eine  einheitliche  Zusammenfassung  der  Charaktere,  welche  diese  Ysr 
rietäten  von  einander  sondern,  hat  Schmankewitsch  nicht  gegeben.  Trotz- 
dem vergleicht  er  aber  unter  den  obigen  Namen  die  verschiedenen  von 
ihm  aufgestellten  Artemia-Formen  mit  einander  und  zieht  aus  diesen  Ver- 
gleichen seine  Schlufefolgerungen. 

In  Folge  der  sehr  unübersichtlichen  Anordnung  des  Stoffes  in  der 
Schmankewitsch'schen  Arbeit  (1877)  ist  es  aber  för  den  Leser  derselben 
aufserordentlich  schwierig,  ja  sogar  ohne  ein  eingehendes  Studium  fast  im- 
möglich ,  sich  über  die  Richtigkeit  oder  Unrichtigkeit  der  SchluJ&folgerungen 
ein  Urtheil  zu  bilden. 

Erst  dann  läfst  sich  Klarheit  über  die  positiven  Ergebnisse  der 
Schmankewitsch'schen  Untersuchungen   gewinnen,   wenn  man  sich  der 


2 

3 
4 
3 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach.  35 

Mühe  unterzieht,  die  yerschiedenen  von  ihm  gegebenen  Einzelangaben 
einander  gegenüberzustellen.  Da  eine  solche  Zusammenstellung  bis  jetzt 
fehlt,  so  glauben  wir  im  Interesse  der  hier  zu  erörternden  Fragen  zu 
handeln,  wenn  wir  zunächst  einmal  die  Charaktere  der  von  Schmanke- 
witsch  beschriebenen  ilrfemila -Varietäten  an  der  Hand  der  vom  Autor 
selbst  gegebenen  Unterscheidungsmerkmale  zu  Diagnosen  zusammenfassen. 

Artemia  salina. 

Fundort.  Hauptsächlich  der  Ghadschibai-Liman;  ferner  der  Kujal- 
nitzki-Liman  und  die  Salz wasserpfutzen ,  je  nach  der  jeweiligen  Concen- 
tration  derselben. 

Concentrationsgrenzen.     5® — 1 2®  Beaume. 

Farbe.    Grau  oder  röthlich-grau,  bisweilen  auch  dunkler  roth. 

Gröfse.  14"".  Die  Sommergenerationen  sind  kleiner  als  die  Herbst- 
generationen. 

Verhältnifs  des  Vorderkörpers  zum  Abdomen.  Meist  wie  5: 6, 
aber  auch  wie  5  :  7. 

1.  Antenne.  Der  breite  Conus  an  der  Spitze  der  Antenne  trägt  drei, 
der  schmale  Conus  einen  Riechfaden. 

2.  Antenne.  Die  Fühler  sind  an  ihrem  zweiten  Gliede  sehr  ver- 
breitert und  von  der  Form  der  Fühler  der  Artemia  arieiina  nach  der 
Zeichnung  von  S.  Fischer  (1851).  An  ihrer  Vorderseite  zwischen  dem 
Kopf  und  ihren  Erhöhimgen  nahe  dem  nach  unten  gekehrten  Rande  befinden 
sich  zwei  Haufen  kegelförmiger  Zähne  oder  Stacheln  zu  je  einem  Häufchen 
auf  jeder  Seite. 

Die  9  Fühler  sind  breit  und  grofs. 

Mitteldarm.  Derselbe  endigt  in  der  Mitte  des  7.  Abdominalsegmentes. 
Seine  LSnge  hängt  von  dem  Alter  der  Thiere  ab. 

Kiemensack.  Etwas  gröfser  als  bei  der  Varietät  a,  und  zwar  zweimal 
so  lang  als  breit. 

Branchialblatt.    Relativ  kleiner  als  bei  der  Varietät  a. 

Der  Endlappen  des  Fufses  besitzt  xmgef&hr  30  Borsten. 

6.  Abdominalsegment.    In  der  Regel  etwas  kürzer  als  das  siebente. 

8.  Abdominalsegment.  Zweimal  länger  als  das  siebente  und  homolog 
den  beiden  letzten  Abdominalsegmenten  der  Branchiptis- Arten. 

Die  Stachelhäufchen  an  den  Segmentgrenzen  fehlen. 

5* 


36  M.  Samt  ER  und  R.  Heymons: 

Für  ca.  Sechsmal  kürzer  als  das  8.  Abdominalsegment,  doch  kann 
sie  auch   ebenso  lang  wie  bei  der  Varietät  a,   d.  h.  viermal  kOrzer,  sein. 

Furcalborsten.  4 — 12  Borsten,  selten  mehr,  und  zwar  stehen  diese 
nicht  nur  am  Ende,  sondern  auch  an  den  Seiten  der  Furcaläste.  Die  Zahl 
der  Borsten  kann  auch  eine  geringere  sein. 

Varietät  a. 

Fundort.    Hauptsächlich  der  starksalzige  Kujalnitzki. 

Concentrationsgrenzen.  Mehr  als  i2®Beaume.  Bei  20**  und  24® 
treten  bereits  die  Varietäten  der  Artemia  milhatiseni  auf. 

Farbe.    Roth;  doch  ist  die  Farbe  nicht  constant. 

Gröfse.     17-18"".    Die  Gröfse  bildet  den  Hauptcharakter. 

Verhältnifs  des  Vorderkörpers  zum  Abdomen  wie  5:8.  Das 
Abdomen  ist  länger  als  bei  der  Art  und  auch  dünner.  Geringe  Schwan- 
kungen in  dem  Verhältnifs  sind  möglich. 

1 .  Antenne.   Der  breite  Conus  trägt  drei,  der  schmale  einen  Riechfaden. 

2.  Antenne.  Beim  Männchen  schmäler  als  beim  Männchen  der 
Artemia  salirui.  Die  Stacheln  sind  stärker  entwickelt.  Beim  9  schmäler 
und  kleiner  als  bei  dem  der  Artemia  salina. 

Mitteldarm.    Erreicht  nicht  das  Ende  des   6.  Abdominalsegmentes. 

Kiemensack.    Etwas  kleiner  als  bei  Artemia  salina. 

Branchialblatt.    Etwas  gröfser  als  bei  der  Artemia  salina. 

Der  Endlappen  des  Fufses  besitzt  imgefähr  33  Randborsten. 

6.  Abdominalsegment.  Etwas  länger  als  bei  Artemia  salina  und 
meist  etwas  länger  als  das  7 .  Abdominalsegment.  Statt  der  Stachelhaufen 
an  den  Segmentgrenzen  des  3. —  7.  Abdominalsegmentes  sog.  »cuticulare 
Zellen«,  welche  sich  über  die  Oberfläche  nicht  erheben. 

Für  ca.  Ist  viermal  kürzer  als  das  8.  Abdominalsegment.  Die  Länge 
der  Furea  kann  aber  auch  gleich  der  der  Artemia  salina  sein. 

Furcalborsten.      8 — 15,    selten    mehr.      Man    findet    aber     auch 

weniger  als  4  Borsten. 

Varietät  b. 

Fundort.     Salzpfiitzen  bei  Odessa  und  Sewastopol. 
Concentration.    4**  Beaume. 

Farbe.     Mehr  grau  und  durchsichtiger  als  bei  Artemia  salina. 
Gröfse.     Ungefähr   14' 


mm 


Die  Variationen  bei  Arternia  salina  Leoch.  37 

Verhältnifs  des  Vorderkörpers  zum  Abdomen.  Das  Abdomen 
ist  kfirzer  oder  gleich  lang  oder  aber  kaum  länger  als  der  Vorderkörper, 
je  nach  dem  Alter  der  Individuen. 

1.  Antenne.    Die  Zahl  der  Riechf&den  betr&gt  fünf  statt  vier. 

2.  Antenne.  Bei  den  Männchen  finden  sich  auf  der  vorderen  nach 
unten  gerichteten  Seite  nahe  dem  Rande  zwischen  den  rauhen  Höckern 
und  der  Mitte  aufser  dem  Haufen  von  Zähnen  einige  Erhöhungen  oder 
Hautverdickungen.  Die  Antenne  des  Weibchens  ist  merklich  schmäler  als 
bei  Arternia  salina. 

Mitteldarm.  Reicht  über  den  Anfang  des  8.  Abdominalsegmentes  hinaus. 

Kiemensack.    Etwas  kleiner,  besonders  schmäler  als  bei  Arternia  saHna. 

Abdominalsegmente.  Kürzer  und  dicker  als  bei  den  anderen  Varietäten. 

9.  Abdominalsegment.  Bisweilen  durch  einen  mehr  oder  weniger 
deutlichen  Querring,  unmittelbar  hinter  den  letzten  Tastborsten,  welche 
sich  bei  der  Arternia  salina  etwas  oberhalb  der  Mitte  des  8.  Abdominal- 
segmentes befinden,  abgesetzt. 

Das  3. — 7.  Abdominalsegment  besitzt  an  den  Segmentgrenzen  je 
zwei  oder  je  vier  Häufchen  von  Stacheln,  aus  deren  Mitte  die  Tastborste 
entspringt.  Ebenso  finden  sich  in  der  Mitte  des  8.  Abdominalsegmentes  diese 
Stachelhäufchen . 

Für  ca.  Besteht  aus  zwei  lanzettförmigen  Asten.  Dieselben  sind  zwar 
nicht  abgegliedert,  aber  an  den  Seiten  durch  einen  Querring  vom  Abdomen 
abgetheilt.  Sie  sind  gröfser  als  bei  den  anderen  Artemia-Arten  und  zwar 
nur  2-^-  mal  kürzer  als  das  8.  Abdominalsegment. 

Furcalborsten.  An  den  Seiten  und  an  dem  Ende  sind  die  Furcaläste 
mit  12 — 22  Borsten  besetzt. 

Erste  Form  der  Arternia  milhauseni. 

Dieselbe  stammt  von  der  Arternia  saUna  ab. 

Fundort.     Hauptsächlich  ein  besonderer  Theil  des  Kujalnitzki. 

Concentration.     20®  Beaume. 

Färb  e.     Dunkelroth. 

Gröfse.     Ungefähr  10™. 

Verhältnifs  des  Vorderkörpers  zum  Abdomen.  5:8.  Das  Ab- 
domen ist  annähernd  doppelt  so  lang  wie  der  Vorderkörper,  doch  kürzer 
als  bei  der  zweiten  Form  der  Arternia  milhauseni. 


38  M.  Samt  ER  und  R.  Heymons: 

2.  Antenne.     Zeigt  am  Grunde  und  in  der  Mitte  eine  Verbreiterung. 

Mitteldarm.     Erreicht  kaum  den  Anfang  des  6.  Abdominalsegmentes. 

Kiemensack.  Oval  oder  mehr  rundlich.  Durchschnittlich  ^  so  breit 
als  lang,  relativ  also  breiter  als  der  der  Artemia  saÜna. 

Endlappen  der  Extremit&t  besitzt  ungef&hr  25  Randborsten. 

Abdominalsegmentation.  Weniger  scharf  als  bei  den  vorher  be- 
schriebenen Varietäten,  besonders  die  der  letzten  Segmente.  Abdominalende 
ist  plattgedrückt  und  verbreitert. 

Für  ca.     Fehlt  oder  ist  nur  schwach  entwickelt. 

Furcalborsten.     o — 3. 

Zweite  Form  der  Artemia  milhauseni. 

Dieselbe  stammt  von  der  Varietät  a. 

Fundort.     Ein  abgeschlossener  Theil  der  Kujalnitzki. 

Coneentration.      23** — 24**  Beaimie. 

Farbe.     Stark  dunkelroth. 

Gröfse.    Ungefähr  12°*"*. 

Verhältnifs  des  Vorderkörpers  zum  Abdomen.    5  :  9  oder  5  :  10. 

Das  Abdomen  ist  fast  doppelt  oder  doppelt  so  lang  wie  der  Vorder- 
körper, also  länger  als  bei  der  ersten  Form  der  Artemia  mähaiLseni. 

In  den  übrigen  Charakteren  stimmt  sie  mit  der  ersten  Form  der  Artemia 
milhauseni  überein. 

Aus  dieser  Aufstellung  ergibt  sich,  dafs  es  sich  im  wesentlichen  um 
Umbildungserscheinungen  bezüglich  der  Thiergröijse ,  des  Verhältnisses  vom 
Vorderkörper  zum  Abdomen,  der  Zahl  der  Abdominalsegmente,  der  relativen 
Gröfse  der  Furca,  der  Zahl  der  Furcalborsten,  der  Gröfse  der  Kiemen  und 
Branchialblätter  und  der  Länge  des  Mitteldarmes  handelt.  An  der  Hand  dieser 
Charaktere  sucht  Schmankewitsch  zu  beweisen,  dafe  die  Individuen  der 
Artemia  salina  in  einer  Coneentration  von  i^bis  5®Beaume  sich  zur  Varietät  b 
umändern,  welche  sich  dem  Genus  Branchipus  nähert,  und  dafs  durch  die 
steigende  Salzconcentration  stufenweise  nach  der  Steigerung  Varietäten  ent- 
stehen,  welche  alle  Übergänge  bis  zu  der  kleinsten  Varietät,  der  Artemia 
mühauseni  darstellen ,  welche  eine  Kummerform  der  gesättigten  Salzconcen- 
tration von  24**Beaume  verkörpert.  Die  Annäherung  an  den  jBra«cÄ^pw5-Typus 
bringt  die  Varietät  b  im  wesentlichen  durch  die  Neunzahl  der  Abdominal- 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach.  39 

Segmente,  durch  das  annShemd  gleiche  Verhältniis  von  Vorderkörper  und 
Abdomen,  durch  die  absolute  LAnge  der  Furcalftste  und  die  groCse  Zahl 
ihrer  Borsten,  durch  die  L&nge  des  Mltteldarmes  und  die  geringe  Aus« 
bildung  der  Kieme  und  des  Branchialblattes  zum  Ausdruck.  Bei  allmählich 
steigender  Conc^ntration  wird  das  Thier  kleiner,  das  Abdomen  relativ  länger, 
die  Segmentation  des  Abdomens  undeutlicher,  die  Furca  und  die  Zahl  ihrer 
Borsten  nimmt  an  6rO&e  ab.  Der  Mitteldarm  verkürzt  sich,  die  Kiemen 
und  Branchialblätter  dagegen  werden  gröfser.  Soll  nun  in  Folge  der  Ein- 
wirkung des  Salzes  die  Bildung  von  Varietäten  herbeigeführt  werden ,  dann 
müssen  die  fünf  aufgestellten  Varietäten  in  Bezug  auf  jeden  in  Betracht  ge- 
zogenen Charakter  eine  Stufenreihe  der  Umbildung  darstellen.  Ist  dieses  nicht 
der  Fall ,  dann  ist  in  erster  Reihe  die  AufSstellung  von  Varietäten  unhaltbar. 

I.  Sonderung  der  von  Schmankewitsch  aufgestellten  Varietäten 

nach  der  Concentration. 

Gehen  wir  an  eine  Kritik  der  Darlegungen  von  Schmankewitsch, 
so  gibt  uns  dieser  Autor  selbst  die  beste  Handhabe ,  seine  These  von  der 
Existenz  getrennter  Varietäten ,  welche  an  eine  bestimmte  Concentration  ge- 
bimden  sind,  zu  widerlegen.  Die  erste  Bedingung,  welche  wir  an  das  Vor- 
handensein von  Varietäten  stellen,  besteht  darin,  dais  diese  Varietäten  sich 
nach  der  Concentration  sondern. 

Varietät  b  darf  nur  in  Concentrationen  von  i®  bis  5**  Beaume, 

Artemia  saUna  nur  von  5®  bis  1 2^  Beaume, 

Varietät  a  nur  in  1 2®  bis  20®, 

erste  Form  der  Artemia  milhauseni  nur  in  ungef&hr  20^, 

zweite  Form  der  Artemia  mühavseni  nur  in  23®  und  24® 
anzutreffen  sein. 

Wir  finden  Schmankewitsch  (1877)  S.  465,  dals  Varietät  a  besser  bei 
hoher  Concentration  des  Salzwassers  lebt,  als  Artemia  salina.  Grelegentlich 
also  müssen  beide  gemeinsam  in  derselben  Concentration  zu  finden  sein.  An 
anderer  Stelle  heifst  es ,  dafs  die  Charaktere  der  Artemia  salina  sich  aufserdem 
gegen  die  der  Varietät  a  nicht  scharf  abgrenzen  lassen.  Wie  nun  die  Zu- 
sammenstellung zeigt,  soll  die  verschiedene  Gröfse  das  Hauptunterscheidungs- 
merkmal zwischen  beiden  Varietäten  sein.  Mithin  aber  ßlllt  auch  die  Gröüse 
als  Unterscheidungsmerkmal  fui'  zwei  Varietäten,  welche  durch  verschiedene 
Concentrationsgrade  hervorgerufen  werden  sollen,  aber  trotzdem  gelegentlich 


40  M.  Samt  ER  und  R.  Heymons: 

gemeinsam  in  derselben  Concentration  leben,  hinweg.  Was  bleibt  aber  dann 
von  der  Varietät  a  und  was  von  dem  Abstammungsunterschied  zwischen  der 
ersten  und  der  zweiten  Form  der  Artemia  milhausem?  Auch  die  Beobachtung 
von  Schmankewitsch  lehrt,  daXs  zwischen  seiner  Varietät  a  und  der  Ar- 
iemia  salma  alle  Combinationen  ihrer  Eigenthümlichkeiten  zu  finden  sind, 
und  diese  Summe  von  Variationserscheinungen  kommt  Individuen  zu,  welche 
innerhalb  der  gleichen  Concentrationsgrenzen  leben.  Femer  sind  die  Unter- 
schiede zwischen  der  Varietät  a  und  der  ersten  Form  der  Artemia  mü" 
hauseni  so  geringfügig  und  zweifelhaft,  dals  auch  hier  einer  Combination  der 
Charaktere  Thfir  und  Thor  geöffnet  ist. 

Für  den  Nachweis,  dafs  die  Varietäten,  wie  sie  Schmankewitsch 
aufgestellt  hat,  sich  nicht  von  einander  abgrenzen  lassen,  ist  das  VerhältnÜs 
der  beiden  Formen  der  Artemia  milhauseni  zu  einander  und  zu  ihrer  Ab- 
stammung von  besonderm  Werth.  Wenn  in  der  That  eine  Sonderung  in 
Varietäten  existiren  würde,  dann  würde  speciell  durch  das  Vorhandensein 
der  beiden  Formen  der  Artemia  mähauseni  im  Zusammenhang  mit  ihrer  ge- 
trennten Abstammung  das  Vorhandensein  einer  Einwirkung  der  Salzconcen- 
tration  durchaus  negirt  werden  müssen.  Das  Verhältnifs,  wie  es  Schman- 
kewitsch gibt,  ist  folgendes: 

Beide  Formen  der  Artemia  milhauseni  leben  im  Kujalnitzki  bei  ver- 
schiedenen Concentrationsgraden.  Die  erste  Form  bei  20**,  die  zweite  Form 
bei  23®  und  24?  Beaume.  Die  zweite  Form  ist  die  am  stärksten  degradirte 
Varietät  der  Artemia  salina.  Bezüglich  ihrer  Abstammung  macht  Schman- 
kewitsch einen  Unterschied,  zu  dem  er  durch  Hypothese  gelangt.  Er 
läfst  die  erste  Form  der  Artemia  milhauseni  von  der  Artemia  salina,  die  zweite 
von  der  Varietät  a  abstammen.  Es  müssen  demzufolge  beide,  Artemia 
salina  und  Varietät  a,  in  dem  Kujalnitzki,  und  zwar  wenn  beiden  eine 
verschiedene  Concentration  eigen  ist,  zu  verschiedenen  Zeiten  anzutreffen 
sein.  Folgen  wir  den  Angaben  von  Schmankewitsch,  dann  mufs  sich 
bei  niederer  Concentration  allein  Artemia  salina  in  dem  Kujalnitzki  finden, 
steigt  die  Concentration ,  dann  mufs  die  ausgewachsene  Artemia  salina  selbst 
zur  Varietät  a  werden,  da  nach  den  Experimenten  von  Schmankewitsch 
auch  das  ausgewachsene  Thier  Umbildungen  je  nach  der  Concentration 
erfährt. 

Gleichzeitig  aber  wird  auch  die  erste  Brut  dieser  sich  anpassenden 
Jlrfemia -Varietät  gemäfs  der  Salzconcentration  zur  Varietät  a  werden.   Steigt 


Die  Variationen  bei  Arlemia  salina  Leach,  41 

nun  die  Concentration  auf  20®  Beaume  und  producirt  die  zur  VarietÄt  a 
umgebildete  Stammgeneration  eine  zweite  Brut,  dann  ist  diese  nach  der 
Abstammungstheorie  von  Schmankewitsch  die  erste  Form  der  Ariemia  mü- 
hauseni.  Die  Varietät  a  aber,  welche  von  der  typischen  Artemia  salina 
bei  steigender  Concentration  producirt  wurde,  würde  bei  weiterm  Steigen 
der  Concentration  die  zweite  Form  der  Artemia  milhauseni  produciren ,  welche 
alsdann  die  Enkelgeneration  der  Artemia  salina  darstellt. 

Hieraus  würde  sich  erstens  mit  Nothwendigkeit  ergeben,  dafs  entweder 
Form  I  und  Form  2  der  Artemia  mühauseni  gleichzeitig  auftreten,  obwohl 
in  der  zweiten  Form  eine  durch  die  stärkere  Concentration  gesteigerte 
Degradation  zum  Ausdruck  gebracht  werden  soll,  oder  aber  es  müTste 
zwischen  der  Varietät  a  und  der  zweiten  Form  der  Artemia  milhauseni  eine 
Ubergangsform  existiren,  welche  der  Form  i  vollständig  gleicht  und  auf 
diese  Weise  den  Abstammungsimterschied ,  welcher  in  der  Form  i  und  2 
liegt,  vollständig  aufhebt.  Zweitens  aber  ist  auch  der  gesonderte  Ursprung 
selbst  unter  den  oben  geschilderten  Umständen  ein  rein  illusorischer,  denn 
die  erste  Brut  der  Artemia  salina ,  welche  sich  in  dem  concentrirtern  Wasser 
zur  Varietät  a  entwickelt,  ist  von  der  Artemia  salina^  welche  in  der  ge- 
steigerten Concentration  die  Charaktere  der  Varietät  a  annehmen  mufs, 
nicht  zu  unterscheiden.  Nur  dann  hätte  die  Hypothese  einer  getrennten 
Abstammung  eine  reale  Bedeutung,  wenn  zwei  neben  einander  existirende 
imd  von  einander  unabhängige  Stammformen ,  Artemia  salina  und  Varietät  a, 
vorhanden  wären. 

Da  Schmankewitsch  die  Nothwendigkeit  dieser  Forderung  empfindet, 
so  hebt  er  zu  diesem  Zwecke,  ganz  im  Gegensatz  zu  dem  stufenweisen  Ab- 
hängigkeitsverhältnifs ,  in  welchem  die  fünf  Varietäten  unter  einander  stehen, 
die  Varietät  a  aus  diesem  Zusammenhange  heraus  und  coordinirt  sie  der 
Artemia  salina.  Nach  S.  470  seiner  Darstellung  sind  Artemia  salina  und 
Varietät  a  durch  Theilung  und  Entartung  aus  einer  gemeinsamen  mittleren 
Stammform  hervorgegangen.  Wenn  nun  Varietät  a  und  Artemia  saUna  zwei 
coordinirte  Formen  sind,  und  die  Varietät  a  nicht  eine  durch  den  erhöhten 
Goncentrationsgrad  hervorgerufene  Anpassungsvarietät  der  Artemia  salina  dar- 
stellt, dann  mufs  in  dem  Kujalnitzki  entweder  die  Artemia  salina  gemeinsam 
zu  gleicher  Zeit  mit  der  Varietät  a  auftreten,  und  zwar  als  typische  Ar- 
temia  saUna^  oder  aber  zu  der  Zeit,  in  welcher  sich  im  Kujalnitzki  die 
Varietät  a  findet,  mufs  mit  dieser  zugleich  die  erste  Generation  der  Artemia 

Phys,  Ahh,  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter,    1902.    II.  6 


42  M.  S A M T E R  und  R.  Heymons: 

saHna,  d.  h.  die  erste  Form  der  Ariemia  milhauseni  zu  finden  sein.  Beide 
Möglichkeiten  aber  würden  die  bedingungslose  Abhängigkeit  der  Form  von 
der  Salzcon Centration  über  den  Haufen  werfen. 

2.   Die  Körperlänge  der  von  Schmankewitsch  aufgestellten 

Varietäten. 

Der  Grundgedanke,  welcher  Schmankewitsch  bei  seinen  Arbeiten 
geleitet  hat,  war  die  Meinung,  dais  die  Entstehung  der  beiden  Gattungen 
Branchipus  imd  Artemia  aus  einer  gemeinsamen  Stammform  im  Laufe  der 
Zeit  durch  den  Salzgehalt  des  xmigebenden  Wassers  bedingt  worden  sei. 
Durch  den  Einflufs  von  Süßwasser  sei  die  Bildung  der  verhältnÜsmäXsig 
grofsen  Branchipus -Yorm,  durch  den  Einflufs  salzigen  Wassers  die  Bildung 
der  relativ  kleinen  Artemia -Yotm  zu  Stande  gekonmien. 

Für  diese  Prämisse  galt  es  Beweise  zu  liefern,  und  solche  glaubte  er 
in  der  That  durch  die  Beobachtung  verschiedener  Varietäten  bei  der  Artemia 
salina  gefimden  zu  haben.  Es  mufste,  um  die  obige  Annahme  zu  stützen, 
in  erster  Linie  gezeigt  werden,  dafs  diejenige  Varietät,  welche  in  dem  am 
schwächsten  salzigen  Wasser  lebt  (Varietät  b),  am  grö&ten  ist,  und  dafe 
sie  sich  hierin,  wie  auch  in  anderen  Merkmalen,  am  meisten  dem  Genus 
Branchipus  nähert,  und  es  mufste  ferner  gezeigt  werden,  dais  diejenige 
Form  Artemia  milhauseni^  welche  in  dem  am  stärksten  salzigen  Wasser  lebt, 
am  kleinsten  ist  und  sich  somit  am  weitesten  von  dem  Genus  Branchipus 
entfernt. 

In  dieser  allgemeinen  Fassung  läfst  sich  auch  in  der  That  gegen  die 
Mittheilungen  und  thatsächlichen  Feststellungen  von  Schmankewitsch 
nichts  einwenden.  Prüft  man  jedoch  die  Angaben,  die  er  über  die  Körper- 
länge der  Varietäten  in  Abhängigkeit  von  der  Salzconcentration  gemacht 
hat,  genauer,  so  ergeben  sich  alsbald  nicht  unerhebliche  Widersprüche. 

Die  erste  Form  der  Artemia  milhauseni  stammt  nach  ihm  bekanntlich 
von  der  Artemia  salina.  Letztere  mifet  durchschnittlich  14"",  die  erste  Form 
der  Artemia  milhauseni  10"".  Demnach  mi£st  die  Artemia  in  hoher  Concen- 
tration  ungefthr  ^  ihrer  ursprünglichen  Länge  oder  aber  sie  verliert  un- 
gefilhr  -J  derselben. 

Die  zweite  Form  der  Artemia  mähauseni  stammt  von  der  Varietät  a. 
Diese  mifst  durchschnittlich  17-18"*",  die  zweite  Form  der  Artemia  rnä' 
hauseni  1 2  °*".    Hiernach  würde   die  Artemia  in  der  Varietät  a  bei  der  Er- 


Die  Yariationen  bei  Artemia  salina  Leach.  43 

höhung  der  Concentration  -^  ihrer  ursprünglichen  Eörperlftnge  messen  oder 
aber  -J  derselben   durch  die  Erhöhung  der  Concentration  verloren  haben. 

Da  nun  zwischen  der  für  die  Artemia  salina  und  der  für  die  erste  Form 
der  Artemia  mUhauseru  eigenthümlichen  Salzconcentration  eine  grölsere  Diffe«» 
renz  bestehen  mufs^  als  zwischen  der  Concentration,  welche  f&r  die  Varietät  a 
und  die  zweite  Form  der  Artemia  milhauseni  möglich  ist ,  so  ist  die  Reaction 
der  Salzeinwirkung  eine  verschiedene,  denn  die  geringere  Concentrations* 
Steigerung  zwischen  Varietät  a  und  zwischen  der  zweiten  Form  der  Artemia 
salina  bringt  eine  grö&ere,  die  stärkere  Concentrationssteigerung  zwischen 
der  Artemia  saUna  und  der  ersten  Form  der  Artemia  milhauseni  eine  geringere 
Abnahme  der  Körperlänge  hervor.  Gerade  das  Gegentheil  will  und  mufste 
Schmankewitsch  beweisen. 

Nach  seiner  eigenen  Darstellung  S.  476  tritt  die  erste  Form  bei  20®, 
die  zweite  Form  der  Artemia  mUhauseni  bei  23®  und  24*  Beaume  auf.  Es  lebt 
also  mit  anderen  Worten  im  Wasser  geringerer  Concentration  eine  kleinere 
nur  10""  grofee  i4r/<?mia -Varietät,  in  höherer  Concentration  aber  eine  gröfsere 
Varietät  von  12"". 

Wäre  das  Verhältniis  zwischen  Varietäten  und  Salzconcentrationen  das 
von  Schmankewitsch  fixirte,  dann  wäre  die  Theorie  von  der  retardirenden 
Einwirkung  des  Salzes  nicht  aufrecht  zu  erhalten.  Dasselbe  ergibt  auch  der 
Vergleich  der  übrigen  von  Schmankewitsch  aufgestellten  Varietäten. 

Folgerichtig  ist  gemäfs  der  Theorie  von  dem  Einflufs  der  Salzconcen- 
tration auf  die  Thierlänge  die  erste  Form  der  Artetnia  milhauseni  kleiner 
als  die  Artemia  salina ^  die  zweite  Form  der  Artemia  milhauseni  kleiner  als  die 
Varietät  a;  die  Varietät  b  aber,  welche  der  schwächsten  Salzconcentration 
angehört,  ist  im  Gegensatz  zu  der  Theorie,  anstatt  die  gröfste  der  Artemia- 
Varietäten  zu  sein,  gleich  der  Artemia  salina  und  sogar  kleiner  als  Varietät  a, 
welch  letztere  bei  mindestens  7®  höherer  Concentration  -J  gröfser  als  die 
Varietät  b  ist.  Dadurch  dafs  Schmankewitsch  die  Varietät  a  aus  der 
Stufenfolge  der  Abhängigkeitsformen  heraushebt,  sucht  er  einigermaXsen 
Einwänden  zu  begegnen.  Hat  aber  Artemia  salina  und  Varietät  a  einen 
gemeinsamen  Ursprung,  und  soll  eine  Herabminderung  des  Salzgehaltes  in 
der  Summe  der  Charaktere  auch  die  Körperlänge  in  progressivem  Sinne 
beeinflussen,  dann  kann  die  Varietät  b  nicht  kleiner  sein  als  die  Varietät  a, 
denn  die  mittlere  Länge  der  subponirten  Stammformen  kann  nicht  kleiner 
sein  als  diejenige  der  Artemia  salina. 

6* 


44  M.  S A M T £ R  und  R.  Heymons: 

Auf  Grund  unserer  eigenen  Beobachtungen  können  wir  zwar  auch  be- 
stätigen ,  dafs  die  im  starksalzigen  Wasser  lebenden  Individuen  der  Ärtemia 
salina  im  allgemeinen  kleiner,  die  im  schwachsalzigen  Wasser  lebenden 
Individuen  dieser  Art  dagegen  durchschnittlich  gröfser  sind;  eine  streng 
gesetzmäfsige  Abhängigkeit  der  Eörperlänge  von  der  Salzconcentration ,  wie 
sie  Schmankewitsch  durch  die  Aufstellung  einer  Anzahl  verschiedener 
Varietäten  begründen  wollte ,  ist  aber  nicht  vorhanden  xmd  kann  nicht  vor- 
handen sein,  wie  aus  den  widersprechenden  Angaben  von  Schmanke- 
witsch selbst  ersichtlich  ist. 

3.   Die  Furcallänge. 

Das  Unzulängliche  der  Schmankewitsch 'sehen  Varietäten  geht  aus 
dem  Verhältnifs  der  Furca  und  der  Körperiänge  bei  steigender  Concen- 
tration  des  weitem  hervor.  Das  Verhältnifs  vom  Vorderkörper  zum  Ab- 
domen verhält  sich  bei  Ärtemia  salina  wie  5 : 6  oder  5:7,  bei  Varietät  a 
wie  5 : 8, 

Die  Körperlänge  der  Ärtemia  salina  beträgt  14™",  die  der  Varietät  a 
17-18"^. 

Mithin  ist  das  Abdomen  und  mit  ihm  das  8.  Abdominalsegment  der 
Varietät  a  absolut  und  relativ  länger  als  das  der  Ärtemia  salina. 

Da  die  Furca  der  Ärtemia  salina  -^^  die  der  Varietät  a  aber  -J  der  Länge 
des  8.  Abdominalsegmentes  beträgt-,  so  mufs  die  Furca  der  Varietät  a  ab- 
solut und  relativ  länger  als  die  der  Ärtemia  salina  sein.  Die  in  dem  con- 
centrirtern  Wasser  lebende  Varietät  a  hätte  demnach  eine  stärker  ausge- 
bildete Furca  als  die  Ärtemia  salina  selbst. 

"Zusammenfassung. 

Somit  zeigt  es  sich,  dafs  die  Varietäten  der  Ärtemia  salina,  welche 
Schmankewitsch  beschrieben  hat,  gar  nicht  einmal  zur  Stütze  derjenigen 
Sätze  und  Behauptungen  dienen  können,  die  der  Autor  selbst  aufgestellt 
hat.  Schmankewitsch  beabsichtigte  die  streng  gesetzmäfsige  Abhängig- 
keit der  Körperformen  von  der  Salzconcentration  des  umgebenden  Mediums 
darzutliun  und  wurde  wohl  hierdurch  in  erster  Linie  veranlagt,  auch  scharf 
von  einander  zu  sondernde  Formenkreise,  die  in  der  genannten  Hinsicht 
in  Abhängigkeit  von  den  äufseren  Lebensbedingungen  stehen,  aufzusuchen. 
Allein  die  Durchfuhrung  dieser  Absicht  ist  nicht  gelungen,  denn  bei  der 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach,  45 

Beschreibung  der  verschiedenen  Varietäten  verwickelt  sich  der  Autor  in 
eine  Reihe  unlösbarer  Widerspräche,  wie  aus  den  oben  gegebenen  kriti- 
schen Erörterungen  seiner  eigenen  Angaben  hervorgeht. 

In  Wirklichkeit  gehen  die  Formen  s&mmtlich  in  einander  über,  die 
fünf  von  Schmankewitsch  beschriebenen  Varietäten  lassen  sich  nicht  von 
einander  sondern,  und  wir  sind  daher  gezwungen,  ihre  Aufstellung  als 
unberechtigt  anzusehen.  Bedingungslos  an  die  Concentration  des 
Salzwassers  geknüpfte  Varietäten  gibt  es  bei  der  Artemia  salina 
nicht,  sie  kommen  zweifellos  ebenso  wenig  in  den  Limanen  von 
Odessa  vor,  wie  wir  sie  in  den  Salzlagunen  der  transkaspischen 
Steppen  auffinden  konnten. 

nL  Die  ümgestaltang  der  Artemia  salina  zur  „Artemia  milhauseni". 

Das  Ergebnifs  des  vorigen  Abschnitts  lautete,  dals  wir  den  fönf  von 
Schmankewitsch  als  Varietäten  beschriebenen  Formen  keine  Bedeutung 
in  systematischem  Sinne  zusprechen  können.  Da  Artemia  mühauseni  eine 
dieser  fünf  Formen  ist,  so  geht  hieraus  schon  zum  Theil  hervor,  dafs  wir 
auch  die  Aufstellung  einer  eigenen  Art  •milhauseni*  natürlich  ebenso  wenig 
für  zutreffend  und  berechtigt  ansehen  können.  Indessen  ist  nicht  Schman- 
kewitsch, sondern  Fischer  von  Waldheim  (1834)  der  Autor  der  ge- 
nannten Art,  und  es  mag  daher  im  Hinblick  auf  das  allgemeinere  Interesse 
dieser  Frage  noch  besonders  auf  die  Artemia  mühmiseni  eingegangen  werden. 

Grerade  die  Möglichkeit,  dafs  den  Befunden  von  Schmankewitsch 
zufolge  durch  Veränderung  des  Salzgehaltes  aus  einer  Artemia  salina  all- 
mählich eine  Artemia  mühauseni  werden  kann ,  hat  seiner  Zeit  ein  gewisses 
Aufsehen  erregt,  denn  hiermit  schien  ja  der  Nachweis  gefiihrt  zu  sein,  dafs 
eine  Thierspecies  sich  unter  veränderten  äufseren  Lebensbedingungen  zu 
einer  anderen  Thierspecies  umzugestalten  vermag. 

Indessen  liegt  dieser  Meinung  nur  ein  Mifsverständnifs  oder  eine  irrthüm- 
liche  Auffassung  zu  Grunde,  der  Schmankewitsch  namentlich  in  seinen 
früheren  Publicationen  allerdings  gewissen  Vorschub  geleistet  hat.  In 
Wahrheit  hat  aber  Schmankewitsch  in  seiner  letzten  Arbeit  nicht  nur 
Zweifel  an  der  Berechtigung  der  Artemia  mühauseni  als  einer  eigenen  Art 
ausgesprochen,  sondern  er  hat  sogar  ausdrücklich  erklärt,  dals  er  die  von 
ihm  im  stark  concentrirten  Salzwasser  beobachteten,  etwas  abweichenden 


46  M.  Samter  und  R.  Hetmons: 

^r/^mta- Formen  nicht  für  eine  eigene  Art  halten  kOnne,  selbst  dann  nicht» 
wenn  dieselben  alle  Kennzeichen  der  Ärtemia  mühauseni  trögen. 

Es  ist  darauf  hin  eigentlich  gar  nicht  zu  verstehen,  wie  sich  trotzdem 
die  Meinung  einbürgern  und  erhalten  konnte,  als  sei  es  Schmankewitsch 
gelungen,  eine  Thierart  beliebig  in  eine  andere  zu  verwandeln.  Er  selbst 
(1877)  schreibt  wörtlich:  »Nach  allem  Gesagten  hoffe  ich,  wird  Niemand 
daran  denken,  dafe  ich  dahin  strebe,  mittels  der  Veränderung  des  Elementes 
bei  der  Zucht  der  Thiere  aus  einer  Art  eine  andere  oder  irgend  welche 
neue  Arten  hervorzubringen«. 

Bateson  (1894)  hat  sich  späterhin  auch  noch  der  Mühe  unterzogen, 
die  Berechtigung  der  Species  Ärtemia  milhavseni  einer  Kritik  zu  unterwerfen. 
Er  kommt  gleichfalls  zu  dem  Ergebnifs,  dafs  diese  Form  keine  eigene  Art 
sei,  weil  sie  nur  an  der  Hand  ungenügend  conservirten  und  schlecht  er- 
haltenen Materials  aufgestellt  sei,  und  ferner,  weil  noch  niemals  ein  Männ- 
chen der  Ärtemia  mUhauaeni  aufgefunden  sei. 

Wir  schliefsen  uns  der  Meinung  von  Schmankewitsch  und  Bateson 
in  dieser  Beziehung  vollkommen  an.  Ärtemia  milhauseni  ist  nur  einer  der 
zahllosen  Variationstypen,  die  bei  der  Ärtemia  salina  auftreten,  und  zwar 
ein  solcher,  bei  welchem  die  Rückbildung  der  Borstenzahl  und  die  Undeut- 
lichkeit  in  der  abdominalen  Segmentirung  am  weitesten  fortgeschritten  ist. 
Dieser  Milhauseni 'Typus  gehört  aber  in  den  Formenkreis  der  Ärtemia  salina 
hinein;  er  ist  unzweifelhaft  durch  alle  Übergänge  mit  anderen  Variations- 
typen der  Ärtemia  salina  verbunden. 

Wir  stimmen  Schmankewitsch  auch  darin  bei,  dafs  der  MilAauseni- 
Typus  durch  den  Einflufs  stark  salzigen  Wassers  bedingt  wird.  Auch  in 
den  stark  concentrirten  Wasserbecken  von  Molla  Kary  finden  sich  jeden- 
falls Formen  vor,  welche  diesen  Milhauseni^Typns  deutlich  und  unverkenn- 
bar zur  Schau  tragen.  Eine  eigene  Rasse  oder  eine  eigene  Varietät  im  üb- 
lichen Sinne  ist  hierdurch  aber  in  keiner  Weise  entstanden. 

Irgend  eine  Consolidirung  der  Milhauseni- ChsiTskteTe  ist  nach  unseren 
Erfahrungen  in  keinem  einzigen  Falle  eingetreten,  denn  wir  fanden  selbst 
in  stark  salzigem  Wasser  mit  den  sogenannten  Milhafisem-Formea  zusammen 
auch  immer  noch  andere  Formen  vor,  welche  wenigstens  nicht  in  demselben 
Mafse  die  Eigenthümlichkeiten  des  ausgesprochenen  Mähatiseni -Typus  be- 
safsen.  Wir  können  uns  in  dieser  Hinsicht  sogar  auf  die  eigenen  Expe- 
rimente von  Schmankewitsch  selbst  berufen,  denn  auf  Grund  derselben 


Die  Variationen  bei  Artemia  saüna  Leach.  47 

kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  dafs  durch  Verringerung  des  Salz- 
gehaltes bei  künstlichen  Zuchten  die  Mehrzahl  der  Individuen  in  den  folgen* 
den  Generationen  ohne  weiteres  wieder  die  MilhatLseni-Form  verliert  und 
schlie&lich  zur  typischen  Artemia  salina  wird. 

Die  ^Artemia  milhausenU  stellt  demnach  weder  eine  eigene 
Art  —  Species  — ,  noch  eine  constante  Rasse  —  Subspecies  oder 
Varietät  —  dar. 

Wir  wenden  uns  hiermit  nur  gegen  die  Au&ahme  der  ^Artemia 
mUhausmi*  als  einer  feststehenden  und  selbständigen  Form  in  das  syste* 
matische  System.  Wenn  der  Ausdruck  Varietät  in  dem  Sinne  ange* 
wendet  wird,  wie  er  neuerdings  von  Schulze  (1902)  empfohlen  wurde, 
d.  h.  »zur  Bezeichnung  gewisser  Erscheinungen,  welche  mit  der  rein 
systematischen  Eintheilung  nichts  zu  thim  haben«,  so  ist  es  selbst- 
verständlich zulässig,  von  einer  Artemia  salina  Leach. ^  var.  milhauseni  zu 
sprechen. 

Nicht  allein  Schmankewitsch  hat  derartige  von  der  Salzconcentration 
abhängige  Varietäten  beschrieben.  Ihm  ist  wenigstens  in  gewissem  Sinne 
Simon  (1886)  gefolgt,  der  in  ähnlicher  Weise  vier  verschiedene  Formen 
bei  der  Artemia  unterschied  —  forma  principaliSj  intermedia  ^  mähauseni, 
koeppeana — .  Wir  verweisen  ferner  auf  Entz,  der  Daday  (1888)  zufolge 
aus  siebenbfirgischen  Salzwasserteichen  eine  Artemia  salina  var.  biloba  aus 
concentrirtem ,  und  eine  var.  ßsrcata  aus  schwächer  salzigem  Wasser  be- 
schrieben hat. 

Es  wird  Sache  künftiger  Untersuchungen  sein,  die  Frage  zu  beantwor- 
ten, inwieweit  diese  letztgenannten  verschiedenen  Formentypen  wirklich 
als  durch  bestimmte  Merkmale  ausgezeichnete  und  durch  die  Salzconcen«- 
tration  bedingte  systematische  Abarten  angesehen  werden  dürfen.  Die  Ver- 
muthung,  daüs  das  Resultat  ähnlich  lauten  wird,  wie  wir  es  für  die  von 
Schmankewitsch  beschriebenen  Varietäten  erhalten  haben,  liegt  jeden- 
falls nahe. 

Auch  für  die  gleichfalls  stark  variirenden  Branchipus-Formen  liegen  schon 
entsprechende  Beobachtimgen  vor,  denn  nach  der  Meinung  Daday 's  (1888) 
sind  die  von  manchen  Autoren  beschriebenen  Arten  nichts  anderes  als  »ein 
und  dieselbe  Stammform  in  Local-  oder  Perioden  Veränderung«. 


48  M.  Samter  und  R.  Heyhons: 


lY.  Die  Yarietätenbildmig  der  Artemia  salina  in  Abhängigkeit  von  der 

Localität  (Localvarietäten). 

Obwohl  wir  durchaus  nicht  in  Abrede  stellen ,  dafe  der  Salzgehalt  des 
Wassers  auf  den  Körperbau  der  Arkmia  bis  zu  einem  gewissen  Grade  tun- 
wandelnd und  modificirend  wirken  kann,  so  müssen  wir  doch  entschieden 
bestreiten,  dafs  im  Freien  unter  natürlichen  Verhältnissen  dieser  Einflufs 
des  Salzes  allein  ausreichend  ist,  um  an  einem  Orte  bestimmte  Varietäten 
zu  schajSen. 

Es  handelt  sich  jedenfalls  nicht  um  Varietäten  in  dem  conventionellen, 
bei  anderen  Thierformen  in  der  Regel  gebräuchlichen  Sinne ,  nicht  um  be- 
stimmte formbeständige  Rassen  mit  fixirten  Eigenthümlichkeiten ,  sondern 
es  handelt  sich  in  den  Lagunen  von  MoUa  Eary  imd  unserer  Meinung  nach 
auch  in  den  Limanen  von  Odessa  nur  um  Typen,  die  alle  zu  einem  und 
demselben  Formenkreise  gehören,  und  deren  Zahl  ganz  nach  subjectivem 
Ermessen  beliebig  hoch   und  beliebig  niedrig  angenommen  werden  kann. 

Änderungen  des  Salzgehaltes  begünstigen  also  zahllose  Variationen,  sei 
es  nach  dieser,  sei  es  nach  jener  Richtung  hin.  Ohne  das  Hinzutreten 
weiterer  Umstände  kann  aber  die  Salzconcentration  allein  niemals  zur  Ent- 
stehung eigener  Rassen  oder  Abarten ,  die  durch  feststehende  Merkmale  von 
der  typischen  Artemia  saUna  unterschieden  sind,  fiihren. 

Wir  treten  hiermit  in  principiellen  Gegensatz  zu  Schmankewitsch. 
Letzterer  verwahrt  sich  zwar  ausdrücklich  dagegen,  experimentell  oder  durch 
Beobachtung  in  fireier  Natur  die  Entstehung  neuer  Arten  oder  Gattungen 
festgestellt  zu  haben,  allein  er  glaubt  doch  durch  seine  Untersuchungen 
den  Weg  aufgedeckt  zu  haben,  dessen  sich  die  Natur  bedient,  um  neue 
Formen  zu  schaffen.  Veränderungen  äufserer  Lebensbedingungen,  und  zwar 
nach  Schmankewitsch  Änderungen  vornehmlich  eines  einzelnen  Factors, 
nämlich  des  Salzgehaltes,  soUen  im  Stande  sein,  allmählich  neue  Formen 
hervorzubringen.  Dieser  Meinung  des  russischen  Forschers  müssen  wir  auf 
Grund  imserer  eigenen  Ergebnisse  auf  das  Entschiedenste  widersprechen, 
denn  so  einfach  liegt  die  Sache  nicht. 

Gewifs  sind  auch  wir  der  Meinung,  dafs  Änderungen  des  Salzgehaltes 
das  Auftreten  von  Variationen,  sei  es  nach  der  einen,  sei  es  nach  der  an- 
deren Richtung  hin,    sei  es  im  progressiven,   sei  es  im  regressiven  Sinne 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach.  49 

bei  der  Artemia  salina  begünstigen,  allein  die  bisherigen  Experimente  und 
vor  allem  auch  sämmtliche  Beobachtimgen  in  freier  Natur  sprechen  dafür, 
dafe  ohne  das  Hinzutreten  weiterer  wesentlicher  Umstände  die  Salzconcen- 
tration  niemals  zur  Entstehung  eigener  formbeständiger  Rassen  oder  Abarten 
fuhrt,  ganz  zu  schweigen  von  der  Entstehung  neuer  Arten  oder  gar  neuer 
Gattungen  auf  diesem  Wege. 

Diefs  ist  jedenfalls  das  Resultat  unserer  bisherigen  thatsächlichen  Er- 
fahrungen. Würden  Abarten,  Varietäten,  Untergattungen  u.  s.  w.  auf  dem 
von  Schmankewitsch  angegebenen  Wege  sich  herausbilden  imd  schliels- 
lieh  als  solche  formbeständig  sich  erhalten  können,  so  würde  man  wohl 
annehmen  müssen,  an  irgend  einem  Punkte  der  Erde  einmal  eine  reine 
Artemia  mUhauseni  ausgeprägt  zu  finden,  welche  sieh  consolidirt  hat  und 
nicht  mehr  ihre  Charaktere  verliert,  oder  man  würde  erwarten  müssen, 
irgendwo  eine  reine  Form  der  Schmankewitsch  'sehen  Varietätb  zu  treffen, 
deren  Merkmale  befestigt  und  im  Laufe  der  Zeit  constant  geworden  sind. 

Diefs  hat  sich  aber  noch  niemals  in  Wirklichkeit  bestätigt  gezeigt.  So- 
weit eben  zur  Zeit  alle  bisherigen  Erfahrungen  reichen,  ist  doch  in  der 
That  noch  niemals  der  Fall  eingetreten,  daXs  allein  durch  Veränderungen 
des  Salzgehaltes  bei  Artemia  in  freier  Natur  neue  Rassen  oder  Abarten  mit 
Constanten  Merkmalen  entstanden  sind.  Die  Gründe  hierfür  liegen  auf  der 
Hand,  denn  die  Schwankungen  des  Salzgehaltes  sind  ja  immer  nur  perio- 
dische. Naturereignisse  mannigfaltiger  Art,  die  gelegentlich  eintreten,  fuhren 
nothwendiger  Weise  wieder  zu  einem  Ausgleich  der  extremen  Lebensbe- 
dingungen. Trockenheitsperioden  bedingen  eine  Verstärkung  des  Salzge- 
haltes ,  Regengüsse  und  Überschwemmungen  veranlassen  eine  Verringerung 
desselben ,  und  letztere  bedingen  gleichzeitig  in  unvermeidlicher  Weise  immer 
wieder  eine  Vermischung  der  in  benachbarten  Wasserbecken  lebenden  ver- 
schiedenen Formentypen  imter  einander,  so  dafs  es  damit  an  einer  und  der- 
selben Localität  immer  wieder  zu  einem  Rückschlag  in  die  typische  Artemia 
salina  kommen  mufs. 

Rassenbildungen,  die  man  mit  vollem  Rechte  als  Localvarietäten,  oder 
wenn  man  will,  als  beginnende  Subspecies  bezeichnen  kann,  treten  un- 
zweifelhaft auch  bei  der  Artemia  salina  zu  Tage ,  aber  sie  scheinen  gerade 
wie  bei  vielen  anderen  Thieren  immer  nur  bei  genügend  weiter  räumlicher 
Trennung  von  einander,  welche  eine  Vermischung  ausschliefst,  entstehen 
zu   können. 

Phys,  Ahh.  nicht  zttr  Akad.  gehör.  Gelehrter.    1902.    II.  7 


5U  M.  Samt  ER  und  R.  Heymons: 

Die  asiatische  Ärtemia  saline,  welche  wir  in  Molla  Kary  sammelten, 
unterscheidet  sich  durch  eine  Reihe  kleiner,  aber  doch  eonstanter  Kenn- 
zeichen von  der  europäischen  Artemia  salina  aus  den  Limanen  von  Odessa, 
oder  von  derjenigen  aus  den  Lagunen  von  Capo  d'  Istria. 

Nichts  steht  im  Wege,  hier  thatsächlich  von  Localvarietäten  oder  viel- 
leicht von  besonderen  Unterarten  —  Subspecies  —  zu  sprechen.  Die  Rang- 
ordnung, die  man  diesen  localen  Rassen  im  zoologischen  System  geben  will, 
ist  ja  im  wesentlichen  doch  immer  dem  subjectiven  Ermessen  anheim  ge- 
geben, denn  bei  verschiedenen  Thiergruppen  ist  in  dieser  Beziehung  nach 
verschiedenen  Principien  verfahren  worden.  Das  wesentliche  und  wichtige 
Moment  liegt  darin,  dafs  sich  solche  Localrassen  durch  constante  Merkmale 
von  anderen  Rassen  desselben  Arttypus  unterscheiden. 

Die  Artemien  in  Molla  Kary  z.  B.  haben  keine  auffallenden  Gruppen 
cuticularer  Vorsprünge  —  »Zellen«  —  oder  sogenannte  Stach elhaufchen  an 
den  Abdominalsegmenten,  die  Artemien  in  Odessa  besitzen  solche.  Hand 
in  Hand  hiermit  gehen  andere  kleine  Diiferenzen,  auf  welche  wir  oben  bereits 
aufinerksam  gemacht  haben. 

Ahnliche  kleine  morphologische  Unterschiede  pflegen  sich  bekanntlich 
bei  sehr  vielen  räumlich  von  einander  getrennten  Thierformen  nachweisen 
zu  lassen.  In  allen  wesentlichen  Punkten  findet  sich  eine  völlige  Überein- 
stimmung, und  erst  bei  genauer  Untersuchung  lassen  sich  einige  unbedeutende, 
aber  doch  constante  Differenzen  auffinden.  Bei  manchen  Thiergruppen  — 
z.  B.  Mammalia  —  werden  neuerdings  solche  kleinen  Unterschiede  von  einigen 
Forschern  als  genügend  angesehen,  um  daraufhin  neue  Arten  aufzustellen. 
Diefs  ist,  wie  gesagt,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Sache  der  persönlichen 
Entscheidung,  und  es  dürfte  wohl  kaum  möglich  sein,  in  dieser  Beziehung 
allgemein  gültige  Regeln  aufzustellen.  Wir  glauben  am  besten  zu  thun, 
wenn  wir  uns  im  vorliegenden  Falle  darauf  beschränken ,  auf  das  thatsäch- 
liehe  Auftreten  solcher  Localrassen  auch  bei  der  Artemia  salina  hinzuweisen. 

Wir  haben  uns  hier  nicht  mit  der  Frage  zu  beschäftigen,  welchen  syste- 
matischen Werth  diese  besitzen ,  sondern  unsere  Aufgabe  ist  es  nur,  die  Be- 
dingungen zu  prüfen,  unter  welchen  solche  Localrassen  bei  Artemia  entstehen. 

Ganz  gewifs  kann  es  niclit  das  Kochsalz  allein  sein,  das  hier  als  Ent- 
stehungsursache angesehen  werden  darf.  Haben  wir  doch  Artemien  in  Molla 
Kary  zum  Theil  aus  Wasserbecken  von  genau  derselben  Concentrationsstufe 
untersucht,   wie  Schm ankewitsch  seiner  Zeit  bei  den  Artemien  aus  den 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach.  51 

Limanen  von  Odessa.  Der  Salzgehalt  ist  in  beiden  Fällen  durchaus  der 
gleiche  gewesen,  die  kleinen  morphologischen  Differenzen  waren  aber  trotz- 
dem immer  vorhanden,  so  dafe  man  daraufhin  von  einer  besonderen  Local- 
varietät  oder  Localrasse  der  Artemia  salina  bei  Odessa  und  einer  besonderen 
Localvarietät  oder  Localrasse  der  Arteinia  salina  bei  MoUa  Kary  sprechen  kann. 

Nicht  nur  in  morphologischer  Hinsicht  unterscheiden  sich  übrigens 
diese  beiden  Rassen,  sondern  auch  kleine  physiologische  Differenzen  sind 
ihnen  eigenthümlich.  Wie  unsere  Untersuchungen  zeigen,  bewegen  sich  die 
Reactionen  der  Artemia  salina  aus  Molla  Kary  hinsichtlich  der  Gesammt- 
länge  des  Körpers ,  der  Länge  des  Abdomens  und  der  Furca  in  Folge  der 
jeweiligen  Salzconcentration  in  engeren  Grenzen,  als  diefs  bei  der  Artemia 
aus  Odessa  und  wohl  auch  bei  derjenigen  aus  Capo  d' Istria  der  Fall  ist. 
Die  gleichen  Schwankungen  des  Salzgehaltes  haben  also  verschiedene  Schwan- 
kungen in  den  durchschnittlichen  Gröfsenverhältnissen  bei  den  verschiede- 
nen Localrassen  zur  Folge.  Würde  man  Artemia  salina  in  derselben  ein- 
gehenden Weise  von  anderen  Fundstellen  prüfen,  so  würde  man  zweifel- 
los die  Zahl  solcher  durch  geringfiigige  morphologische  und  physiologische 
Eigenthümlichkeiten  ausgezeichneten  Localrassen  noch  sehr  wesentlich  er- 
höhen können. 

Es  ist  somit  klar,  dafs  das  Salz  allein  nicht  im  Stande  gewesen  ist, 
diese  Rassenbildungen  zu  veranlassen,  denn  die  Salzconcentrationen  als  solche, 
wie  sie  sich  an  der  Beaume-Scala  ablesen  lassen,  sind  auch  an  räumlich 
weit  von  einander  getrennten  Fundorten  doch  immer  ungefähr  dieselben; 
es  kehren  im  wesentlichen  immer  die  nämlichen  Procentsätze  von  Kochsalz 
wieder,  mag  auch  sonst  der  Gehalt  des  Wassers  an  Magnesium,  an  Calcium, 
an  Sauerstoff  u.  s.  w.  ein  noch  so  verschiedenartiger  und  abweichender  sein. 

Nicht  also  das  Salz  allein  als  einziger  oder  als  vorzugsweise  wirkender 
Factor,  wie  Schm ankewitsch  es  durch  seine  umfangreichen  Experimente 
und  langjährigen  Beobachtungen  nachweisen  wollte,  fuhrt  bei  dem  uns 
interessirenden  Krebsthierchen  zur  Entstehung  neuer  Formentypen  mit 
dauernden  und  constanten  Eigenschaften,  sondern  das  Auflreten  solcher 
neuen  Formen  mufs  unbedingt  von  anderen  Ursachen  und  andersartigen 
Bedingungen  abhängig  sein.  Wir  sind  zur  Zeit  bei  der  Artemia  salina 
ebenso  wenig  wie  bei  anderen  Thieren  im  Stande,  diese  Bedingungen 
im  einzelnen  genauer  zu  analysiren;  wir  dürfen  aber  wohl  mit  Bestimmtheit 
annehmen,  dafs  die  verschiedenen  Bestandtheile  der  speciellen  chemischen 


52  M.  Samt  ER  und  R.  Heymons: 

Zusammensetzung  des  Wassers,  die  an  den  verschiedenen  Fundorten  immer 
eine  etwas  andersartige  sein  wird,  die  hiervon  abhängigen  verschieden- 
artigen Ernährungsbedingungen,  die  an  verschiedenen  Localitäten  sich  in 
abweichender  Weise  geltend  machenden  klimatischen  Einflüsse,  die  jeweilige 
Intensität  der  Sonnenbeleuchtung  und  andere  Umstände  hierbei  in  Betracht 
kommen  werden  abgesehen  davon,  dafe  auch  innere,  constitutionelle  Ur- 
sachen mafsgebend  gewesen  sein  mögen,  welche  sich  weiter  vererbten  imd 
damit  der  Localrasse  einen  bestimmten  Typus  verliehen.  Es  ist  noch  nicht 
festgestellt,  ob  dieser  oder  jener  der  genannten  Factoren  vielleicht  eine  be- 
sonders entscheidende  und  ausschlaggebende  Bedeutung  besitzt,  man  darf 
aber  sicherlich  behaupten,  dafs  durch  das  Zusammenwirken  solcher  oder 
ähnlicher  Umstände  jedenfalls  ein  sehr  viel  erheblicherer  Einflufs  auf  die 
Entstehimg  besonderer  Rassen  oder  (Local-)  Varietäten  ausgeübt  wird,  als 
dies  seitens  des  von  Schm ankewitsch  so  eingehend  geprüften  Chlor- 
natriumgehalts des  Wassers  der  Fall  sein  kann. 

Eine  dauernde  Fixirung  solcher  speciellen  Formentypen  ist  aber  bei 
der  Artemia  salina,  gerade  wie  dies  bei  zahlreichen  anderen  Thieren  zuzu- 
treffen scheint,  wohl  nur  dann  möglich,  wenn  aufser  den  erwähnten  ver- 
schiedenartigen äufseren  Einflüssen  auch  noch  eine  genügende  räumliche 
Trennung  vorliegt ,  um  Rückschlagserscheinungen  und  Vermischimgen  mit 
anderen  Typen  auszuschliefsen. 

Y.    Die  ßattongen  Branchipos  und  Artemia  und  ihre  Abhängigkeit 

von  den  äufseren  Lebensbedingungen. 

Wir  wenden  uns  zum  Schluls  zu  einem  Vergleich  der  Artemia  mit 
dem  nahestehenden  Genus  Branchipus.  Aus  den  vorstehenden  Mittheilungen 
hat  sich  ergeben,  dafs  bei  der  in  Molla  Kary  vorkommenden  Artemia  zwar 
keine  constanten  Varietäten  auftreten,  von  uns  wenigstens  nicht  beobachtet 
werden  konnten,  dafs  aber  die  Variabilität,  wenn  sie  auch  in  ziemlich  weiten 
Grenzen  sich  bewegt,  sich  doch  im  allgemeinen  an  die  von  Schmanke- 
witsch  beschriebenen  Verhältnisse  anschlie&t.  Es  hat  sich  namentlich  ge- 
zeigt, dafs  im  stärker  salzigen  Wasser  durchschnittlich  die  Körperlänge  eine 
geringere,  die  Beborstung  eine  schwächere  wird,  während  umgekehrt  im 
schwächer  salzigen  Wasser  im  allgemeinen  die  Körperlänge  etwas  zunimmt 
und  die  Beborstung  eine  ausgiebigere  wird. 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  LeacJi.  53 

Da  die  zuletzt  hervorgehobenen  Merkmale  im  grofsen  und  ganzen 
auch  fär  die  vorzugsweise  im  süfsen  Wasser  lebende  Gattung  Branchipus 
als  charakteristisch  angesehen  werden  können,  so  schliefet  sich  jetzt  wohl 
naturgemäfs  die  Frage  an,  in  welcher  Hinsicht  die  Artemia  vom  Branchqms 
sich  unterscheidet ,  und  auf  welchen  Merkmalen  die  Trennimg  dieser  beiden 
Genera  beruht.  Erst  hiernach  wird  es  sich  beurtheilen  lassen,  welche 
Umgestaltungen  und  welche  Veränderungen  noth wendig  wären,  um  wirklich 
eine  Artemia-Vorm  in  eine  -Bran<3Äijpi«-Form  oder  vice  versa  zu  überföhren. 

Schmankewitsch  hat  bekanntlich  besonderes  Gewicht  auf  die  ver- 
schiedene Gliederung  des  Abdomens  bei  den  genannten  beiden  Gattungen 
gelegt.  Noch  in  seiner  ausführlichen  und  letzten  Publication  hebt  er  hervor, 
»dafs  bei  der  Abwesenheit  besonderer  Kennzeichen  bei  Artemia  zum 
Unterschiede  von  Branchipus  man  fiir  das  Genus  Artemia  acht  fufslose  Ab- 
dominalsegmente annehmen  mufSs«,  während  er  für  das  Genus  Branchipus 
neun  solcher  Segmente  als  typisch  und  charakteristisch  bezeichnet.  Freilich 
liest  man  in  seiner  von  Widersprüchen  bekanntlich  nicht  freien  Arbeit 
schon  sehr  bald  darauf  den  Satz:  »Es  wäre  erkünstelt,  auf  Grund  eines 
einzigen  Kennzeichens  (Gliederung  des  Abdomens)  die  einen  Arten  zum 
Genus  Artemia^  die  anderen  zum  Genus  Branchipus  zu  rechnen«  und  er 
f&gt  dann  sogar  noch  ausdrücklich  hinzu:  »es  gibt  andere  Kennzeichen, 
nach  denen  die  Species  von  Branchipus  von  Artemia  zu  unterscheiden  sind«. 
Von  diesen  weiteren  Unterschieden  erwähnt  Schmankewitsch  die  starke 
Entwickelxmg  der  zweiten  Antenne  beim  männlichen  Branchipus  y  die  bei 
demselben  im  Gegensatz  zur  männlichen  Artemia  mit  besonderen  Anhängen 
versehen  ist,  und  ferner  macht  der  Autor  auf  die  im  allgemeinen  stärkere 
Ausbildung  der  Schwanzgabel  und  auf  das  Fehlen  der  Parthenogenese  bei 
Branchipus  aufinerksam. 

Durch  alle  Arbeiten  von  Schmankewitsch  zieht  sich  aber  doch 
in  imverkennbarer  Weise,  gewissermafsen  wie  ein  rother  Faden,  ein  leitender 
Grundgedanke  hindurch,  nämlich  die  Ansicht,  dafs  Artemia  durch  den 
Aufenthalt  in  stärker  ausgesüfstem  Wasser  bestimmte  5rancÄ^pt/5- Charaktere 
annehme.  Nach  der  Leetüre  der  Schmankewitsch'schen  Arbeiten  kann 
der  Leser  auch  nicht  im  mindesten  mehr  darüber  im  Zweifel  sein,  dafs 
diese  Branchipus -Q/YihTBkteve  neben  einigen  anderen  Merkmalen,  wie  z.B. 
der  stärkeren  Beborstung  der  Schwanzgabel,  in  erster  Linie  und  haupt- 
sächlich   in   der  Ausbildung  von   neun   fiifslosen  Abdominalsegmenten   zu 


54  M.  Samt  ER  und  R.  Heymons: 

suchen  sind.  Gerade  die  Existenz  von  neun  fiiMosen  Segmenten  wurde  von 
Schmanke  witsch  (1875)  als  »das  Hauptkennzeichen  des  Genus  Branchtpus* 
hingestellt. 

Unstreitig  gebührt  dem  hervorragenden  Crustaceenforscher  C.  Claus 
(1886)  das  Verdienst,  in  knapper  und  zugleich  in  klarer  und  präciser 
Weise  die  unterscheidenden  Merkmale  von  Artemia  im  Vergleich  zu 
Branchipus  aus  einander  gesetzt  und  auf  die  Bedeutung  derselben  hinge- 
wiesen  zu  haben.  Von  Seiten  der  früheren  Autoren,  von  denen  wir  aufser 
Grube  (1853)  und  Schmankewitsch  (1877)  auch  noch  Simon  (1886) 
erwähnen,  dessen  Arbeit  ungefähr  gleichzeitig  mit  derjenigen  von  Claus 
erschien,  war  die  Charakterisirung  von  Artemia  jedenfalls  noch  nicht  in 
hinreichender  Weise  durchgeführt  worden. 

Claus  hebt  in  erster  Linie  hervor,  dafs  Branchipics  während  seiner 
Larvenentwickelung  ein  Stadium  durchlaufe,  in  dem  er  sich  hinsichtlich 
seiner  abdominalen  Gbederung  gar  nicht  von  Artemia  unterscheidet.  Das 
letzte  Segment  des  Abdomens  stellt  nach  Claus  bei  den  beiden  Formen 
auch  gar  kein  echtes,  den  vorhergehenden  Abdominalsegmenten  gleich- 
werthiges  Metamer  dar,  sondern  es  sei  nebst  den  Furcalästen  als  After- 
stück (Telson  nach  der  neuereu  Terminologie)  zu  bezeichnen.  Der  Unter- 
schied zwischen  den  beiden  Gattungen  beschränkt  sich  also  hinsichtlich 
der  Gliederung  des  Abdomens  nur  auf  den  Umstand,  dafe  bei  Branchipus 
das  Afterstück  mit  seinen  mächtig  entwickelten  Furcalgliedem  segment- 
artig abgesetzt  ist,  während  dasselbe  bei  Artemia  als  unmittelbare  Fort- 
setzung des  vorausgehenden  ebenfalls  8.  Abdominalsegmentes  erscheint  und 
eine  bedeutende  Länge  erreicht. 

Artemia  bleibt  in  dieser  Beziehung  also  noch  dauernd  auf  einer 
mehr  primitiven  und  jugendlicheren  Stufe  stehen  und  wird  schon  während 
derselben  geschlechtsreif.  Dieses  Verhalten  schreibt  auch  Claus  in  Über- 
einstimmung mit  Schmankewitsch    dem   Einflüsse    des  Salzwassers   zu. 

Als  weitere  Gattungscharaktere  der  Artemia  werden  von  Claus  noch 
die  folgenden  Eigenthümlichkeiten  hervorgehoben: 

I.  Die  weite  mediane  Trennung  der  zweiten  Antennen  (oder  Stim- 
hörner),  welche  eine  viel  einfachere,  mehr  den  jugendlichen  Antennen  von 
Branchipus  entsprechende  Form  bewahren,  ohne  im  männlichen  Geschlechte 
die  für  die  Arten  der  letzteren  Gattung  charakteristischen  Fortsätze  und 
Anhänge  zu  bilden. 


Die  Variationen  hei  Artemia  salina  Leach.  55 

2.  Die  Ovarien  zeigen  einen  geringern  Umfang  und  reichen  nicht  in 
die  mittleren  Abdominalsegmente .  herab. 

3.  Die  Windmigen  der  Schalendrflse  verhalten  sich  einfacher,  ohne 
eine  Schlinge  in  das  erste  Beinsegment  zu  senden. 

4.  Von  der  Antennendrflse  persistirt  ein  Überrest  im  ausgebildeten 
Zustand. 

Andere  für  die  Gattung  Artemia  charakteristische  Unterschiede  be- 
treffen nach  Claus: 

1.  Die  bedeutendere  Länge  des  Afterdarms ,  welcher  am  Ende  des 
17.  Segmentes  (6.  Abdominalsegmentes),  bei  Branchipus  erst  im  Endsegmente 
des  Abdomens  beginnt. 

2.  Die  Verkümmerung  des  Maxillartasters ,  welcher  dem  Basalstücke 
des  Eliefers  fast  unbeweglich  anliegt. 

3.  Die  Zahl  und  Stellung  der  Tastborsten  an  den  letzten  Abdominal- 
segmenten. 

4.  Der  Mangel  der  Bauchdrüsen,  w&hrend  Beindrüsen  vorhanden  sind. 

5.  Die  bereits  von  Schmankewitsch  erörterte  Sculptur  des  In- 
teguments,  welche  Claus  zufolge  .wahrscheinlich  auf  den  directen  Einflufs 
des  Salzwassers  sich  zurückföhren  lassen  soll. 

Hinsichtlich  dieses  letztern  Merkmales  müssen  wir  jedoch  bemerken, 
dafs  wir  ihm  keine  besondere  Bedeutung  beimessen  können,  weil  die  be- 
treffende Sculptur,  wie  schon  oben  erwähnt  wurde ,  bei  der  in  MoUa  Kary 
lebenden  Varietät  von  Artemia  überhaupt  nicht  nachzuweisen  war.  Weder 
die  sogenannten  Stachelhäufchen,  noch  besondere  »Haufen  cuticularer 
Zellen«  mit  Borsten  zeigten  sich  an  den  betreffenden  (Abdominal-)  Segmenten 
ausgebildet.  Es  gilt  diefe  für  die  aus  ganz  verschiedenen  Concentrations- 
stufen  stammenden  Exemplare  der  asiatischen  Artemia  salina. 

Bateson  (1894)  hat  sich  in  seinem  Werke  über  die  Variation  haupt- 
sächlich auf  die  Ausführungen  von  Claus  gestützt.  Vor  allem  wendet 
er  Schmankewitsch  gegenüber  ein,  dafs  die  abweichende  Gliederung 
des  Abdomens  nicht  die  einzige  Differenz  zwischen  Branchiptis  und  Artemia 
sei,  sondern  dafs  die  verschiedenartige  Entwickelung  der  zweiten  Antennen 
im  männlichen  Geschlechte  als  ein  viel  entscheidenderes  Kennzeichen  an- 
gesehen werden  müsse.  Es  läge  jedoch  keine  Veranlassung  zu  der  Annahme 
vor,  dafe  die  differenten  Sexualcharaktere  bei  den  beiden  Gattungen  durch 
die  verschiedenartige  Concentration  bedingt  worden  wären. 


56  M.  S A M T £ R  und  R.  Heymons: 

Die  aufserordentlich  nahe  Verwandtschaft  zwischen  Branchipus  und 
Artemia  kann  unserer  Meinung  nach  gar  keinem  Zweifel  unterliegen.  In 
Wirklichkeit  scheint  es  sogar  gar  kein  einziges  durchgreifendes  morpho- 
logisches Merkmal  zu  geben,  welches  allein  ausreichend  ist,  um  die  beiden 
Gattungen  von  einander  zu  trennen.  Wenigstens  ist  bis  zur  Zeit  noch 
kein  derartiges  Unterscheidungsmerkmal  bekannt  geworden.  Die  häufig 
genannte  verschiedenartige  Gestaltung  der  zweiten  Antennen  des  Männchens 
kann  jedenfalls  durchaus  nicht  ohne  weiteres  zur  absoluten  Trennung  ver- 
werthet  werden.  Es  ist  somit  auch  nicht  richtig,  wenn  Claus  schreibt, 
dafs  bei  Artemia  die  zweiten  Antennen  median  in  weitem  Abstände  getrennt 
bleiben,  während  sie  bei  Branchipus  verwachsen  sind,  denn  das  von  uns 
untersuchte  männliche  Artemia ''Exem^^lar  zeigt  ganz  deutlich  die  mediane 
Verwachsung  der  Antennen,  so  dafs  hiermit  im  Princip  genau  das  gleiche 
Verhalten  wie  bei  Branchipits  zu  Tage  tritt. 

Ebenso  wenig  können  wir  Bateson  beipflichten,  welcher  sagt:  »It 
should  be  remembered  that  by  the  sexual  character  of  the  males,  Bran- 
chipua  is  absolutely  separated  from  Artemia^.  Gewifs  finden  sich  einige 
relative  Unterschiede  in  den  Gröfsen-  .und  Formverhältnissen,  aber  eine 
absolute  Trennung  von  Branchipus  und  Artemia  wird  durch  dieselben  nicht 
bedingt. 

Bateson  stützte  sich  besonders  auf  die  verschiedene  Gestaltung  der 
männlichen  Greifantennen,  welche  bei  der  Gattung  Branchipus  niemals  die 
charakteristische  blattförmige  Verbreiterung  wie  bei  Artemia  saUna  und 
Artemia  gracilis  zeigen  sollen.  Gerade  diesen  Punkt,  der  uns  fraglich 
erschien,  haben  wir  nun  einer  Nachprüfung  unterzogen,  sind  dabei  aber 
zu  wesentlich  abweichenden  Resultaten  gekommen. 

Die  blattförmige  Gestalt  ist  nämlich  schon  bei  den  beiden  genannten 
Artemia-Artexi^  salina  und  gracilis^  eine  verschiedene.  Bei  der  ersteren  Form 
handelt  es  sich  um  ein  breites,  fast  dreieckiges  Gebilde,  das  von  dem 
zweiten  und  dritten  Antennengliede  gebildet  wird,  bei  der  letztgenannten 
Form,  die  wir  an  einigen  Stücken  aus  Earajak  Nunatak  von  Grönland 
untersuchten ,  ist  dagegen  der  betreffende  Theil  der  Antennen  lang  gestreckt, 
lanzettförmig  und  nur  basal  verbreitert.  Wendet  man  sich  nun  zur  Bran-^ 
chipus-Gruppe  und  untersucht  die  mämiliehen  Antennen  von  Branchinecta 
paludosa^  so  ist  der  Formenunterschied  im  Vergleich  zu  den  Antennen 
der   Artemia  gracilis  keineswegs   ein    irgendwie   wesentlicher.    Wir   treffen 


Die  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach.  57 

bei  BrancMnecta  paludoea  wieder  dasselbe  lanzettförmige  Gebilde  an ,  dessen 
basale  Erweiterung  etwas  umgebogen  ist.  Diese  Umbiegung  an  der  basalen 
Partie  des  zweiten  Antennengliedes  ist  aber  nicht  von  Bedeutung ,  denn 
sie  zeigt  sich  an  der  nämlichen  Stelle  sogar  schon  bei  Artemia  saUna  an- 
gedeutet, worauf  wir  bereits  oben  hingewiesen  hatten.  Noch  ein  Schritt 
weiter  fahrt  uns  zu  den  Antennen  von  Brandiipus.  Durch  weitere  Streckung 
und  Umbiegung  hat  sich  die  basale  Erweiterung  ausgeglichen  und  die 
Antenne  ist  zu  einem  mehr  stabf5rmigen  Organ  mit  rundlichem  Quer- 
schnitt geworden.  Schon  bei  Untersuchung  dieser  wenigen  Vertreter  zeigt 
es  sich  alsOy  dafis  die  Formenunterschiede  in  der  Gestaltung  der  männ- 
lichen Antennen  sich  bei  den  beiden  Gattungen  Branchipus  und  Artemia 
durchaus  nicht  unvermittelt  einander  gegenüberstehen.  Bei  der  Unter- 
suchung einer  grOlseren  Zahl  verschiedener  Branchipodiden  würden  sich 
wohl  zweifellos  noch  manche  weitere  Übergänge  dieser  Art  feststellen 
lassen.  Wir  kommen  demnach  zu  dem  Ergebnils ,  dals  es  sich  nicht  um 
ein  specifisches  Merkmal  handelt,  wenn  in  dem  einen  Falle  die  Antennen- 
glieder mehr  flach  und  blattförmig,  in  dem  anderen  Falle  mehr  lanzett- 
förmig und  abgerundet  sind,  denn  diese  Formenunterschiede  können  sogar 
innerhalb  der  Ar^^titi- Gruppe  und  innerhalb  der  £rancAi]pti8- Gruppe  bei 
verschiedenen  Arten  in  recht  verschiedenem  Mafse  ausgeprägt  sein.  Es 
kann  auf  solche  Formenunterschiede  um  so  weniger  Gewicht  gelegt  werden, 
als  sowohl  die  morphologische  als  auch  die  physiologische  Bedeutung  der 
genannten  EOrperpartie  in  allen  Fällen  immer  die  gleiche  ist. 

Abgesehen  von  dem  eben  besprochenen,  von  Bateson  hervor- 
gehobenen Merkmal  pflegt  nun  auch  häufig  Gewicht  darauf  gelegt  zu 
werden,  dafs  bei  den  männlichen  BrancMptis  die  Greifantennen  besondere 
Fortsätze  und  Anhänge  tragen,  welche  den  Arfemta- Männchen  fehlen. 
Hier  heilst  es  indessen  keine  Regel  ohne  Ausnahme,  denn  die  genannten 
Anhänge  fehlen  auch  bei  Branchinecta  pahuiosa  und  ferox ,  zwei  in  anderer 
Beziehung  typischen  BrancÄ^ptw-Formen ,  welche  also  in  diesem  einen  Merk- 
mal wieder  absolut  mit  der  Artemia  übereinstimmen  und  deswegen  in  der 
von  Simon  (1886)  gegebenen  Übersicht  der  eiu*opäischen  Branchipodiden 
sogar  thatsächlich  zu  der  Artemia-Gnippe  gestellt  wurden.  Jedenfalls  kann 
den  Fortsätzen  der  männlichen  Antennen  kein  besonderer  Werth  zugeschrieben 
werden.  Übrigens  hat  auch  schon  Schmankewitsch  darauf  aufmerksam 
gemacht,   dafs  die   knopfförmigen   Höcker,   die  an   den  Basalgliedern   der 

i%5.  Abh.  nicht  zur  Ähad.  gehör.  Gelehrter,    1902.    IL  8 


58  M.  Samt  ER  und  R.  Heymons: 

zweiten  Antennen  beim  Artemia'-M&nnchen  sich  vorfinden ,  als  ein  Rudiment 
oder  als  eine  Andeutung  der  in  Rede  stehenden  Anhänge  des  Branchipus- 
Männchens  aufzufassen  seien.  Wir  können  uns  dieser  Deutung  von 
Schmankewitsch  anschliefsen.^ 

Falst  man  das  Gesagte  zusammen,  so  ergibt  sich,  dais  zwar  im  all- 
gemeinen und  im  grofisen  und  ganzen  gewisse  Verschiedenheiten  in  den 
hervorgehobenen  Sexualcharakteren  bei  den  Arten  der  Artemia- Gruppe  einer- 
seits und  bei  den  Arten  der  Branchipus-GfTxyp^e  andererseits  vorhanden  sind, 
dafs  es  aber  keineswegs  richtig  ist,  wenn  nian  erklärt ,.  dafis  durch  diese 
Charaktere  ohne  weiteres  eine  scharfe  und  absolute  Trennung  der  beiden 
Gattungen  bedingt  würde. 

Die  Sache  liegt  demnach  so,  dafs  nicht,  wie  Schmankewitsch  es 
ursprünglich  wollte,  und  wie  auch  noch  neuerdings  Bateson  gemeint  hat, 
ein  Einzelnes  oder  einige  wenige  Eigenschaften  in  Betracht  kommen,  son* 
dern  dafs  eine  ganze  Summe  verschiedenartiger,  zum  Theil  sogar  die  innere 
Organisation  betreffender  Merkmale  entscheidend  sind,  ob  eine  Art  zu 
Branchipus  oder  zu  Artemia  zu  stellen  ist. 

Im  allgemeinen  läfst  sich  sagen ,  dafs  Artemia  im  Gregensatz  zu  Branchi- 
pus eine  Reihe  primitiver  Charaktere  aufweist,  daCs  sie  oiehr  larvale  Eigen« 
thümlichkeiten  ziu*  Schau  trägt  und  daher  gewissermafsen  auf  einer  niederen 
Entwickelungsstufe  verharrt,  während  BrancJüpus  eine  weiter  fortgeschrittene, 
oder  im  Sinne  von  Schmankewitsch  gesprochen,  eine  weiter  progressiv 
entfaltete  Thierform  darstellt. 

Gewils  liegt  die  Vermuthung  sehr  nahe,  dafs  die  im  Grunde  genommen 
doch  recht  geringfiigigen  Gattungsunterschiede  von  Branchipus  und  Artemia 
dadurch  entstanden  sind,  daOs  sich  die  erstere  Form  im  allgemeinen  an 
das  Süfswasser,  die  zweite  Form  im  allgemeinen  an  das  Salzwasser  an- 
gepaßt hat,  und  dafs  es  dann  eben  in  Folge  der  verschiedenartigen  Lebens- 
weise allmählich  zu  einer  Consolidirung,  zu  einer  Befestigung  der  vor- 
herrschenden Gattungscharaktere  gekommen  ist. 

Es  ist  aber  wohl  kaum  erforderlich  ausdrücklich  hervorzuheben,  da& 
wir  hiermit  nur  einer  allerdings  naheliegenden  und  daher  auch  schon  von 


^  Es  ist  nicht  ohne  Interesse,  d&£s  die  knopffÖrmigen  Höcker  auch  an  den  Antennen 
eines  weiblichen  Artemia -\ndiw\dM\xms  von  uns  gefunden  wurden,  so  dafs  es  in  diesem  ein- 
zelnen  Falle  zu  einer  Übertragung  eines  wenn  auch  nur  untergeordneten  Sexualcharakters 
auf  das  andere  Geschlecht  gekommen  ist 


Die  Variationen  bei  Ariemia  salina  Leach.  59 

anderer  Seite  ausgesprochenen  Annahme  Ausdruck  geben.  Es  handelt  sich 
hierbei  ausschliefslich  um  eine  Hypothese,  flir  welche  sich  lediglich  einige 
Wahrscheinlichkeitsgründe  geltend  machen  lassen.  Namentlich  ist  der  Um- 
stand zu  erwähnen,  dais  heutzutage  weitaus  die  meisten  Arfemea  -  Formen 
im  Salzwasser,  und  weitaus  die  meisten  BraruMpus-Yormeni  im  Süi^wasser 
leben.  Dies  spricht  sicherlich  för  ein  gewisses  ursächliches  Verhältnils, 
das  zwischen  der  Lebensweise  und  der  allmählichen  Fixirung  der  Gattungs- 
charaktere bestanden  hat.  Femer  ist  es  auch  wohl  nicht  ohne  Bedeutung, 
dafs  bei  Artemia  durchschnittlich  die  meisten  Variationen  im  schwachsalzigen 
Wasser  eine  gewisse  Annäherung  an  die  Brandiipus-^Y ormeUy  im  starksalzigen 
Wasser  eine  Entfernung  von  ihr,  wenn  auch  nur  in  recht  untergeordneten 
Merkmalen,  zu  erkennen  geben.  Wenn  auch  alle  diese  Variationen  sich 
immer  streng  innerhalb  der  Artgrenze  der  typischen  Artemia  salina  bewegen, 
und  sie  niemals  zur  Entstehung  eigener  gesonderter  Typen  führen ,  so  mag 
doch  immerhin  dieser  Umstand  zu  Gunsten  eines  bestimmten  Einflusses  der 
äu&eren  Lebensbedingungen  auf  den  Organismus  der  uns  interessirenden 
Phyllopoden  sprechen.  Insoweit  und  in  diesem  Sinne  haben  unsere  Er- 
gebnisse zu  einer  gewissen  Bestätigung  der  Darlegungen  von  Schmanke- 
witsch  gef&hrt. 

Von  der  thatsächlich  vorhandenen  Einwirkung  des  Salzes  auf  den 
Körperbau  der  Artemia  salina  bis  zur  Entstehung  einer  neuen  Art  oder  gar 
der  Gattung  BrancMpus  ist  aber  ein  weiter  Weg!  Ein  wirklicher  Beweis, 
dafs  nur  und  allein  die  Anpassung  an  einen  bestimmten  Salzgehalt  und 
damit  an  verschiedenartige  Lebensbedingungen  die  Trennung  der  in  Rede 
stehenden  beiden  Genera  bedingt  hat,  wflrde  erst  dann  geffthrt  sein,  wenn 
es  gelingen  würde,  sei  es  durch  Beobachtung  in  freier  Natur,  jsei  es  auf 
experimentellem  Wege,  den  Übergang  der  einen  Gattung  in  die  andere  bei 
veränderten  Lebensverhältnissen  festzustellen.  Die  Art  und  Weise  der 
Sehmankewitsch 'sehen  Publicationen  hat  wohl  anfangs  der  Meinung, 
daXs  diefs  in  der  That  möglich  sei,  gewissen  Vorschub  geleistet.  In  Wirk- 
lichkeit ist  aber  ein  solcher  Nachweis  niemals  gefiihrt  worden,  und  der 
genannte  Autor  hat  sich  sogar  in  seiner  letzten  Schrift  ausdrücklich  gegen 
eine  derartige  Deutung  seiner  Funde  verwahrt. 

Die  Gattungscharaktere  von  Branchipus  und  Artemia  ^  mögen  sie  seiner 
Zeit  wirklich  nur  durch  den  Einflufs  des  Chlomatriiungehaltes  von  Seiten 
des  umgebenden  Mediums,  oder  mögen  sie,  was  doch  gleichfalls  sehr  leicht 


60  M.  Samter  und  B.  Heymons: 

möglich  ist,  noch  aus  anderen  uns  unbekannten  Ursachen  entstanden  sein, 
haben  sich  allem  Anscheine  nach  in  der  Gegenwart  doch  schon  so  weit 
gefestigt,  sie  sind  bereits  schon  so  weit  constant  und  dauernd  geworden, 
dafs  die  Überführung  der  einen  in  die  andere  Form  unserer  Meinung  nach 
nimmehr  vollkommen  ausgeschlossen  ist.  Jedenfalls  verwandelt  sich  bei 
verändertem  Salzgehalt  weder  Branchipus  in  eine  Ärtemia^  noch  wird  die 
Artemia  zu  einem  BranMpus.  Wir  verweisen  hierbei  auf  diejenigen  Falle, 
in  denen  sowohl  Artemia^  wie  Brand^ptis*  Arten  ausnahmsweise  auch  unter 
Bedingungen  leben  können,  die  eigentlich  der  anderen  Gattung  eigenthüm- 
lieh  sind,  während  sie  dabei  doch  keineswegs  ihre  specifischen  Merkmale 
einbüfsen. 

Von  Interesse  sind  in  dieser  Beziehimg  besonders  die  Beobachtungen 
von  Grochowski  (1895),  der  aus  dem  süfeen  Vranasee  auf  der  Insel  Cherso 
eine  typische  Artemia-Form  (Calaanella  dyhowskn)  beschrieben  hat.  Wenn 
auch  von  Grochowski  die  Eigenthümlichkeiten  der  inneren  Organisation 
dieses  Thierchens  nicht  untersucht  wurden,  und  somit  also  noch  nicht 
sämmtliche  in  Betracht  kommenden  Merkmale  geprüft  worden  sind,  so  ist 
CaUwneüa  in  ihrem  ganzen  Habitus,  in  dem  Vorhandensein  von  acht  Aifslosen 
Abdominalsegmenten,  in  dem  Fehlen  von  Anhängen  an  den  zweiten  Antennen 
des  Männchens  eine  echte  Artemia  und  kein  Branchipus.  Calaanella  ist  so- 
mit trotz  des  fehlenden  Einflusses  von  Salzwasser  (wir  stützen  uns  auf  die 
Angaben  von  Grochowski)  nicht  zu  einer  progressiven  Entwickelung,  zu 
einer  Erwerbung  von  ^rancAijpt^- Charakteren  f&hig  gewesen. 

Umgekehrt  zeigen  sich  Branchipus-^Formen  (Branchipus  ferox  und spinosus) 
im  salzigen  Element,  welche  trotz  des  Salzes  ihre  JSrancA^jpw- Charaktere  bei- 
behalten und  nicht  die  typischen  Merkmale  von  Arternia  gewinnen. 

Ebenso  wenig  wie  gegenwärtig  in  der  freien  Natur  noch  eine  Artemia 
zu  einem  Branchipus  oder  umgekehrt  werden  kann,  so  wird  es  sicherlich 
auch  niemals  gelingen,  auf  künstlichem  Wege  in  den  Aquarien  die  eine 
Thierform  in  die  andere  zu  Überföhren. 


Die  Variationen  bei  Artemia  saUna  Leach.  61 


Litteratorverzeiolmifs. 

1.  Bateso n,  W.     Materiab  for  the  study  of  Variation.     London  1894. 

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5.  Derselbe.     Übersicht  der  BrancMpuS'kvitn  Ungarns.      Math.  u.  naturw.  Berichte  aus 
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10.  Grochowski,  M.  Über  eine  neue  im  Susswasser  lebende  Species  von  Artemia.  Ver- 
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12.  Hertwig,  R.  Mit  welchem  Recht  unterscheidet  man  geschlechtliche  und  ungeschlecht- 
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13.  Korscheit  u.  Ueider.  Lehrbuch  der  vergleichenden  Entwickelungsgeschichte  der  wir- 
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14.  Lauterborn,  R.  Über  die  cyklische  Fortpflanzung  limnetischer  Rotatorien.  Biolog. 
Centralblatt.     Bd.  XVIII.     1898. 

15.  Milnes-Edwards.     Uistoire  naturelle  des  Crustac^s.     Bd.  III.     1840. 

16.  Nufsbaum,  M.  Die  Entstehung  des  Geschlechts  bei  Hydatina  senta.  Arch.  mikr. 
Anat.     Bd.  XLIX.     1897. 

17.  Packard,  A.  Branchinecta  paludosa,  A  monograph  of  the  Phyllopod  Crustacoe  of 
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19.  Derselbe.  Einige  Ki*ebse  der  Salzseen  und  aüfsen  Gewässer  und  ihr  Verbal tnifs  zu 
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20.  Derselbe.  Über  das  Verhältnifs  von  Artemia  salina  M.  Edw.  zur  Artemia  mühauseni 
M.  Edw.  und  dem  Genus  Branchipus  Schaff.     Zeitschrift  f.  w.  Zool.  Bd.  XXV.     1875. 

Phys.  Abh.  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter.   1902.    II.  9 


62     M.  Samter  u.  R.  Hetmons:  Variationen  bei  Artemia  salina  Leach. 

21.  Derselbe.     Zur  Kenntnifs  des  Einflusses  der  äufseren  Lebensbedingungen  auf  die  Or- 
ganisation der  Thiere.     Zeitschr.  f.  w.  Zool.    Bd.  XXIX.     1877. 

22.  Schulze,  F.  E.     Nomenclaturfragen.      4.   Subspecies   und  Varietas.     Zoolog.  Anzeiger. 

Bd.  XXV.     N0.663.     1902. 

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23.  Simon,  E.     Etüde  sur  les  crustaces  du  sous- ordre  des  Phyllopodes.     Annales  de  la 
societe  entomologique  de  France.     1886. 

24.  Uzel,  M.     Monographie  der  Ordnung  Thystmoptera,     Königgrätz  1895. 

25.  Walter,  A.    Transkaspische  Binnencrustaceen.    Zool.  Jahrbücher,  Abth.  System.  Geogr. 
Bd.  III.     1888. 


Ossa  Leibnitii. 


Von 

Prof.  Dr.  W.  KRAUSE 

in  Berlin. 


Phys.  Abh,  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter.    1902.    III.  1 


Vorgelegt  in  der  Gesammtsitzung  am  24.  Juli  1902 
[Sitzungsberichte  St  XXXVIII.  S.  864]. 

Zum  Druck  eingereicht  am  gleichen  Tage,  ausgegeben  am  16.  August  1902. 


Am  4.  Juli  1902  wurde  durch  Hrn.  Architekten  Schaedtler  das  Grab  von 
Gottfried  Wilhelm  Freiherm  von  Leibniz  in  der  Neustädter  Kirche  zu 
Hannover  aufgedeckt.  Der  Grabstein  trug  die  Aufschrift  »Ossa  Leibnitii 
f  1716«.  Diese  Inschrift  ist  aber  erst  später,  jedenfalls  vordem  Jahre  1830, 
gesetzt  worden.  Es  können  nach  den  vorliegenden  Nachrichten  Zweifel 
darüber  bestehen,  ob  die  Inschrift  an  der  richtigen  Grabstätte  angebracht 
worden  ist,  zumal  die  Kirchenbücher,  welche  Aufschluls  geben  könnten, 
wie  es  scheint,  verloren  gegangen  sind.  Weiteres  hierüber  findet  man 
bei  Kuno  Fischer:  Gottfried  Wilhelm  Leibniz.  Leben,  Werke  und 
Lehre.  4.  Aufl.  Heidelberg  1902,  S.  297  und  im  Hannoverschen  Tage- 
blatt, Nr.  199  vom  20.  Juli  1902.  £s  wurde  auch  vermuthet,  dafs  die  Leiche 
des  grolsen  Mannes,  der  zu  Hannover  am  14.  November  17 16  gestorben 
war,  in  ihrem  ersten  Sarge  nicht  bestattet  worden  sei.  Sie  sei  vielmehr, 
nachdem  sie  in  diesem  Sarge  mehrere  Wochen  in  einem  Gewölbe  der  Kirche 
gestanden  habe,  in  einen  anderen,  einfacheren  Sarg  gelegt  und  in  diesem 
in  der  Kirche  bestattet  worden.  Wir  wissen  nichts  über  die  Gründe,  die 
zu  diesem  Verfahren,  wenn  es  überhaupt  als  sicher  anzusehen  ist,  geführt 
haben  könnten.  Vielleicht  war  es  der  freie  Standpunkt  des  Philosophen 
in  religiösen  Dingen,  der  Schwierigkeiten  entstehen  liefs.  Dafar  spricht, 
dafs  man  ihn  im  Volke  in  Verdrehung  seines  Namens  »Loewenix«  (Glaube- 
nichts) benannte  und  dafs  er  von  Niemand  als  seinem  Gehülfen  Eck  hart 
(auch  Eccard  oder  Ekhard  geschrieben)  zur  Gruft  geleitet  wurde.  Über 
diese  Dinge  lesen  wir  verschiedene  Angaben.  Kuno  Fischer,  a.  a.  0. 
S.  299,  giebt  nach  »Doebner,  Briefwechsel  mit  Bernstorff,  S.  20«  an, 
dafe  Leibniz  erst  vier  Wochen  nach  seinem  Tode,  am  14.  December 
1 7 1 6 ,  beerdigt  sei ;  vorher  sei  der  Leichnam  vorläufig  in  einem  Gewölbe 
der   Kirche  beigesetzt  gewesen.    Es   sei   nicht  wahr,   daJfe  Eck  hart,  wie 


4  W.  Krause: 

dieser  es  berichte,  allein  die  Sorge  ftlr  die  Bestattung  auf  sich  genommen 
habe.  Andreae  (Chronik  der  Residenzstadt  Hannover,  1859,  S.  163)  sagt, 
dafs  Leibniz  ganz  in  der  Stille,  nur  von  seinem  getreuen  Freunde  Eccard 
begleitet,  in  der  Neustadter  Kirche  am  14.  November  17 16  beigesetzt 
worden  sei.  Die  Nachricht  Andreae's  dürfte  ein  Schreibfehler  sein  (No- 
vember statt  December)  und  ist  keinesfalls  im  Datimi  genau,  da  Leibniz 
am  14.  November  erst  in  der  zehnten  Abendstunde  gestorben  ist(6uhrauer: 
Leibniz,  Th.  II,  S.  328ff.,  citirt  nach  Kuno  Fischer). 

Dafs  Eckhart  ein  wahrer  Freund  Leibniz ens  gewesen  sei,  wird 
von  Kuno  Fischer  mit  guten  Gründen  bestritten;  es  ist  daher  auch  den 
Angaben  Eckhards  kein  besonderes  Vertrauen  zu  schenken. 

Das  Grab  war,  wie  das  aus  dem  weiter  unten  mitgetheilten  Befimde 
erhellt,  meistentheils  oder  doch  sehr  häufig  von  Grundwasser  getränkt. 
Als  es  am  4.  Juli  1902  geöflfhet  wurde,  zeigte  es  sich,  daXs  es  schon  ein- 
mal seitlich  erbrochen  gewesen  war,  indem  drei  Reihen  von  Mauersteinen 
an  der  Ost -Seite  weggenommen  und  kunstgerecht  wieder  eingemauert 
worden  waren.  Man  hat  keine  Kenntnifs  davon,  weshalb  dies  geschehen 
sei;  nach  Aussage  des  Hrn.  Schaedtler  war  die  Öffnung  nicht  grofis  ge- 
nug, um  einen  Erwachsenen  durchzulassen. 

Nach  den  angeführten  Daten  kann  es  zweifelhaft  erscheinen,  ob  die  in 
der  mit  »Ossa  Leibnitii«  bezeichneten,  am  4.  Juli  1902  eröffneten  Gruft  vor- 
gefundenen, von  mir  untersuchten  und  im  Nachfolgenden  beschriebenen 
Gebeine  in  der  That  die  Gebeine  von  Leibniz  waren.  Ich  nahm  die 
Untersuchung  im  Auftrage  von  Prof.  Waldeyer  erst  am  9.  Juli  d.J.  vor, 
indem  ich,  alsbald  nach  dem  Eintreffen  der  von  Hm.  Architekten  Schaedt- 
ler an  Prof.  Waldeyer  gelangten  Mittheilung,  nach  Hannover  mich  be- 
gab. In  unseren  Händen  befindet  sich  eine  amtliche  Beglaubigung  des 
Pastor  Primarius  Mohr  von  der  Neustädter  St.  Johanniskirche ,  dafs  in- 
zwischen die  der  Grabstätte  entnommenen  Gebeine  in  der  Sacristei  imter 
Verschlufs  gehalten  waren,  bis  sie  mir  übergeben  wurden.  Was  ich  also 
untersucht  habe,  waren  thatsächlich  die  der  Gruft  mit  der  Bezeichnung 
»Ossa  Leibnitii«   entstammenden  Gebeine. 

Nun  fragt  es  sich  aber,  wie  gesagt,  sind  das  wirklich  Leibnizens 
Gebeine?  Offenbar  kann  man  bei  den  unsicheren  geschichtlichen  Angaben, 
die  wir  nur  besitzen ,  sich  zur  Feststellung  der  Identität  des  ausgegrabenen 
Skelets  nur  an  anatomische  Merkmale  halten.    Es  soll  deshalb  gleich  hier 


Ossa  LeämiüL  5 

bemerkt  werden,  dafs  an  der  Identität  des  Skelets  kein  Zweifel  bestehen 
kann.  Das  Skelet  war  das  eines  alten  Mannes,  dem  die  oberen  Vorder- 
zahne fehlten,  mit  langem  Untergesicht,  Anchylose  des  Phalangengelenkes 
der  rechten  grofsen  Zehe  und  einer  Knochengeschwulst  am  unteren  Ende 
der  linken  Tibia.  Leibniz,  der  am  i.  Juli  1646  (N.  St.)  geboren  war,  hatte 
aber  ein  Alter  von  70  Jahren  erreicht  und  an  Podagra  und  einem  Fufs- 
leiden  gelitten  (Andreae,  a.a.O.  S.  157),  so  dafs  er  längere  Zeit  vor 
seinem  Tode  im  Gehen  behindert  gewesen  war.  Auch  stimmt  die  I^nge 
des  Skelets  mit  seiner  Statur,  wie  sie  uns  wohlbeglaubigt  überliefert  ist, 
überein,  sowie  die  Form  des  in  der  Gruft  vorgefundenen  Schädels  mit 
seiner  von  ihm  selbst  behaupteten  slavischen  Herkunft. 

Die  Knochen  des  Skelets  waren  sehr  nafs,  braunschwarz,  von  Grund- 
wasser durchtränkt.  Der  Sarg,  von  Eichenholz,  war  in  kleinere  Stücke  zer- 
fallen; die  Beschläge  bestanden  aus  Zinn  und  Blei,  waren  gröfstentheils  zer- 
stört und  zeigten  niedliche  Engelsköpfchen ,  als  ideale  Grabwächter,  wie  sie 
in  Gräbern  aus  jener  Zeit  häufig  vorkommen.  Es  wurde  aber  gar  nichts 
von  den  zahlreichen  Verzierungen  und  Emblemen  aufgeftmden,  welche  dem 
ersten  Sarge ,  aus  dem  die  Leiche  wieder  herausgenommen  war,  zugeschrieben 
werden.  Die  Knochen  lagen  in  feuchter  schwarzer  Humuserde,  wie  sie  aus 
dem  Zerfall  von  pflanzlichen  und  thierischen  Geweben  hervorgeht,  dazwischen 
viele  eiserne,  zum  Theil  an  den  Spitzen  umgebogene  Sargnägel. 


Der  Schädel  war  bei  der  Herausnahme  nafs,  braunschwarz,  nach  dem 
Trocknen  braungelb.  Der  Unterkiefer  war  ebenfalls  nafs  und  pafste  sehr 
genau  in  seine  Gelenkgruben  am  Schädel.  Alle  Messungen  wurden  an  den 
noch  feuchten  Knochen  vorgenommen,  wobei  ich  mich  der  Assistenz  des 
Hm.  Dr.  Berthold  in  Hannover  in  dankenswerthe^ster  Weise  zu  erfreuen 
hatte. 

Die  Dimensionen  des  Schädels  betrugen  in  Millimetern: 

Gerade  Länge 175 

Grofste  Länge 172 

Intertuberallänge 1 70 

Grölste  Breite 158 

Kleinste  Stirnbreite 97 

Ganze  Hohe 116 

Hülfshohe 117 


6  W.  Krause: 

Ohrhöhe 114 

Hulfs-Ohrhühe — 

Länge  der  Schädelbasis 98 

Breite  der  Schädelbasis 107 

Länge  der  Pars  basilaris 22 

Gröfste  Länge  des  Foramen  magnum 36 

Gröfste  Breite  des  Foramen  magnum 32 

Horizontalumfang  des  Schädels 519 

Sagittalumfang  des  Schädels 353 

Verticaler  Querumfang  des  Schädels 328 

Gesichtsbreite 97 

Jochbreite 133 

Gesichtshohe 114 

Ober-  (Mittel-)  Gesichtshöhe 64 

Nasenhöhe 51 

Gröfste  Breite  der  Nasenöffnung 25 

Gröfste  Breite  des  Augenhöhleneinganges . .  46 
Horizontalbreite  des   Augenhöhleneinganges       45 

Gröfste  Höhe  des  Augenhöhlen einganges  . .  34 

Verticalhöhe  des  Augenhöhlen  einganges  ...  34 

Gaumenlänge 58 

Gaumenmittelbreite 45 

Gaumenendbreite 44 

Profillänge  des  Gesichtes 99 

Profilwinkel 85» 

Capacität  des  Schädels  (mit  Graupen)  . .  1422«*^"* 

Hieraus  ergeben  sich  folgende  Indices: 

90.3  hyperbrachycephal, 
66.3  chamäcephal, 
85®    orthognath, 
II  7.5  schmalgesichtig, 
63.9  schmales  Obergesicht, 
85.7  chamäprosop, 
48.1  chamäprosopes  Obergesicht, 
75.6  chamäconch, 
49.0  mesorrhin, 

77.6  leptostaphylin, 

56.7  Calottenhöhe. 

Der  Schädel  war  rundlich,  kaum  von  mittlerer  Gröfee,  hyperbrachy- 
cephal  und  chamacephal,  femer  schmalgesichtig.  Der  Unterkiefer  kräftig 
und  von  dem  vorspringenden  Kinn  bis  zum  oberen  Rande  der  Alveole  des 
medialen  Schneidezahnes  3 3""  hoch,  während  die  Differenz  zwischen  Gresichts- 
höhe  (114°°*)  und  Obergesichtshöhe  (64"")  sehr  bedeutend  sich  herausstellt. 


Ossa  Leibnitü.  7 

Der  Sch&del  war  sehr  gut  erhalten,  zeigte  nur  mehrfache,  kleine,  beim 
Ausgraben  entstandene  Verletzungen.  Die  rechte  Stirnhöhle  war  eröühet, 
1 5"^  tief.  Die  Ossa  lacrimalia  sehr  beschädigt.  Das  rechte  Nasenbein  stark 
beschädigt,  das  linke  nur  wenig.  Alle  Schädelnähte  waren  verwachsen, 
mit  Ausnahme  der  Suturae  squamosae,  der  mittleren  Abschnitte  der  Kranz- 
naht an  beiden  Seiten,  und  einem  kleinen  hintersten  Stück  der  Pfeilnaht. 

Der  Schädel  zeigt  ziemlieh  bedeutende  Processus  und  Cristae,  nur  die 
Processus  coronoidei  des  Unterkiefers  sind  klein  und  schmal.  OhrOffnungen 
trichterförmig,  Pori  acustici  extemi  und  Meatus  auditorii  extemi  sehr  eng. 
Processus  styloidei  spitz  und  ziemlich  lang;  die  Condyli  occipitales  sind 
flach.  Der  Schädel  zeigt  eine  lange  Reihe  von  nicht  gewöhnlichen  Bildungen 
und  Abnormitäten.  Er  ist  sehr  asymmetrisch  (s.  d.  Abbildungen),  die  linke 
Hälfte  der  Squama  occipitalis  ist  stark  nach  hinten  vorgewulstet.  Die  Linea 
nuchae  superior  ist  an  der  linken  Seite  viel  stärker,  verläuft  höher  und  steigt 
steiler  empor.  Schwacher  Torus  occipitalis  transversus.  Linea  nuchae  inferior 
sehr  stark  entwickelt.  Linkerseits  zeigt  sich  an  der  Squama  frontalis  in 
der  Profilansicht  (auch  auf  der  Photographie)  ein  rundlicher  glatter  Höcker 
von  etwa  i  *"  Durchmesser  und  ein  paar  Millimeter  Höhe ,  dicht  vor  dem  un- 
teren Ende  der  Sutura  coronalis ,  in  gleicher  Höhe  mit  dem  linken  Processus 
zygomaticus  oss.  frontalis  und  1 8"™  hinter  letzterem  Fortsatz.  Die  Lage  dieses 
Höckers  entspricht  dem  unteren  Ende  der  dritten  Stimwindung,  er  befindet 
sich  jedoch  nicht  unbeträchtlich  nach  vorn  von  der  Fissura  cerebri  lateralis. 

Entsprechend  der  linken  Mastoidfontanelle  findet  sich  ein  Schaltknochen 
von  etwa  i*"  Durchmesser.  An  beiden  Pori  acustici  extemi  sehr  kleine  Spinae 
supra  meatum.  Der  Sattelwinkel,  woselbst  die  medianen  Axen  der  Pars 
basilaris  oss.  occipitalis  und  des  Corpus  oss.  sphenoidalis  zusammenstofsen, 
dürfte  sehr  grofs  sein. 

Gesicht.  Die  Asymmetrie  des  Schädels  setzt  sich  auf  das  Gesicht  fort. 
Die  Medianebene  ist  unterhalb  der  Sutura  nasofirontalis  nach  links  convex 
ausgebogen,  dann  in  der  Nase  nach  rechts  convex,  an  der  Alveole  des 
linken  medialen  Schneidezahnes  wiederum  nach  rechts  convex.  Es  ist 
nämlich  die  Sutura  internasalis  nach  links  convex  gebogen,  das  Septum 
nasi  osseum  nach  rechts  convex,  die  Alveole  des  Incisivus  medialis  siuister 
springt  weit  nach  rechts  vor  und  ist  sehr  grofs,  der  Zahn  ist  cariös  ge- 
worden und  ausgefallen.  Die  Jochbeine  ragen  stark  hervor  und  sind  schräg 
gestellt,  besonders  das  linke;  der  linke  Jochbogen  ist  dicker  als  der  rechte. 


8  W.  Krause: 

Unterkiefer.  Die  Medianlinie  des  Corpus  mandibulae  verlauft  senk- 
recht. Das  Corpus  ist  in  dieser  Linie  33°°"  hoch.  Die  Processus  coronoidei 
sind  spitz  und  klein.  Cristae  massetericae  und  pterygoideae  internae  stark 
entwickelt.  Sulci  mylohyoidei  sehr  deutlich  und  tief.  Spina  mentalis 
interna  stark  entwickelt  und  doppelt. 

Zähne.  Die  noch  vorhandenen  waren  gesund,  aber  stark  abgekaut, 
bis  auf  die  Basis  der  Kronenhöcker,  so  dafs  noch  (in  den  Furchen)  Schmelz- 
reste vorhanden  waren. 

Im  Oberkiefer  zeigten  die  Stellen  der  Schneidezähne  und  Eckzähne 
leere  Alveolen,  nur  rechts  war  ein  Rest  eines  stark  abgekauten  Eckzahnes 
vorhanden.  Rechts  fand  sich  ein  hinterer  Prämolaris,  die  Alveole  des  vor- 
deren Prämolaris  war  oblitterirt.  Links  waren  beide  Prämolares  erhalten. 
Die  Alveolen  beider  Weisheitszähne  oblitterirt,  der  vordere  und  mittlere 
Molarzahn  beiderseits  vorhanden. 

Im  Unterkiefer  waren  alle  Schneidezähne  erhalten,  ebenso  die  beiden 
Eckzähne,  femer  rechterseits  der  vordere  Prämolaris,  der  mittlere  und 
hintere  Molarzahn. 

Links  war  die  Alveole  des  vorderen  Prämolaris  leer,  vom  hinteren 
Prämolaris  war  noch  ein  Rest  vorhanden,  die  drei  Molarzähne  waren  längst 
ausgefallen,  die  Alveolen  oblitterirt,  der  Kieferrand  oben  scharfkantig  ge- 
worden. 

Skeletknochen. 

Folgende  wurden  gefunden: 

Epistropheus, 

8  Rückenwirbel, 

5  Lendenwirbel, 

Kreuzbeinrest  (3  Wirbel), 

Manubrium  sterni,  43°*"  hoch, 

beide  Synchondroses  sternocostales  primae  (ganz  verknöchert), 

31  Rippenfragmente  (4.  linke  Rippe  sehr  dünn), 

I  Clavicula  (sinistra), 

Scapula  sinistra  vollständig, 

Scapula  dextra  zerbrochen, 

I  Os  coxae  (sinistrum), 

I  Os  ischii  (dextrum)  zerbrochen. 


Ossa  LeämiüL  9 

Extremitäten. 
2  Humeriy 

2  Sadii, 

2  Ulnae, 

I  Femur  (dextrum),  47"^  lang, 

1  Femur  (sinistrum),  46*"  lang, 

2  Tibiae,  dextra  und  sinistra,  beide  38*^5  lang, 
2  Fibulae, 

2  Calcanei,  45""  hoch, 

2  Tali, 

2  Ossa  navicularia, 

2  Ossa  cuboidea, 

19  Metatarsal-  und  Phalangenknochen  des  Fuises. 
Der  Atlas  fehlte.     Die  Clavicula  stark  gekrümmt.     An  den  Scapulae 
waren  die  Processus  coracoidei  sehr  klein.     Die  Gelenke  der  oberen  Ex- 
tremitäten waren  unverändert.    Das  vorgefundene  Os  coxae  sinistrum  zeigte 
männliche  Charaktere. 

Das  rechte  Femur  war  47"^  lang,  die  Tibia  sS^'s.  Aus  dem  Femur 
folgt  eine  Körperlänge  =  175,  aus  Femur  -+•  Tibia  X  2  +  37°r5  nach  der 
Formel  von  Thurnam  (Davis,  Thesaurus  cran.  Suppl.  1875,  p.  77)  eine 
Körperlänge  von  174T8.  Die  linke  Tibia  hatte  eine  am  lateralen  Malleolus 
anliegende  glatte  Exostose,  3*™  hoch,  2''"'  breit,  mit  verästelten,  ziemlich 
rechtwinkelig  aufeinander  gestellten  Knochenlamellen  im  Innern.  Wahrschein- 
lich handelte  es  sich  um  eine  Ecchondrosis  ossificans ,  nicht  um  ein  Sarcom 
oder  Carcinom  des  Knochens.  Unter  der  Exostose  verlief  ein  schmaler  Sulcus 
wie  von  einer  Muskelsehne.  Auch  fanden  sich  kleine  Rauhigkeiten  und  Exo- 
stosen an  der  hinteren  Fläche  des  distalen  Endes  des  rechten  und  linken 
Oberschenkelbeines,  am  linken  Trochanter  major  und  an  den  Condylen  der 
linken  Tibia.  Die  Nagelphalanx  der  rechten  grofsen  Zehe  zeigte  sich  schief 
lateralwärts  ansitzend  und  synostotisch  mit  der  ersten  Phalanx  verbunden. 


Beim  Vergleich  mit  der  gi-ofsen  Büste  von  Leibniz,  welche  am 
Waterlooplatz  in  Hannover  aufgestellt  ist,  zeigt  die  Gesichtsbildung  eine 
befriedigende  Übereinstimmung  mit  dem  knöchernen  Gesicht,  namentlich 
in  der  lünge  des  Untergesiclites  und  in  der  Jochbreite.  —  Übrigens  hat 

Phys.  Abh.  nicht  zur  Ähad.  gehör.  Gelehrter.    1902,    III.  2 


10  W.  Krause:    Ossa  LeibniäL 

Hr,  H.  Graeven,  Assistent  am  Kestner- Museum  in  Hannover,  eine  Arbeit 
über  die  vorhandenen  Büsten  von  Leibniz  in  Aussieht  gestellt. 

Fassen  wir  die  charakteristischen  Befunde  des  hier  beschriebenen 
Schadeis  kurz  zusammen,  so  ist  derselbe  klein  im  Verhältnifs  zur  Körper- 
gröfse,  rundlich,  breit  imd  niedrig,  mit  hervortretenden  Backen- 
knochen und  Kinn;  diese  Charaktere  entsprechen  den  gewöhnlichen  oder 
doch  häufigen  Befunden  bei  Slaven,  speciell  Polen  und  Slovenen. 

Für  die  Capacität  des  Schädels  folgt  aus  Davis  (Proceedings  of  the 
Royal  Society  of  London,  1868,  vol.  XVI,  p.  236)  im  Durchschnitt  = 
1696"°  för  Deutsche,  1591  für  Polen,  so  dafs  auch  die  noch  niedrigere 
Capacität  des  in  Rede  stehenden  Schädels  ihn  eher  zu  den  Letzteren  stellt. 
Alles  dies  stimmt  zu  der  slavischen  (polnischen)  Form  des  Namens.  Leibniz 
hat  selbst  an  dieser  Abstammung  festgehalten. 

Nimmt  man  den  von  Gehirnhäuten  u.  s.  w.  ausgefäillten  Raum  zu 
15  Procent  der  Schädelcapacität  an  und  das  specifische  Gewicht  des  Ge- 
hirnes zu  1.04,  so  erhält  man  ein  Gehirngewicht  =  1257*.  Es  gehört 
also  das  Gehirn  von  Leibniz  zu  den  kleinen  mit  geringem  Gewicht;  auch 
das  Gehirn  Gambe tta's  war  bekanntlich  nicht  schwerer. 

Zu  meinem  Bedauern  wurde  die  Erlaubnifs,  das  kostbare  Object  nach 
Berlin  zu  einer  eingehenderen  Untersuchung  mitzunehmen,  nicht  ertheilt. 
Es  wäre  dann  ein  AusguTs  des  Schädels  gemacht  worden,  wodurch  wir 
unzweifelhaft  über  die  Form  des  Gehirnes  nähere  Aufklärung  erhalten 
haben  würden.  Auch  hätten  sich  dann  nach  Absägung  der  Calotte  und 
Anfertigung  eines  medianen  Durchschnittes  genauere  Ermittelungen  über 
die  innere  Formung  der  Schädelhöhle  und  des  Sattelwinkels  ergeben. 


Pigüpenerkläning. 

Durch  Hrn.  Photographen  Alperts  jun.  in  Hannover  wurden  die  Photographien  des 
Schädels  in  halber  natürlicher  Grofse  in  der  Norma  frontalis,  occipitalis,  lateralis  sinistra, 
basalis  und  verticalis  aufgenommen.  Die  Frankfurter  Horizontallinie  vom  oberen  Rande  der 
OhrofTnung  zum  unteren  Rande  des  Augenhöhleneinganges  wurde  ftir  die  Norma  lateralis 
(^^g*  3)  i^it  Hülfe  des  Ranke 'scheu  Apparates  horizontal  gestellt  und  bei  den  übrigen 
Aufnahmen  die  rechtwinkelige  Stellung  mittelst  Loth  und  Winkelmafs  controlirt  In  der 
Norma  basalis  reicht  die  Ala  magna  des  Os  sphenoidale  linkerseits  in  Folge  der  Asymmetrie 
des  Schädels  dicht  an  den  Jochbogen  heran.  Vom  Schädel  sowie  vom  rechten  und  linken 
Oberschenkelbein  und  dem  linken  Schienbein  sind  durch  Hrn.  Bildhauer  Stitz  in  Hannover 
Gipsabgüsse  angefertigt. 


T 

K.  Preuß.  Akad.  d.  Wüsmsch. 


Über  Tenon'schen  Raum  und  Tenon*sche  Kapsel. 


Von 


Dr.  H.VmCHOW. 


Fhyt.  Abh.  nicht  tur  AJcad.  gehür.  Gelehrter.   1902,    IV. 


Vorgel^t  in  der  Sitzung  der  phys.-math.  Ciasse  am  31.  Juli  1902 

[Sitzungsberichte  St.  XL.  S.  927]. 

Zum  Druck  eingereiclit  am  gleichen  Tage,  ausgegeben  am  3.  December  1902. 


Veranlassung  zu  vorliegender  Mittheilung  bot  der  Umstand,  dafs  ich  eine 
Bearbeitung  der  äulseren  Augenhaut  (Sdera  und  Cornea)  und  der  Lider 
übernommen  habe  und  mich  deswegen  auch  Aber  die  angrenzenden  Theile 
unterrichten  muJ&te.  Ich  habe  zu  diesem  Zweck  schon  im  vorigen  Jahre 
und  wieder  in  der  letzten  Zeit  eine  Reihe  von  Wochen  ausschlielslich  auf 
die  Präparation  des  Orbitalinhaltes  verwendet  und  hoffe,  eine  Form  ge- 
funden zu  haben,  in  welcher  Manches  priciser  und  körperlicher  auftreten 
wird,  als  in  den  vorliegenden  Darstellungen  der  Lehrbücher.  Die  Fest- 
stellung der  topographischen  Verhältnisse  der  Augenhöhle  ist  selbst  für  den 
anatomisch  Geschulten,  der  sein  Messer  zu  fuhren  und  voreilige  Schnitte 
zu  meiden  gelernt  hat,  schwer;  und  auch  am  Schlüsse  der  Präparation 
kann  bei  mehr  als  einem  Punkte  eine  Meinungsverschiedenheit  über  die 
Formulirung  des  Gefundenen  entstehen.  Angesichts  des  Umstandes,  da(s 
so  viele  bindegewebige  Formationen,  Stränge,  Membranen  hier  in  Ver- 
bindung treten,  kommt  man  mehr  als  einmal  in  Zweifel,  ob  man  eines 
dieser  Gebilde  als  selbständig  oder  als  Bestandtheil,  Anhang,  Ausstrahlung 
eines  andern  hinstellen  soll.  Die  Grefahr  liegt  vor,  dais  auf  der  einen  Seite, 
wenn  zu  viele  Theile  als  selbständig  aufgefalst  werden,  die  Schilderung 
auseinanderfSllt;  auf  der  anderen  Seite,  wenn  zu  viele  Theile  nur  als  An- 
hänge anderer  bezeichnet  werden,  die  locale  Eigenart  verwischt  und  ein 
kraftloses  Gesammtbild  gezeichnet  wird,  welches  wohl  eine  schematische 
Zusammen&ssung  begünstigen  kann,  aber  die  reale  Kenntnifs  nicht  ge- 
deihen läfst. 

Selbst  der  Gang  der  Präparation  und  die  Vorbereitung  des  Materials 
kann  die  Auffassung  beeinflussen,  und  ich  hebe  deswegen  hervor,  dafs  ich 
mit  Vortheil  zwar  nicht  ausschlielslich,  aber  doch  grofsentheils  Orbital -In- 

1* 


4  H.  ViRCHOw: 

halte  benutzt  habe,  welche  durch  Formalin-Alkoholinjection  vorbereitet 
waren.  Der  Leiche  werden  durch  die  eine  Carotis  9  Liter  Alkohol  mit 
I  Liter  Formalin  eingespritzt,  und  man  läfet  dann  dieselbe  mehrere  Wochen 
oder  Monate  liegen,  bevor  man  die  Präparation  beginnt.  In  welcher  Con- 
centration  diese  Mischung  die  einzelnen  Gewebe  triflPb,  weils  ich  nicht, 
jedesfalls  ist  aber  Alles  so  steif,  dafe  auch  bei  wochenlanger  Präparation 
alle  Theile  ihre  Lage  genau  bewahren.  Führt  man  an  derartig  vorbereite- 
ten Orbitae  ein  schmales  scharfes  Messer  stechend  durch  die  Mitte  des  Bulbus 
bis  zimi  Augenhintergrunde  und  durchschneidet  von  innen  heraus  nach 
unten  und  oben,  oder  —  an  einem  andern  Präparat  —  nach  der  medialen 
und  lateralen  Seite  die  Weichth eile,  woran  sich  die  Durchsägung  des  Knochens 
in  der  Schnittebene  anzuschliefsen  hat,  so  gewinnt  man  Präparate,  an  denen 
man  von  der  Schnittfläche  her,  d.  h.  von  innen  nach  aufsen,  den  Orbital- 
inhalt präpariren  kann,  wodurch  die  gewöhnliche,  beim  Knochen  begin- 
nende  Präparation  eine  sehr  wesentliche  Ergänzung  erfährt. 

Am  wenigsten  Aufschlufs  erhält  man  durch  die  Schnittuntersuchung. 
Wenn  ich  auch  Schnitte  durch  den  ganzen  Orbitalinhalt  einschlieMich  der 
Lider  besitze,  so  mujfe  ich  doch  ausdrücklich  hervorheben,  dals  solche  nur 
auf  bestimmte  Einzelfragen  Auskunft  ertheilen  können,  und  dieis  auch  nur 
dann ,  wenn  die  Einzelfragen  vorher  auf  Grund  der  Zergliederung  bestimmt 
formulirt  und  umgrenzt  sind.  Es  ist  geradezu  erstaunlich ,  wie  verschieden 
bindegewebige  Formationen  je  nach  der  Vorbehandlung,  Schnittbehandlung 
und  auch  Schnittdicke  erscheinen.  An  derselben  Stelle  glaubt  man  das 
eine  Mal  ein  zartes,  lockeres  und  das  andere  Mal  ein  dichtes,  festes  Gewebe 
zu  sehen.  Einige  der  neueren  Methoden,  wie  die  Säurefuchsin -Pikrinfar- 
bung  und  die  Färbung  mit  Mallory'schem  Hämatoxylin,  geben  geradezu  rohe 
Bilder.  Über  das  aber,  worauf  es  bei  Bindegewebspräparaten  ja  immer 
ankommt,  über  Consistenz,  Ziehbarkeit  u.  s.  w.,  lehren  sie  gar  nichts,  ganz 
abgesehen  davon,  dafs  ja  die  mechanischen  Zustände  im  Bindegewebe  durch 
die  Befestigung  an  Nachbarth  eilen  bestimmt  sind,  worüber  die  isolirten 
Schnitte  nur  in  ganz  seltenen  Fällen  Auskunft  ertheilen  können.  Hier  mufe 
der  geduldigen  wiederholten  anatomischen  Präparation  die  erste  Stelle  ver- 
bleiben, und  von  der  Schnittuntersuchung  sind  nur  gewisse  ergänzende 
Auskünfte  zu  erwarten. 

Die  Ausdrücke  »innen«  und  »au&en«  werden  im  Folgenden  mit  Be- 
ziehung auf  den  Muskelkegel  gebraucht,  so  wie  man  von  intramusculärem 


Über  Tenorischen  Raum  und  Tenorische  Kapsel.  5 

und  extramusculärem  Fettpolster  spricht.     So  haben  z.  B.  die  Recti   eine 
»innere«  und  »äufsere«   Fläche. 


L  Das  Qewebe  des  Tenon'schen  Ramnes. 

Der  Tenon'sche  Raum  wird  wohl  meistens  von  denen,  die  ihn  nicht 
untersucht  haben,  als  ein  Hohlraum  aufgefafst,  wozu  wesentlich  der  tra- 
ditionelle Vergleich  beiträgt,  nach  welchem  der  Augapfel  ein  Gelenkkopf 
ist,  der  sich  in  einer  Pfanne  dreht.  Indessen  gibt  schon  Schwalbe  an, 
dafe  die  beiden  Wände  des  Raumes  »mehrfach  durch  feine  bindegewebige 
Bälkchen  verbunden  werden«.'  Noch  bedeutungsvoller  erscheint  dieses  Ge- 
webe in  der  Darstellung  von  Merkel  und  Eallius,  nach  welcher  die 
Kapsel  »überall  mit  dem  Bulbus  durch  zarte  Bindegewebsbündel  verbunden« 
ist.'  Auch  in  anderen  Lehrbüchern  der  Anatomie  wird  dieses  verbindende 
Gewebe  erwähnt. 

Ich  finde  nun,  daüs  ein  solches  Gewebe  thatsächlich ,  wie  Merkel  und 
Kallius  angeben,  im  Tenon 'sehen  Räume  überall  vorhanden  ist.  Ich 
finde  jedoch  nirgends  »Bündel«  oder  »Bälkchen«;  sondern  es  handelt  sich 
um  zartes  gerüstartiges  Gewebe,  welches  den  Raum  erfüllt,  und  welches 
bei  jeder  Art  der  Präparation  gesehen  werden  muCs.  Nur  ist  es  nothwendig, 
unter  der  Präparation  selbvst  genau  aufzupassen.  Denn  da  man  in  den 
Tenon*schen  Raum  nicht  hineinblicken  kann,  ohne  entweder  die  Wände 
desselben  auseinanderzuziehen,  oder  einen  Theil  der  Wand  wegzunehmen, 
so  ist  es  ganz  unvermeidlich,  dafs,  wenn  man  nicht  mit  der  allergrölsten 
Vorsicht  verfährt,  ein  Theil  des  Gewebes  durchrissen,  durchschnitten  oder 
durchstreift  wird,  und  dafs  man  dann  nur  den  übrigbleibenden  Rest  zu 
sehen  bekommt.  Dabei  werden  aber  die  zarteren  Partien  naturgemäfs  am 
ehesten  zerstört,  und  das  Gewebe  zieht  sich  auf  die  noch  erhaltenen,  von 
Anfang  an  derberen  Partien  zurück  und  macht  dann  den  Eindruck  von 
Strängen  und  Balken,  die  in  dieser  Form  vorher  nicht  vorhanden  waren.  Was 
man  dabei  macht,  ist  dasselbe,  als  wenn  man  mit  einem  Stock  in  ein 
Spinnengewebe  fahrt,  wobei  ich  weniger  an  die  flächenhaflen  Netze,  wie 


*  Schwalbe,  G.,  Lehrbuch  der  Anatomie  der  Sinnesorgane.    Erlangen  1887.    S.  223. 

*  Merkel,  Fr.  und  Kallius,  £.,  Makroskopische  Anatomie  des  Auges.  In  Graefe- 
Sae  misch,  Handbuch  der  gesammten  Augenheilkunde.  II.  Aufl.  29.  und  30.  Lieferung. 
Leipzig  1901.    S.  76. 


6  H.  ViRCHOw: 

an  die  dreidimensionalen  Gespinste  denke:  das  Grewebe  wickelt  sich  als 
eine  dichte  Masse  um  den  Stock,  oder  wenn  man  nicht  ganz  so  grob  vor- 
geht, so  zieht  es  sich  doch,  nach  Durchreilsung  einer  Anzahl  von  Fäden, 
nach  den  noch  erhaltenen  Stellen  zusammen. 

Das  erwähnte  gerOstartige  Gewebe  ßndet  sich  in  allen  Theilen  des 
Tenon 'sehen  Raumes,  ist  jedoch  nicht  überall  gleich  dicht;  vielmehr  gibt 
es  in  demselben  typische  Unterschiede,  auf  welche  ich  indessen  erst 
eingehen  will,  nachdem  ich  die  Kapsel  geschildert  habe. 

2.  Die  Tenon'sche  Kapsel. 

Die  Tenon'sche  Kapsel  endigt  vom  am  Fornix  der  Conjunctiva 
und  hinten  an  der  Eintrittsstelle  des  Sehnerven. 

Ich  mufs  den  Sinn  und  die  Berechtigung  dieser  Ausdrucksweise  ge- 
nauer bestimmen. 

Ich  sage  nicht:  die  Kapsel  »befestigt  sich  am  Fornix«,  sondern:  »sie 
endigt«  dort.  Sie  hängt  hier  zusammen  mit  der  Tunica  propria  der  Con- 
junctiva und  zwar  sowohl  der  Conjunctiva  bulbi  wie  der  Conjunctiva  pal- 
pebrae,  von  denen  die  letztere  dicker  ist  wie  die  erstere.  Man  wäre  da- 
her auch  vollkommen  berechtigt,  zu  sagen:  »die  Kapsel  setzt  sich  fort«, 
»geht  über  in  die  Conjunctiva  bulbi  und  palpebrae«.  Doch  scheint  mir 
die  vorgeschlagene  Ausdrucksweise  besser,  weil  sie  der  Conjunctiva  ihre 
Selbständigkeit  beläfst.  Auf  keinen  Fall  aber  darf  man  sagen:  »die  Kapsel 
setzt  sich  fort  in  die  Conjunctiva  bulbi«.  Die&  wäre  ganz  falsch.  Will 
man  es  vorziehen,  die  Kapsel  nicht  am  Fomix  enden  zu  lassen,  dann  mufs 
man  zugeben,  dafs  sie  sich  hier  spaltet,  und  dafs  sie  sich  sowohl  vor  wie 
hinter  dem  Fornix  in  die  Conjunctiva  fortsetzt.  Die  Tunica  propria  der 
Conjunctiva  palpebrae  ist  besonders  dick  am  untern  Lide;  und  dement- 
sprechend ist  auch  der  Kapselansatz  unten  erheblich  dicker  als  oben.  Weit- 
aus am  dicksten  aber  ist  der  vordere  Kapselrand  an  der  medialen  Seite, 
wo  er  die  Form  eines  auf  dem  Horizontalschnitt  dreieckigen  Polsters  an- 
nimmt, dessen  nach  vorn  gewendete,  4"*"  breite  Basis  mit  der  Carunkel, 
der  Plica  conjunctivalis  und  dem  Boden  sowie  den  Rändern  des  Thränen- 
sees  verbunden  ist,  und  dessen  nach  hinten  gewendete,  in  den  dünnem 
Tlieil  der  Kapsel  übergehende  Spitze  7™"  von  der  Basis  entfernt  ist.  Wenn 
man  den  Thränensee  als  eine  locale  Verbreiterung  des  Fornix  ansieht ,  was 


••  ^^  ^^  ^^  

über  Tenon^schen  Raum  und  Tenorische  Kapsel  7 

morphologisch  wohl  anfechtbar,  aber  topographisch -descriptiv  statthaft  ist, 
so  ist  es  ja  damit  eo  ipso  gegeben ,  da&  die  Kapsel  an  der  gleichen  Stelle 
eine  locale  Verbreiterung  besitzt.  Es  ist  eine  Consequenz  meiner  Auffassung, 
bez.  meiner  Ausdrucksweise,  dafs  die  Xenon 'sehe  Kapsel  vom  nicht  so 
weit  reicht,  wie  der  Tenon'sche  Raum,  sondern  da&  des  letztem  vor- 
derstes StQck  durch  die  Conjunctiva  bulbi  begrenzt  wird. 

Die  hintere  Endigung  der  Kapsel  ist  nicht  leicht  festzustellen.  Da 
mit  der  Annftherung  an  den  Sehnerven  die  Kapsel  selbst  sehr  dfinn  wird 
und  zugleich  das  Gewebe  des  Tenon 'sehen  Raumes  sich  verdichtet,  so 
kann  man  im  Zweifel  sein,  ob  die  Kapsel  selbst  sich  an  den  Bulbus  an- 
setzt, oder  ob  sie  durch  Vermittelung  des  Gewebes  eine  Befestigung  ßndet. 
Daher  ist  es  auch  begreiflich ,  dafs  die  Angaben  der  Autoren  über  diesen 
Punkt  auseinandergehen;  wfthrend  Schwalbe  den  Teno n 'sehen  Raum  in 
den  »supravaginalen  Raum«  des  Sehnerven  fortfuhrt^  lassen  Merkel  und 
Kallius  die  Kapsel  sich  in  der  Weise  an  die  Sclera  befestigen ,  daCs  eine 
ungefähr  i*"  breite  Stelle  des  letztern  freibleibt,  welche  nicht  nur  den 
Nervus  opticus,  sondern  auch  die  Eintrittsstellen  der  Ciliamerven  und 
-gefafse  enthält.*  Meine  eigenen  Erfahrungen  gelien  dahin,  dafs  die  Kapsel 
sich  an  der  Eintrittsstelle  des  Sehnerven  selbst  festsetzt  mit  Ausnahme  der 
lateralen  Seite,  wo  der  Ansatz,  dem  hintern  Rande  der  Scheide  des  Ob- 
liquus  inferior  entsprechend,  2°^  entfernt  bleibt.  Es  mufs  aber  hier  aus- 
drücklich auf  die  Möglichkeit  eines  präparatorischen  Irrthums  hingewiesen 
werden.  Wenn  man  nämlich  von  vorn  her  kommend,  wo  die  Kapsel  noch 
eine  gröfsere  Dicke  besitzt ,  Bulbus  und  Kapsel  trennt  und  dabei  das  zarte 
Bindegewebe  von  der  Sclera  abstreift,  so  mufs  sich  dieses  in  eine  mem- 
branartige Schicht  zusammenlegen,  welche  leicht  mit  der  hier  sehr  dünnen 
Kapsel  verwechselt  werden  kann. 

In  keinem  Falle  habe  ich  gefunden,  dafs  etwa  die  zur  Sclera  tretenden 
Gefäfse  und  Nerven  von  besonderen  Hüllen  des  Gewebes  begleitet  wären. 
Bei  den  Arterien  ist  diefs  schon  dadurch  ausgeschlossen ,  dafs  dieselben  bei 
ihrem  Herantritt  an  die  Sclera  nicht  unerheblich  gewunden  sind.  Ich 
möchte,  wenn  man  solche  Umhüllungen  bei  der  Präparation  findet,  in  der 
schon  angegebenen  Weise  erklären,  dafs  das  zarte  durchstreifte  oder  zer- 
rissene Bindegewebe  sich  nach  den  festeren  Strängen,  an  denen  es  einen 

^   A.  a.  O.  Fig.  102,  S.  221. 
»    A.  a.  O.  S.  76,  Fig.  33. 


8  H.  ViRCHOw: 

Halt  findet,  zurückzieht.  Ganz  sicher  wird  auf  die  Venae  vorticosae  von 
Seiten  des  Gewebes  des  Tenon*schen  Raumes  gar  keine  Rücksicht  ge- 
nommen; sie  treten  durch  denselben  hindurch,  ohne  dals  sich  um  sie  eine 
Verdichtungszone  bildete.  Die  Venenlöcher  in  der  Kapsel  sehen  genau 
ebenso  aus  wie  die  Venenlöcher  in  der  Sclera. 

Da  ich  keine  Injectionen  in  den  Tenon 'sehen  Raimi  gemacht  habe, 
so  habe  ich  keine  eigenen  Erfahrungen  darüber,  ob  auf  diesem  Wege  sich 
ein  bestimmteres  Urtheil  über  die  hintere  Endigung  bez.  über  eine  Ver- 
bindung mit  dem  »supravaginalen  Raum«  gewinnen  läfst.  Das  Eine  aber 
ist  sicher,  dafe  es  für  die  mechanischen  Verhältnisse  der  Tenon 'sehen 
Kapsel  ganz  gleichgültig  ist,  ob  sie  selbst  sich  hinten  an  den  Bulben  be- 
festigt, oder  ob  diese  Verbindung  durch  das  Gewebe  des  Tenon 'sehen 
Raumes  vermittelt  wird. 

3.  Der  »supravaginale  Ramn«. 

Von  einem  supravaginalen  Räume  kann  aus  dem  so  zu  sagen  negativen 
Grunde  gesprochen  werden,  weil  sich  an  die  äufsere  Scheide  des  Sehnerven 
nirgends  festere  Bindegewebsblätter  oder  -bälkchen  befestigen,  und  weil 
die  Fettlappen  des  intramusculären  Raumes  nicht  mit  ihr  verwachsen  sind. 
In  diesem  Räume  findet  man  beim  Auseinanderziehen  wenige  überaus  feine 
Fäserchen,  also  nicht  ein  Gewebe  von  gleicher  Dicjitigkeit  wie  das  des 
Tenon 'sehen  Raumes.  Die  äufsere  Begrenzung,  welche  übrigens  auch  in 
dem  Schwalbe'schen  Schema^  nur  durch  eine  punktirte,  imd  nicht  durch 
eine  ausgezogene  Linie  wiedergegeben  ist,  wird  durch  ein  sehr  zartes  Häut- 
chen gebildet,  welches  genau  so  aussieht,  wie  die  sehr  schwachen  Binde- 
gewebsblätter, die  die  Fettläppchen  des  intramusculären  Raumes  trennen 
und  begrenzen;  ja  man  möchte  auf  Grund  der  rein  präparatorischen  Er- 
fahrung glauben,  dafs  die  »äufsere  Wand  des  supravaginalen  Raimies« 
thatsächlich  nichts  weiter  ist,  als  die  zu  den  angrenzenden  Fettläppchen 
gehörigen  Bindegewebsblätter.  Die  Möglichkeit  einer  solchen  Auffassung 
steigert  sich  noch  dadurch,  dafs  die  Fettläppchen  des  intramusculären 
Raimies  oft  in  der  Richtung  des  Sehnerven  gestreckt  und  daher  auch  die 
zu  ihnen  gehörigen  Septa  in  dieser  Richtung  verlängert  sind.  So  fand  ich 
einmal  einige  Millimeter  vom  Sehnerven  entfernt  ein  diesem  paralleles  Sep- 


^    A.  a.  O.  Fig.  I02  auf  S.  221. 


••  

Über  Tenorischen  Baum  und  Tenorische  Kapsel.  9 

tum  fast  vom  Grunde  der  Augenhöhle  bis  an  die  Tenon'sche  Kapsel  ganz 
gerade  verlaufend  von  genau  dem  gleichen  Aussehen,  wie  die  firagliche 
Wand  des  supravaginalen  Raumes.  Ich  habe,  wie  gesagt,  Injectionen  nicht 
gemacht,  aber  rein  präparatorisch  spricht  nichts  för  das  Dasein  eines  sol- 
chen Raumes. 

4  Die  Kapselschlitze. 

Die  Schlitze  in  der  Wand  der  Tenon 'sehen  Kapsel  far  den  Durch- 
tritt der  Sehnen  der  Augenmuskeln  bez.  der  Muskeln  selber  erwähne  ich 
nur  im  Interesse  der  Deutlichkeit  der  nachfolgenden  Darstellung. 

Was  zunächst  die  vier  Schlitze  für  die  Recti  angeht,  so  ist  wegen 
der  schiefen  Durchsetzimg  der  Kapsel  und  des  fast  tangentialen  Zutrittes 
der  Sehnen  nur  eine  »innere«  Lippe  an  den  Schlitzen  vorhanden;  eine 
»äufsere«  Lippe  gibt  es  nicht,  sondern  hier  geht  die  Wand  der  Muskel- 
scheide ganz  ohne  Grenze  in  die  Tenon'sche  Kapsel  über. 

Sämmtliche  innere  Lippen  sind  so  zu  sagen  versteift  durch  einen  von 
Merkel  und  Kallius  erwähnten^  »festen  Bindegewebsring«.  Ob  es 
sich  dabei  wirklich  im  strengen  Sinne  um  eine  geschlossene  ringförmige 
Bildung  handelt,  lasse  ich  dahingestellt. 

Der  meridional  gestellte  Schlitz  för  den  M.  obliquus  inferior  an 
der  lateralen  Seite  der  Kapsel  verhält  sich  ebenso  wie  die  ftlr  die  Recti: 
an  ihm  ist  die  untere  Lippe  scharf  und  die  obere  fehlt. 

Der  gleichfalls  meridional  gestellte  Schlitz  fär  den  Obliquus  superior 
dagegen  ist  in  mehrfacher  Hinsicht  abweichend.  Zunächst  trifft  diese 
Sehne  die  Kapsel  nicht  in  der  gleichen  Weise  schief  oder  tangential,  wie 
die  fünf  anderen  Sehnen  es  thun,  sondern  steiler.  Sodann  bewahrt  die 
Sehne,  solange  sie  von  der  Kapsel  umhüllt  ist,  ihre  rundliche  Gestalt, 
und  erst,  indem  sie  die  innerste  Schicht  der  Kapsel  durchbohrt,  breitet 
sie  sich  aus,  so  dafs  sie  bis  an  die  innerste  Schicht  der  Kapsel  heran 
nur  2"",  beim  Austritt  aber  bereits  3"°5  breit  ist,  worauf  sie  sich  bis 
zum  Ansätze  an  die  Sclera  noch  auf  6""*  verbreitert.  Endlich  aber  liegt 
die  Sehne  innerhalb  der  Kapsel  nicht  völlig  frei,  sondern  ist  theilweise, 
besonders  am  hintern  Rande  und  an  der  unteren  Fläche,  fester  mit  der 
Kapsel  verbunden,  und  als  Fortsetzung  dieser  Verbindung  findet  sich  noch 
nach  dem  Austritt  derselben  in  den  Tenon'schen  Raum  ein  von  dem  hin- 


'   A.  a.  O.  S.  77. 

Phl/s.  Ahh,  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter,    1902.    IV. 


10  H.  ViROHOw: 

tem  Rande  der  Sehne  nach  der  Kapsel  gehendes  »Adminiculum«  vor. 
Aus  allen  diesen  Gründen  kommt  ein  deutliches  Bild  eines  »Schlitzes« 
nicht  zu  Stande,  am  ehesten  kann  man  noch  von  einem  Recessus  sprechen, 
der  sich  an  der  obern  Seite  der  Obliquussehne ,  einem  Schleimbeutel 
ähnlich,  gegen  die  Trochlea  erstreckt,  aber  auch  nicht  leer,  sondern  von 
der  zarten  Modification  des  Gewebes  des  Tenon'schen  Raumes  eingenom- 
men (s.  später).  Dieser  Recessus  ist  seiner  Lage  nach  weniger  ein  directer 
Recessus  des  Tenon'schen  Raiunes  als  ein  solcher  der  Scheide  des  Rectus 
superior. 

5.  Beziehungen  der  Kapsel  zu  den  hinterliegenden  Theilen. 

Muskelscheiden.  —  Die  Augenmuskeln  sind,  wie  andere  Muskeln 
auch,  von  Fascien  scheidenartig  umhüllt,  und  man  kann  im  Interesse  einer 
deutlichen  Beschreibung  von  »inneren«  und  »äufseren«  Fascien  sprechen, 
welche  in  Kanten  zusammenstofsen.  Diels  gilt  von  den  vier  Recti,  während 
die  Scheide  des  Obliquus  inferior  aus  einer  anfangs  oberen,  späfer  me- 
dialen und  einer  anfangs  unteren,  später  lateralen  Wand  besteht,  die  sich 
in  einer  vorderen  und  hinteren  Kante  vereinigen. 

Verfolgt  man  nun  die  Muskelseheiden  nach  vorn,  so  gelangt  man  an 
die  Tenon'sche  Kapsel,  und  es  besteht  somit  zwischen  Scheiden  und 
Kapsel  ein  Verhältnifs ,  welches  man  in  dreifacher  Weise  beschreiben  kann ; 
entweder  i.:  die  Muskeln  sind  von  Fascienscheiden  eingehüllt,  welche  sich 
dort,  wo  die  Muskeln  in  die  Kapsel  eintreten,  mit  dieser  verbinden: 
oder  2.:  die  Fascienscheiden  der  Muskeln  bilden,  indem  sie  sich  in 
der  Umgebung  des  Bulbus  durch  seitliche  Ausbreitungen  verbinden,  die 
Tenon'sche  Kapsel;  oder  3.:  die  Tenon'sche  Kapsel  sendet  rückwärts 
scheidenartige  Fortsätze  zur  Umhüllung  der  Muskeln  aus.  Man  kann 
nicht  geradezu  sagen,  dafs  die  eine  oder  andere  dieser  Formulirungen 
falsch  wäre;  aber  man  mufs  sich  jedenfalls  far  eine  derselben  bestimmt 
entscheiden,  um  eine  klare  Grundlage  für  die  weitere  Beschreibung  zu 
haben.  Es  scheint,  dafs  Merkel  und  Kallius  die  zweite  dieser  Auf- 
fassungen befürworten  wollen  mit  den  Worten,  dafs  sich  die  Tenon'sche 
Kapsel  »aus  den  im  Fett  hinter  dem  Augapfel  befindlichen  Scheiden  ent- 
wickelt«.^   Am  meisten  auf  die  Spitze  getrieben  tritt  uns  diese  Auffassung 

1  A.  a.  0.  S.  76. 


•»  ^^  ___ 

Vher  Tenorischen  Ravm  und  Tenon'sche  Kapsel.  11 

entgegen  in  der  Schilderung  von  Gunn  in  dem  Morris'schen  Handbuch.^ 
Hier  hat  sie  eine  Form  angenommen,  durch  welche  sie  zugleich  un- 
beabsichtigt ad  absurdum  gefiihrt  wird.  Der  Ver&sser  sagt  nämlich:  die 
Fascie  eines  Rectus  spalte  sich,  am  Augapfel  angelangt,  in  zwei  Blätter, 
von  denen  das  eine  vorwärts  weiter  geht,  das  andere  sich  rückwärts  wendet. 
Das  ist  ähnlich,  als  wenn  man  das  Verhältnis  des  Harnleiters  zur  Harn- 
blase so  schildern  wollte:  der  Harnleiter  spaltet  sich  in  zwei  Blätter,  von 
denen  das  eine  vorwärts  läuft  und  den  Blasengrund  bildet,  während  das 
andere  aufwärts  liegt  imd  die  Hinterwand  der  Blase  bildet.  Sappey  ver- 
tritt die  dritte  Auffassung,  indem  er  die  Muskelscheiden  als  Fortsätze  der 
Kapsel  (Prolongements  de  l'aponevrose  orbitaire)  bezeichnet.^ 

Ich  bin  der  Meinung,  dafs  man  sich  hierin  unbedingt  an  Sappey 
anschliefsen  müfs,  weil  die  Tenon'sche  Kapsel  doch  eine  grofse  Selb- 
ständigkeit und  Eigenart  besitzt,  und  weil  die  Muskelscheiden,  wie 
Sappey  an  der  citirten  Stelle  angibt,  in  ihren  vorderen  Abschnitten  hin- 
sichtlich der  Dicke  und  Resistenz  der  Kapsel  gleichen.  Ich  mache 
jedoch  einen  Zusatz  bez.  eine  Einschränkung  zu  dieser  Auffassung,  indem 
ich  die  Muskelscheiden  nur  so  weit  als  Kapselfortsätze  auffasse,  als  sie  den 
Charakter  der  Kapsel  haben.  Ich  nenne  daher  den  vordem  Theil  der 
Scheiden  ihren  »Kapseltheil«  und  den  dahinter  folgenden  Theil  ihren 
»Fascientheil«. 

Da  die  Scheiden,  wie  gleichfalls  schon  von  Sappey  angegeben  ist, 
sich  nicht  bis  an  das  hintere  Ende  der  Recti  verfolgen  lassen ,  vielmehr  die 
ganze  hintere  Hälfle  dieser  Muskeln  einer  Scheide  entbehrt,  so  ist  aller- 
dings der  Fascientheil  derselben  sehr  kurz,  trotzdem  möchte  ich  aber 
doch  die  genannte  Zweitheilung  befürworten,  weil  damit  ein  prägnanterer 
Ausdruck  för  die  thatsächlichen  Verhältnisse  gewonnen  wird. 

Es  kommt  nämlich  hinzu,  dafs  dort,  wo  die  Scheide  dünner  wird, 
eine  Stelle  festesten  Zusammenhanges  zwischen  ihr  und  dem  Muskel 
gelegen  ist;  denn  die  Recti  sind  mit  ihren  Scheiden  nicht  dort  am  feste- 
sten vereinigt,  wo  sie  sie  verlassen,  d.  h.  an  den  Schlitzen,  sondern  weiter 
hinten.  Diese  Stellen  liegen  ungef&hr  io°*"  von  der  inneren  Lippe  des 
Schlitzes  entfernt;  doch  haben  meine  Messungen  erhebliche  Differenzen 
dieser  Abstände  ergeben. 

'  Morris,  A  treatise  on  human  anatomy.     II.  Edition.     London  1898.  p.  858. 
'  Sappey,  Ph.  C,  Traite  d'anatomie  descriptive.    III.  edition.    T.  IL     1876.     p.107. 

2* 


12  H.  ViRCHow: 

Es  ist  hierüber  noch  Folgendes  zu  bemerken.  Das  vorhin  erwähnte 
Gewebe  des  Tenon'schen  Raumes  setzt  sich  auch  in  die  Kapseltheile  der 
Scheiden  hinein  fort  und  stellt  eine  Verbindung  zwischen  den  Muskeln 
und  ihrer  Umhüllung  her,  sowie  ja  alle  Muskeln  mit  ihren  Fascien  ver- 
bunden sind,  bald  lockerer,  bald  fester.  Diese  Verbindungen  verstärken 
sich  aber  an  den  genannten  Stellen,  und  wenn  man  genau  präparirt,  so 
sieht  man,  dafs  diefs  zu  Stande  kommt  durch  feine  Bälkchen,  welche  vom 
Muskel  gegen  die  Scheide  schief  vorwärts  austreten. 

In  dem  Falle,  dafs  eine  der  beiden  Wände  der  Scheide  fester  als 
die  andere  mit  dem  Muskel  verbunden  ist,  so  ist  es  ausnahmslos  die 
äufsere,  wie  ich  im  Gegensatz  zu  einer  Angabe  von  Schwalbe*  hervor- 
hebe. Dieses  Verhalten  ist  ja  auch  a  priori  aus  mechanischen  Gründen 
zu  erwarten,  denn  ein  Zug  an  der  inneren  Wand  einer  Scheide  würde 
nur  dahin  föhren  können,  die  Tenon'sche  Kapsel  von  der  Rückseite  des 
Bulbus  abzulieben ,  wogegen  ein  Zug  an  der  äufseren  Wand  in  Folge  seiner 
tangentialen  Richtung  sich  auf  die  mit  dem  vordem  Ende  der  Kapsel 
verbundene  Tunica  propria  der  Conjunctiva  bulbi  und  Conjunctiva  palpebrae 
übertragen  muls. 

Das  Bild  dieser  »Scheidenverbindungen«  der  Muskeln  erhält  noch  eine 
besondere  Prägung  durch  den  übertritt  von  Partien  des  Muskels  selbst 
an  die  Scheide.  Diese  directe  oder  ausdrucksvollere  Verbindung  zwischen 
Muskel  und  Scheide  durch  ein  Bündel  des  Muskels  selbst  findet  sich,  soweit 
mir  bisher  bekannt  geworden  ist,  stets  an  den  gleichen  Stellen,  wo  auch 
schon  ohnediefs  die  Befestigung  der  Scheide  an  dem  Muskel  eine  innigere 
ist.  Es  handelt  sich  aber  dabei  nicht  um  längere  Muskelbündel,  sondern 
man  kann  sagen,  dals  ein  solches  Bündel  in  dem  Moment,  wo  es  den 
Muskel  verlälst,  auch  schon  die  Scheide  erreicht.  Ich  fand  solche  Bündel 
bisher  nur  entweder  an  einer  Muskelkante  oder  neben  derselben  an  der 
Aufsenfläche,  höchstens  in  der  Breite  von  2°",  meistens  aber  schwächer; 
die  eine  Kante  kann  ein  Bündel  aufweisen,  während  die  gegenüberliegende 
davon  frei  ist.  Ich  habe  in  einigen  Fällen  Notizen  über  die  Befunde  ge- 
sammelt, verzichte  aber  auf  die  Anfuhrung  derselben,  weil  ich  nicht  zu 
beurth eilen  vermag,  ob  ein  Typus  zu  constatiren  ist.  Ich  kann  aber  diesen 
Befunden  keine  wesentliche  Bedeutung  beimessen,  denn  da  an  diesen  Stellen 

^  A.  a.  O.  S.  223  unten. 


Über  Tenon' sehen  Raum  und  Tenon^sche  Kapsel  13 

die  Scheide  ohnediefs  fester  mit  dem  Muskel  zusammenhingt,  so  ist  in 
dem  Übertritt  eines  Muskelbündels  mehr  eine  Bekräftigung  dieses  Ver- 
haltens als  ein  Moment  von  selbständigem  mechanischem  Werthe  zu  sehen. 

Durch  die  Verbindung  der  Muskeln  mit  ihren  Scheiden  entsteht  ein 
Verhältnifs,  welches  an  das  der  Schultergelenkskapsel  erinnert. 

Das  bisher  Gesagte  gilt  von  den  Scheiden  der  vier  Recti.  Das  Ver- 
halten der  Sehne  des  Obliquus  superior  zur  Kapsel  wird  in  einem  an- 
dern Zusammenhang  besprochen  werden.  Der  Obliquus  inferior  dagegen 
läfst  sich  hier  anreihen. 

Die  Scheide  des  Obliquus  inferior  bekleidet  den  ganzen  Muskel 
bis  an  seinen  Ursprung  am  Knochen,  wie  schon  Sappey  angegeben  hat^; 
nur  die  untere  Wand  derselben  wird  dicht  am  Ursprünge  so  dürftig,  dafs 
man  sagen  kann,  sie  fehle  hier.  Sie  ist  weit  gleichmäfsiger  als  die  Scheiden 
der  Recti  xmd  hat  fast  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  den  Charakter  der 
»Fascienscheide«.  Auch  unter  der  Mitte  des  Bulbus,  wo  sie  unter  der 
hier  sehr  dicken  Kapsel  hin  wegzieht,  läfst  sich  ihre  obere  Wand  noch 
von  letzterer  trennen.  Eine  so  feste  Verbindung  zwischen  Muskel  und 
Scheide,  wie  sie  an  den  Recti  vorkommt,  wird  nicht  gefunden.  Zwar 
schien  es  mir,  als  wenn  an  der  vorderen  Kante  dort,  wo  der  Muskel  schon 
zur  lateralen  Seite  des  Bulbus  au&teigt,  das  intravaginale  Bindegewebe 
etwas  dichter  ist,  doch  ist  diefs,  wenn  es  wirklich  vorhanden  sein  sollte, 
nicht  wesentlich. 

Intervaginale  Verbindungen.  Es  ist  aus  den  Lehrbüchern  be- 
kannt, dafs  der  intramusculäre  und  extramusculäre  Raum  der  Augenhöhle 
zwischen  den  Recti  hindurch  in  Verbindung  stehen.  Dieses  Verhalten  er- 
leidet jedoch  in  der  Nähe  der  Kapsel  eine  Einschränkung  durch  blattartige 
Fortsetzungen ,  welche  von  der  Kapsel  aus  nach  hinten  gehen  und  zwischen 
den  Kanten  benachbarter  Muskelscheiden  ausgespannt  sind.  Auch  dieses 
Verhalten  ist  schon  von  Sappey  erwähnt  worden.*  Würde  es  sich  dabei 
um  eine  im  ganzen  Umfange  continuirliche  Bildung  handeln,  so  würde  ich 
vorschlagen,  dieselbe  als  »kragen förmigen  Fortsatz«  oder  »Kapsel- 
kragen« zu  bezeichnen.  Ich  finde  jedoch  diese  Formation  in  ausgeprägter 
Form  nur  in  dem  obem  lateralen  Quadranten,  d.  h.  zwischen  der  Scheide 
des  Rectus  superior  und  der  des  Rectus  lateralis  entwickelt. 

^  A.  a.  O.  p.  io8. 
*  A.  a.  O.  p.  107. 


14  H.  ViRCHOw: 

6.  Der  blättrige  Ban  der  Kapsel 

Die  Tenon'sche  Kapsel  ist  nicht  von  gleichmäfsigem  oder  homogenem 
Geffige;  vielmehr  finden  sich  in  ihr  dichtere  Partien  von  geringerer  oder 
gröfserer  Ausdehnung,  bald  mehr  strangartig,  bald  mehr  platt enförmig, 
dazwischen  lockere  Stellen,  sogar  Fettläppchen,  manchmal  praparatorisch 
darstellbar,  manchmal  nur  mittels  des  Mikroskopes  auf  Schnitten  zu  er- 
kennen. Eine  der  festeren  Formationen  ist  der  schon  erwähnte  Binde- 
gewebsring,  welcher  die  inneren  Lippen  der  Schlitze  sichert.  Man  mufs 
aber  bei   solchen  Angaben  wohl   unterscheiden  zwischen   dick   und  dicht. 

Da  nun,  wie  alle  Beschreibungen  hervorheben,  die  Kapsel  mit  den 
interadipösen  Septa  der  Augenhöhle  in  Verbindung  steht,  so  kann  in 
manchen  Fällen  ein  Zweifel  entstehen,  ob  man  gewisse  kleine  Partien 
noch  zur  Kapsel  oder  zu  ihrer  Umgebung  rechnen  soll;  doch  wird  man 
bei  sorgfaltiger  und  besonnener  Präparation  immer  zu  einem  befriedigenden 
Ergebnifs  kommen.  Wenn  es  bei  Merkel-Kallius  von  der  Kapsel  heilst: 
»nach  vom  aber  verdünnt  sie  sich  rasch  zu  einem  ungemein  dünnen  Häut- 
chen, dessen  Nachweis  Schwierigkeiten  machen  kann«',  so  weicht  aller- 
dings diese  Auffassung  von  meiner  anfangs  gegebenen  Darstellung  ganz 
erheblich  ab,  und  ich  vermuthe,  dafs  dieses  »dünne  Häutchen«  ein  Kunst- 
product  ist,  nämlich  das  durch  Abstreifung  von  den  Recti- Sehnen  und 
der  Sclera  seiner  inneren  Ansatzpunkte  beraubte  und  zu  einer  membran- 
artigen Bildung  zusammengeschnurrte  lockere  Gewebe  des  Tenon'schen 
Raumes.  Sollte  aber  auch  diese  meine  Vermuthung  falsch  sein;  sollte  es 
wirklich  im  vordem  Theil  der  Kapsel  ein  derartiges  feines  Häutchen  geben, 
so  müfsten  doch  die  ihm  aufliegenden  dicken  Schichten  erklärt  werden; 
und  diese  könnten  dann  nach  der  Ausdrucksweise  von  Merkel  und  Kallius 
nur  »Fascienzipfel«  sein.  Auf  die  »Fascienzipfel«  werde  ich  noch  beson- 
ders zu  sprechen  kommen.  Ich  kann  aber  doch  hier  schon  bemerken,  dafs 
f&r  eine  Bildung,  welche  ringsherum  abgesclilossen  ist  und  keine  den  ein- 
zelnen Muskeln  entsprechenden  Unterbrecliungen  zeigt,  der  Ausdruck  »Fas- 
cienzipfel« wenig  bezeichnend  ist.  Aber  wenn  man  auch  diesen  Begriff 
noch  so  weit  ausdehnen  wollte,  so  bleiben  doch  immer  gewisse  Partien, 
Schichten,  Verdickungen  übrig,    wie  vor  allem   das   schon   erwähnte   me- 

^  A.  a.  O.  S.  77. 


Über  Tenofi sehen  Raum  und  Tenon'sche  Kapsel  15 

diale  Polster,  welche  weder  ihrer  Gestalt,  noch  ihrem  Gefüge  nach  unter 
die  Kategorie  von  Fascien  gebracht  werden  können.  Man  müfste  also 
jedesfalls  auHser  jenen  »dünnen  Häutchen«  und  den  »Fascienzipfeln«  noch 
ein  drittes  Element,  n&mlich  diese  localen  Verdickungen,  einfuhren,  wenn 
man  darauf  ausgeht,  eine  wirklich  körperliche  Vorstellung  der  bindege- 
webigen Formationen  in  der  vorderen  Hälfte  der  Orbita  zu  vermitteln. 

Diesen  Schwierigkeiten  entgeht  man,  wenn  man  den  Begriff  der  »Kap- 
sel« in  dem  Sinne  fafst,  wie  ich  es  im  Vorangehenden,  im  Anschluls  an 
Sappey,  gethan  habe.  Es  ist  gewüs  nicht  nur  berechtigt,  sondern  ver- 
dienstlich, den  Faserrichtungen  nachzuspüren,  welche  als  Fortsetzungen 
oder  Ausstrahlungen  der  äu&eren  Muskelfascien  im  vordem  Theil  der 
Kapsel  nachweisbar  sind.  Aber  man  geht  zu  weit,  wenn  man  den  ganzen 
vordem  Theil  der  Kapsel  in  Fascienzipfel  auflösen  und  nur  das  »unge- 
mein dünne  Häutchen«  übrig  lassen  will.  Thatsächlich  ist  in  diesem  vor- 
dem Theil  der  Kapsel  nichts  von  Fascien,  noch  weniger  aber  von  »Zip- 
feln« zu  sehen.  »Zipfel«  treten  erst  weiter  vorn  auf,  wo  es  sich  um  die 
Befestigung  der  Kapsel  am  Knochen  handelt,  und  hier  werde  ich  die  Er- 
örterung wieder  aufnehmen,  ob  diese  Verbindungen  als  Ausstrahlungen 
von  Fascien  anzusehen  sind. 

Die  Tenon'sche  Kapsel  ist  also,  um  es  zu  wiederholen,  ein  Gebilde 
von  ungleichmäfsiger  Dicke  und  von  ungleichmäfsigem  Gefüge, 
und  deswegen  ist  auch  der  Ausdruck  »Tenon'sche  Fascie«  diu-chaus  nicht 
anwendbar. 

Wenn  sie  soeben  als  »blättrig«  bezeichnet  wurde,  so  soll  damit  doch 
keineswegs  gesagt  sein,  dafs  sie  aus  ununterbrochenen,  schalenförmig  in- 
einandersteckenden  Schichten  besteht.  Vielmehr  sind  manche  dieser  dich- 
teren Lagen  ausgedehnter,  andere  mehr  beschränkt,  und  vielfach  hängen 
sie  mit  Nachbarlagen  zusanmien.  Nun  ist  man  bei  einem  derartig  unvoll- 
kommen geschichteten  Bau  immer  in  Gefahr,  Kimstproducte  zu  erzeugen: 
ist  man  bei  der  Präparation  in  eine  Spalte,  d,  h.  in  eine  weniger  dichte 
Stelle  hineingerathen ,  so  kann  man  aLsdann  leicht  die  Spaltung  weiter  treiben, 
ohne  dafs  eine  wirkliche  Berechtigung  dazu  vorliegt.  Auch  ist  zu  vermuthen, 
dafs  in  den  Einzelheiten  individuelle  Varianten  existiren,  so  dafe,  wenn 
man  zu  sehr  auf  Feinheiten  eingehen  wollte,  man  von  dem  Allgemein- 
gültigen abkommen  würde.  Auf  der  anderen  Seite  ist  sicher  zu  erwarten, 
dals,  wie  überall  in  der  Bindesubstanz,  auch  hier  bestimmte  mechanische 


16  H.  ViRCHOw: 

Beanspruchungen  vorherrschen  und  demgemäfs  bestimmte  Faserrichtungen 
ausgebildet  sein  werden.  Die  genauere  Erforschung  dieser  Verhältnisse  ist 
zweifellos  lohnend,  aber  ebenso  zweifellos  sehr  schwierig;  vor  allen  Dingen 
ist  dabei  die  strengste  Einhaltung  der  topographischen  Verhältnisse  uner- 
läfslich.  Bei  der  gewöhnlichen  Art  der  Präparation  werden  die  darzustellen- 
den Theile  zu  besserer  Bequemlichkeit  des  Präparanten  verlagert,  gespannt, 
gedehnt,  und  es  geht  dabei  Alles  verloren,  worauf  es  hier  ankommt.  Faser- 
züge werden  in  die  Richtung  anderer  gebracht,  mit  denen  sie  in  Wahr- 
heit Winkel  bilden,  und  sie  erscheinen  als  Fortsetzungen,  Ausstrahlungen, 
»Fascienzipfel«,  während  sie  in  Wahrheit  eine  absolute  oder  relative  Selb- 
ständigkeit besitzen. 

Mir  scheint  es,  dafs  in  dem  Gefiige  der  Kapsel  locale  Differenzen 
vorkommen,  und  wenn  ich  auch  nicht  wage,  in  dieser  schwierigen  Frage 
ein  letztes  Wort  zu  sprechen,  so  möchte  ich  doch  einige  Erfahrungen  vor- 
legen. 

Im  untern  medialen  Quadranten  ist  die  Kapsel  verdickt,  wozu 
eine  Anzahl  kleiner  in  derselben  enthaltener  Fettläppchen  beiträgt.  Diese 
Verdickung  setzt  sich  auch  auf  die  Unterseite  fort,  doch  ist  auch  hier 
noch,  d.  h.  an  der  Unterseite,  die  dicke  Kapsel  von  der  ihr  unten  an- 
liegenden dünnen  Scheide  des  Obliquus  inferior  präparatorisch  trennbar. 

Im  untern  lateralen  Quadranten  ist  die  Kapsel  schwächer;  sie 
wird  hier  gebildet  durch  die  in  sie  einrückende  (anfangs  untere,  später) 
laterale  Fascie  des  Obliquus  inferior. 

An  der  medialen  Seite,  d.  h.  medial  vom  Rectus  medialis,  ist  die 
Kapsel  ausgezeichnet  durch  das  schon  erwähnte,  auf  dem  horizontalen 
Schnitt  dreieckige  Polster.  Eine  Schichtung  ist  hier  nicht  vorhanden. 
Man  mufs  allerdings  zugeben,  dafs  die  innerste  dem  Muskel  nächste  Lage 
ein  mehr  fascienartiges  Gefiige  hat  und  sich  von  dem  Polster  unterscheidet, 
aber  eine  Trennung  zwischen  beiden  lälst  sich  dennoch  nicht  machen. 

An  der  lateralen  Seite,  d.  h.  lateral  vom  Rectus  lateralis,  lä&t  sich 
die  hier  sehr  kräftige  Kapsel  deutlich  in  zwei  gleichdicke  Blätter  oder 
Lagen  spalten,  welche  durch  eine  dünne  Schicht  mehr  lockern  Ge- 
webes getrennt  sind;  und  diese  Schichtung  gewinnt  dadurch  an  Bedeu- 
tung, dafs  die  innere  dieser  beiden  Lagen  mit  der  Conjunctiva  bulbi ,  die 
äufsere  mit  der  Conjunctiva  palpebrarum  verbunden  ist.  Die  innere  be- 
ginnt erst  an  der  »Scheiden Verbindung«    des  Muskels  und  besitzt  hier  ein 


■  »  

Über  Tenon' sehen  Raum  und  Tenofische  Kapsel  17 

sehnenartiges  Aussehen.  Die  äulsere  der  beiden  Lagen  lä£st  sich  am  Muskel 
weiter  nach  hinten  verfolgen  in  die  äulsere  Wand  der  Fascienscheide. 

Diese  Spaltung  der  lateralen  Seite  VkSst  sich  nun  auch  nach  oben 
fortführen  bis  in  denjenigen  Theil  der  Kapsel ,  welcher  zwischen  Rectus 
superior  und  Levator  gelegen  ist.  Erst  in  der  Nähe  des  medialen  Randes 
des  letztern  wird  sie  undeutlich ,  indem  hier  das  andere  Oefäge  sich  gel* 
tend  macht,  welches  auf  die  Sehne  des  Obliquus  superior  Bezug  hat.  Da 
nun  die  Spaltbarkeit  auch  auf  der  oberen  Seite  vorhanden  ist,  so  könnte 
man  vielleicht  versucht  sein,  hier  die  Ursache  für  dieselbe  zu  suchen, 
nämlich  in  den  Beziehungen  auf  die  beiden  begrenzenden  Muskeln,  den 
Levator  und  Rectus  superior.  Hiergegen  mufs  ich  mich  aber  doch  ent- 
schieden aussprechen,  da  ich  die  Trennung  auf  der  lateralen  Seite 
viel  deutlicher  finde,  bedingt  durch  eine  makroskopisch  wahrnehmbare 
mehr  lockere  Zwischenschicht.  Höchstens  könnte  man  zugeben,  dafs  so- 
wohl an  der  lateralen  als  auch  an  der  oberen  Seite  Gründe  für  eine  Spaltung 
vorliegen,  und  in  diesem  Sinne  möchte  ich  das  Phänomen  besprechen. 

An  der  dorsalen  Seite  kann  man  die  beiden  genannten  Muskeln 
als  Ursache  ansehen.  Indem  die  Kapsel,  zwischen  ihnen  gelegen,  mit 
beiden  verbunden  ist,  die  Muskeln  aber  getrennter  Action  fähig  sind,  so 
ist  die  Spaltbarkeit  wohl  erklärt.  Ich  möchte  es  aber  nicht  befürworten, 
etwa  die  beiden  Lagen  als  »obere  Fascie  des  Rectus  und  untere  Fascie 
des  Levator«  zu  bezeichnen.  Dafür  spricht  weder  die  makroskopische 
Präparation  noch  die  mikroskopische  Untersuchung.  Auch  läfst  sich  die 
Spaltung  noch  weiter  treiben.  In  einem  Falle  z.  B.  fand  ich,  dafs  die 
obere  der  beiden  genannten  Lagen  sich  in  der  ganzen  Breite  des  Levator, 
und  darüber  hinaus  im  obem  lateralen  Quadranten  der  Kapsel  bis  auf  die 
laterale  Seite,  in  zwei  weitere  Blätter  zerlegen  liefs,  von  denen  das  oberste 
dünner  und  mit  dem  Levator  an  einer  vorn  und  lateral  gelegenen 
Stelle  untrennbar  verbunden  war.  Diese  Stelle  würde  also  in  ihrer 
mechanischen  Bedeutimg  den  »Scheidenverbindungen«  der  Recti  entsprechen. 

Für  die  Spaltbarkeit  an  der  lateralen  Seite  lassen  sich  Gründe 
gleichfalls  auffinden.  Man  mufs  nur  den  in  Betracht  kommenden  That- 
sachencomplex  zusammenfassen;  und  zu  diesem  gehören  aufser  der  Spalt- 
barkeit  noch  die  oben  erwähnte  festere  Verbindung  der  inneren  Lage  mit 
dem  Muskel  und  die  Dichtigkeit  des  Gewebes  im  Tenon 'sehen  Räume 
zwischen  der  Rectus -Sehne  und  der  Kapsel,  wovon  später  noch  die  Rede 

Phys,  Ähh,  nicht  zur  Akad,  gehör.  Gelehrter,    1902.    IV.  3 


18  H.  ViRCHOw: 

sein  wird.  Die£s  alles  vereint  weist  darauf  hin,  dafs  die  innere  Lage  der 
Kapsel  in  höherm  Grade  den  Bewegungen  des  Muskels  folgt  als  die  äulsere, 
und  dafs  eine  gewisse  Unabhängigkeit  des  Muskels  und  der  mit  ihm 
verbundenen  Lage  von  der  äulseren  angestrebt  ist.  Da  nun  die  ftulsere 
Lage  die  Verbindungen  zur  Orbital  wand  trägt ,  so  geht  allein  schon  aus 
den  aufgebahrten  Thatsachen  hervor,  dafe  selbst  dann,  wenn  man  diese 
Verbindungen  als  »Fascienzipfel«  auffassen  wollte  — was  ich  nicht  thue  — , 
doch  von  einem  Fascienzipfel  des  Rectus  lateralis  nicht  gesprochen  werden 
könnte.  Die  genauere  Betrachtung  der  Beschaffenheit  und  Richtung  dieser 
Wandbefestigungen,  welche  in  einem  andern  Abschnitt  dieser  Arbeit  folgen 
wird,  verstärkt  diese  kritischen  Bedenken. 

Der  dorso-mediale  Quadrant  der  Kapsel  ist  durch  die  ihn  schief 
durchsetzende  Sehne  des  Obliquus  superior  beeinflu&t.  Die  Kapsel  reicht 
hier  bis  an  das  distale,  lateral wärts  gewendete  Ende  der  Trochlea  heran 
und  ist  mit  diesem  verwachsen.  Der  Abstand  von  dieser  Stelle  bis  an  die 
Eintrittsstelle  der  Sehne  in  den  Ten on 'sehen  Raum  milst  7""*;  auf  einer 
so  langen  Strecke  ist  die  Sehne  in  die  Kapsel  selbst  eingeschlossen. 
Es  ist  gerade  hier  unerlälslich ,  ein  Präparat  zu  verwenden ,  bei  welchem  durch 
voraufgegangene  Behandlung  (Formalin- Alkohol -Injection)  die  Theile  so 
weit  fixirt  sind,  dafs  sie  Form  und  Lage  bewahren;  denn  sonst  treten  un- 
vermeidliche Verziehungen  ein,  welche  das  Bild  wesentlich  ändern.  Ich 
recapitulire ,  dafs  die  Sehne  des  Obliquus  superior  bis  an  die  innerste  Schicht 
der  Kapsel  heran  ihre  rundliche  Gestalt  bei  einer  Dicke  von  2°"°  bewahrt, 
und  dafs  sie  erst  beim  Passiren  der  innersten  Schicht  selbst  sich  abplattet, 
so  dafs  sie  beim  Eintritt  in  den  Tenon'schen  Raum  3"f°5  breit  ist,  worauf 
sie  noch  bis  zum  Ansatz  an  die  Sclera  sieh  auf  6°"°*  ausbreitet.  Das  inner- 
halb des  Tenon'schen  Raimies  gelegene  Stück  zeichnet  sich  durch  Zartheit 
vor  den  Recti- Sehnen  aus  und  ist  durch  ein  hinteres  »adminiculum«  mit 
der  Wand  verbunden. 

Die  Kapsel  nun  ist  auch  an  dieser  Stelle  nicht  von  homogenem ,  sondern 
von  blättrigem  Bau ,  aber  dieser  Bau  ist  dadiu*ch  complicirt ,  dafs  die  einzelnen 
Schichten  sich  an  der  Umhüllimg  der  Obliquus -Sehne  mittels  röhren- 
artiger oder  scheidenartiger  oder  trichterartiger  Abschnitte  be- 
theiligen. Ich  will  diefs  auf  Grund  eines  Einzelbefundes  schildern.  Die 
innerste  Lage  der  Kapsel  enthält  den  Schlitz  für  den  Eintritt  der  Sehne, 
der  jedoch  nur  eng,  nur  an  der  oberen  Seite  der  Sehne  deutlich  erkenn- 


••  

Über  Tenon* sehen  Baum  und  Tenorische  Kapsel  19 

bar  und  nicht  mit  einer  scharfen  Lippe  versehen  ist,  weil  die  Sehne  nicht 
in  dem  Maläe  schief  wie  die  der  Recti  und  des  Obliquus  inferior  eintritt. 
Von  dieser  engen  Öffnung  an  gibt  die  betreffende  Eapselschicht  eine  röhren- 
förmige Umhüllung  für  die  Sehne  rflckwäi*ts  bis  zur  Trochlea.  An  die 
röhrenförmige  Scheide  tritt  sodann  ein  zweites  Blatt  der  Kapsel,  welches  aber 
nicht  so  ausgedehnt  wie  das  erstere  ist,  sondern  die  Gestalt  einer  kleineren 
Platte  hat.  Dazu  kommt  alsdann  eine  dritte  oder  &u£serste  Lage,  welche  haupt- 
sächlich an  der  oberen  und  hinteren,  aber  auch  an  der  unteren,  am  wenigsten 
an  der  vorderen  Seite  der  Sehne  ausgebildet  ist.  Diese  Lage  umhüllt  die  Sehne 
in  der  Gestalt  eines  kurzen  Trichters,  dessen  Spitze  an  der  Trochlea  sitzt, 
und  der  mit  der  vorher  genannten  röhrenförmigen  Umhüllung  verwachsen  ist. 

Die  Sehne  liegt  innerhalb  der  erwähnten  Scheide  nicht  frei,  sondern 
ist  innerhalb  derselben  von  dem  lockern  Gewebe  des  Tenon 'sehen  Raumes 
begleitet;  vor  allem  fest  ist  die  Verbindung  am  hintern  Rande  und  an  der 
unteren  Seite.  Daher  kommt  es,  dafs,  wenn  man  an  einem  frischen  oder 
weniger  stark  fixirten  Präparat  nur  von  oben  her  die  Scheide  aufschlitzt 
und  dann  die  Wände  derselben  auseinanderzieht,  die  in  Wahrheit  rundliche 
Sehne  in  die  Breite  gedehnt  und  verdünnt  wird,  wobei  man  auch  sieht, 
dafs  ein  Theil  ihrer  Fasern  in  die  Wand  der  Scheide  selbst  über- 
geht. Hieraus  erklärt  sich  wohl  auch  die  auffallende  Zartheit  der  Sehne 
dieses  durchaus  nicht  unkräftigen  Muskels  innerhalb  des  Tenon 'sehen 
Raumes.  Man  muJGs  nach  diesem  Verhalten  annehmen,  dafs  ein  nicht  un- 
erheblicher Theil  des  Muskelzuges  sich  innerhalb  der  Kapsel  erschöpft, 
ohne  auf  den  Bulbus  selbst  übertragen  zu  werden.  Da  nun  auch  die  Recti 
mit  ihren  Scheiden  verbunden  sind,  so  läfst  sich  auch  auf  sie  diese  Be- 
trachtung anwenden. 

Die  eben  beschriebenen,  im  obern  medialen  Quadranten  gefundenen 
Blätter  lassen  sich  bis  in  den  hintern  obern  Theil  der  Kapsel  trennen, 
d.  h.  bis  in  den  Theil  derselben,  der  zwischen  Rectus  superior  und  Seh- 
nerv liegt. 

1.  Faseie  des  Horner'sehen  Muskels;  Septam  orbitale. 

Um  die  Befestigung  der  Kapsel  an  der  medialen  Orbitalwand  verstehen 
zu  können,  mufs  man  sich  zuvor  die  Faseie  vergegenwärtigen,  welche  die 
innere  (laterale,  hintere)  Flache  des  sogenannten  Horner'sehen  Muskels 
bedeckt.     Diefs  aber  bringt  mich  auf  das  Septum  orbitale. 

3* 


20  H.  ViRCHOw: 

In  der  Beschreibung  von  Merkel  und  Kallius  ist  nämlich,  um  die 
Befestigung  des  Septum  an  der  medialen  Orbitalwand  deutlich  zu  machen, 
eine  Pigur  gegeben  \  auf  welcher  die  Ansatzlinie  die  Figur  einer  gleichmäßig 
nach  hinten  ausgebögenen  Linie  besitzt.  Dabei  ist  auf  den  Horner'schen  Mus- 
kel nicht  in  gebiihrender  Weise  Rücksicht  genommen.  Da  nämlich  dieser  Muskel 
nicht  nur  an  der  Crista  lacrimalis  posterior,  sondern  hinter  letzterer  entspringt, 
so  müfste  entweder  an  dieser  Stelle  die  genannte  Linie  eine  scharfe  buchtartige 
Ausweichung  nach  hinten  machen ,  oder  es  müfste  eine  Unterbrechung  von 
der  Höhe  des  Horner'schen  Muskels,  eine  Pforte  für  diesen  Muskel,  existiren. 
Weit  energischer  erscheint  diese  rückwärts  gerichtete  Ausbuchtung  im  medi- 
alen Ansatz  des  Septum  in  einer  Figur  von  T  es  tut',  doch  ist  hier,  wie  ich 
glaube  y  das  untere  Stück  der  Linie  nicht  ganz  treffend  wiedergegeben. 

Die  von  diesen  Autoren  bevorzugte  Auffassung,  nach  welcher  das 
Septum  an  der  ganzen  medialen  Wand  continuirlich  ist,  läfst  sich 
nun  allerdings  insofern  vertreten,  als  sich  auch  an  «der  Innenfläche  (hin- 
tern, lateralen  Fläche)  des  Horner'schen  Muskels  ein  die  Lücke  zwischen 
oberm  und  unterm  Septum  föllendes  Bindegewebsblatt  findet,  welches 
allerdings  dem  Muskel  eng  aufliegt  und  durchaus  die  Rolle  einer  (übrigens 
nicht  dicken)  Fascie  desselben  spielt.  Dieses  Blatt  hat  eine  Höhe  (in  senk- 
rechter Richtung),  welche  der  Breite  des  Horner'schen  Muskels  gleich- 
kommt, also  5°™  und  eine  Länge  (in  horizontaler  Richtung)  von  S"^.  Es 
erhebt  sich  nicht  steil  vom  Knochen,  wie  die  übrigen  Theile  des  Septum, 
sondern  geht  aus  der  Periorbita  tangential  hervor  und  ist  vorn  straff  be- 
festigt an  dem  hufeisenförmigen  Boden  des  Thränensees. 

Da  ich  im  Folgenden  noch  eine  andere  Stelle  des  Septum  zu  be- 
rücksichtigen habe  und  da  das  Septum  überhaupt  für  eine  klare  Auffiissung 
des  Orbitaleinganges  wichtig  ist,  so  gehe  ich  mit  einigen  weiteren  Be- 
merkungen auf  diese  Bildung  ein. 

Man  pflegt  das  Septum  als  eine  vom  Augenhöhlenrande  ausgehende 
bindegewebige  Platte  zu  schildern,  welche  im  obem  Lide  mit  der  vor^ 
dem  Ausbreitung  des  Levator  zusammentrifft  und ,  mit  ihr  vereinigt ,  hinter 
dem  M.  orbicularis  abwärts  zieht,  vom  Tarsus  durch  lockeres  Bindegewebe 
geschieden,   während  sie   im  untern  Lid  in   das   dichte   subtarsale  Binde- 


^   A.  a.  0.  S.  86 ,  Fig.  39. 

'   Testul,  Traite  d'anatomie  humaiDe.  Tomelll.  LivreV^I.  Organes  des  sens.  Fig.  1169 
auf  p.  261. 


••  

Tiber  Tenon^  sehen  Raum  und  Tenon^sche  Kapsel.  21 

gewebe  des  Lides  eintritt.  Diese  Schilderung  mag  fftr  eine  approximative 
schematische  Auffassung  genflgen. 

Das  Septum  verdünnt  sich  jedoch  nicht  aUmählich,  wie  Schwalbe 
angibt^  sondern  es  gibt  in  demselben  stärkere  und  schwächere  Par- 
tien. Es  ist  nicht  einmal  in  allen  F&llen  continuirlich ,  sondern  es  besitzt 
gelegentlich  Unterbrechungen  und  findet  dann  eine  Ergänzung  durch 
interadipöse  Sept^,  welche  coulissenartig  aus  dem  extramusculären  Räume 
nach  vorn  treten ,  so  dafs  sich  zwischen  ihnen  Fettlappen  bis  an  die  Rück- 
seite des  Orbicularis  heranschieben. 

Will  man  das  Septum  in  seinen  Beziehungen  zu  den  Nachbartheilen 
genau  schildern ,  so  mufs  man  dasselbe  dem  Umfange  nach  in  acht  Stücke 
theilen,  von  denen  eines  als  Fascie  des  Hörn  er 'sehen  Muskels  soeben 
erwähnt  worden  ist,  und  von  denen  ein  zweites  als  »septale  Brücke  des 
untern  Lides«  noch  berücksichtigt  werden  soll. 

Auch  darf  man  die  Vorstellung  nicht  aufkommen  lassen,  wozu  der 
Ausdruck  »Septum«  verf&hren  könnte,  als  wenn  es  sich  um  eine  steife 
Platte  handelte.  Man  braucht  nur  die  Lidbewegung  eines  lebenden  Menschen 
zu  beobachten,  am  besten  eines  magern  Individuums,  bei  welchem  bei 
geöffneter  Spalte  selbst  der  Lidrand  sich  hinter  der  Deckfalte  versteckt, 
und  man  wird  sofort  darüber  klar  sein,  dafs  mit  den  Bewegungen  der 
Lider  auch  das  Septimfi  beständig  hin  und  hergebogen  wird.  Wenn 
ein  Mensch  die  Lidspalte  weit  geöffnet  hat ,  so  muJs  sein  oberes  Septum 
unter  dem  Knochenrande  ganz  nach  hinten  gezogen  sein  und  mufs  sogar 
hinten  höher  stehen  als  vorn.  Wirklich  unbewegt  bleibt  dabei  nur  der 
derbe  Randstreifen,  welcher  die  supraorbitalen  lücisuren  in  Löcher  ver- 
wandelt, und  den  man  so  gern  vorpräparirt ,  wenn  man  eine  Anschauung 
vom  Septum  geben  will. 

Aber  dieser  Randstreifen,  der  übrigens  höchstens  2^^  hoch  ist,  ist 
im  Grunde  genommen  gar  nicht  Septum,  sondern  eine  periostale  Bildung, 
eine  Ergänzung  des  Knochens  selber.  Diels  geht  schon  daraus  hervor,  dals 
die  Löcher  für  die  supraorbitalen  Nerven  häufig  auch  an  ihrer  Unterseite 
knöchern  geschlossen  sind,  und  zeigt  sich  au&  deutlichste,  wenn  man  ge- 
nannten Streifen  lateral wärts  verfolgt ,  zu  der  Stelle ,  wo  der  obere  Augen- 
höfalenrand  in  den  lateralen  Rand  umbiegt.    Hier  verstärkt  sich  der  fibröse 


^    A.  a.  O.    S.  222. 


22  H.  ViRCHOw: 

Streifen  aulserordentlich ,  wird  dick  und  breit;  aber  er  liegt  dann  flach  dem 
Knochen  selber  an  und  bildet  mit  dem  Septum  einen  rechten  Winkel. 

Mit  anderen  Worten:  das  Septum,  so  werthvoU  es  auch  ist  für  die 
topographische  Abgrenzung,  besitzt  doch  nicht  die  selbständige  Bedeutung, 
welche  ihm  in  den  Beschreibungen  oft  zu  Theil  wird,  sondern  ist  an  den 
meisten  Stellen  als  eine  Muskelfascie,  nämlich  als  eine  Fascie  des  Orbi- 
cularis,  anzusehen. 


8.  Levator  palpebrae  snperioris;  Ausbreitungen  und  Fascie  desselben, 

Fascienzipfel,  Sehnenzipfel,  abgelöste  Bündel. 

Der  Levator  hat  so  nahe  Beziehungen  zur  Tenon'schen  Kapsel  durch 
seine  untere  Fläche  und  durch  seinen  lateralen  Rand,  oft  auch  durch  seine 
(obere)  Fascie,  dafs  er  hier  nicht  unbesprochen  bleiben  kann. 

Der  Levator,  indem  er  sich  vorn  zu  einer  dünnen  Platte  ausbreitet, 
verhält  sich  dabei  stark  asymmetrisch,  da  er  an  der  lateralen  Seite  bis 
an  den  Knochen  heran  ausgedehnt  und  an  diesem  mit  einem  »Sehnenzipfel« 
befestigt  ist,  während  er  an  der  medialen  Seite  mit  einem  freien  Rande 
in  ziemlicher  Entfernung  von  der  Orbitalwand  endigt.  Hier  wird  durch 
die  schief  nach  hinten  ziehende  Sehne  des  Obliquus  seiner  weiteren  Aus- 
breitung ein  Riegel  vorgeschoben.  Diese  Asymmetrie  des  Muskels  kommt 
in  deutlicher  Weise  zum  Ausdruck  in  einer  Figur  von  Merkel  und  Kallius^; 
doch  ist  allerdings  dieses  Bild  durch  die  skizzenhafte  Behandlung,  durch 
die  Verzerrung  des  medialen  Fettlappens  und  durch  die  ungenaue  Figuren- 
erklärung nicht  geeignet,  den  Unkundigen  aufzuklären. 

Die  vordere  breite  Partie  des  Levator,  oder  die  »Levator-Ausbrei- 
tung«,  spaltet  sich,  wie  bekannt  ist,  der  Fläche  nach  in  zwei  Blätter, 
ein  oberes  (weiterhin  vorderes)  und  unteres  (weiterhin  hinteres),  von  denen 
das  erstere,  mit  dem  obem  Septum  verbunden,  hinter  dem  Lid-Orbicularis, 
vom  Tarsus  durch  lockeres  Bindegewebe  getrennt,  abwärts  zieht,  während 
das  letztere  sich  mit  dem  obem  Rande  des  Tarsus  verbindet. 

Beide  Blätter  sind  in  der  Mitte,  d.h.  in  gleichem  Abstände  von  der 
lateralen  und  medialen  Orbitalwand,  gleich  ansehnlich,  doch  ändert  sich 
diefs  an  der  lateralen  Seite,  wo  das  vordere  Blatt  zur  Bildung  des  Seh- 


1    A.  a.  0.  Fig.  35  auf  S.  78. 


•  •  ^^ 

über  Tenan' sehen  Raum  und  Tenorische  Kapsel  23 

nenzipfels  sich  verstärkt,  das  hintere  Blatt ,  den  conjunctivalen  Thränen- 
drusen  aufliegend,  sich  verdCLnnt,  gewissermaXsen  durch  den  Druck  dieser 
Drüsen  usurirt  wird. 

Die  Spaltung  des  Levator  in  seine  beiden  Blätter  vollzieht  sich  schon 
im  Muskel,  allerdings  nur  etwa  2"°"  hinter  der  Stelle,  wo  das  obere  Blatt 
sehnig  wird,  aber  doch  immerhin  dort,  wo  der  Muskel  noch  Muskel  ist, 
wodurch  es  über  jeden  Zweifel  erhoben  wird,  dafs  auch  das  vordere  der 
beiden  Blätter  den  Charakter  einer  Sehnenausbreitung  und  nicht  den 
einer  Fascie  besitzt.  Von  dieser  Stelle  an,  die  etwa  io"°*  hinter  dem  Sep- 
tum -Ansatz  an  das  vordere  Blatt  gelegen  ist,  ist  die  Spaltung  im  Muskel 
continuirlich ,  sowohl  in  senkrechter  wie  in  querer  Richtung.  Am  me- 
dialen Rande  hängen  beide  Blätter  zusammen,  und  wenn  man  diesen 
medialen  Rand  abwärts  (bez.  vor-  oder  distalwärts)  verfolgt,  so  findet  man, 
dals  hier  der  Levator  seinen  Ansatz  am  Tarsus  um  weniges  nach  der  me- 
dialen Seite  überschreitet  und  in  unbedeutender  Weise  mit  der  Tenon' sehen 
Kapsel  verbunden  ist,  ohne  aber  eine  Verbindung  nach  der  medialen  Orbi- 
talwand hinüber  zu  haben. 

Am  lateralen  Rande  ist  das  Bild  nicht  immer  ganz  deutlich;  es 
kommen  hier  auch  leichte  Varianten  vor  und  selbst  in  den  klarsten  Fällen 
ist  doch  eine  aufserordentlich  sorgfältige  Präparation  erforderlich.  Ich  be- 
schreibe einen  solchen  genau  analysirten  Fall,  den  ich  nach  mehrfachen 
Erfahrungen  als  typisch  betrachten  kann.  Die  beiden  Blätter  oder  Aus- 
breitungen des  Muskels  decken  sich  zwar  mit  ihren  Rändern,  doch  sind 
sie  hier  nicht  verbunden,  so  dafs  der  im  Levator  vorhandene  Spalt, 
oder  —  wie  man  es  auch  nennen  kann  —  die  Tasche  des  Levator,  an 
dem  lateralen,  zugleich  rückwärts  gewendeten  Rand  offen  steht.  Es  kann 
sogar,  während  im  übrigen  diese  beiden  Blätter  hart  auf  einander  liegen, 
hier  zu  einem  kleinen  Abstände  zwischen  beiden  kommen.  Im  vorlie- 
genden Falle  beträgt  derselbe  am  Knochenansatze  2™°  und  ist  bedingt 
durch  ein  kleines  Läppchen  der  Thränendrüse.  Man  mufs  sich  nämlich 
erinnern,  dafs  am  hintern  Rande  des  Levator -Zipfels  die  Verbindung  der 
orbitalen  mit  der  conjunctivalen  Thränendrüse  gelegen  ist,  und  von  dieser 
Verbindung  dringt  das  erwähnte  Läppchen  zwischen  beide  Levator-Blätter  ein. 

Von  diesen  beiden  Blättern  oder  Levator -Ausbreitungen  —  es  handelt 
sich  ja  hier  immer  nur  um  den  lateralen  Randtheil  —  ist  nun  das  obere 
oder  vordere  leicht,  das  untere  oder  hintere  schwer  zu  verstehen. 


24  H.  ViRCHow: 

;  Das  obere  hat  von  der  Stelle  an,  wo  überhaupt  die  Spaltung  im 
Muskel  sich  vollzieht,  d.h.  in  einer  Ausdehnung  von  ij™°,  einen  freien 
Rand  und  verstärkt  sich  in  zunehmender  Weise  nach  der  lateralen  und 
unteren  Seite,  indem  es  hier  den  erwähnten  Sehnenzipfel  bildet,  der 
sich  in  einer  9™°  langen  Linie  am  Knochen  befestigt.  Berücksichtigt  man 
die  im  Muskel  vorhandene  Wölbung,  so  wird  man  verstehen»  daXs  diese 
Ansatzlinie,  welche  bis  zur  Höhe  des  lateralen  Lidwinkels  hinabreicht, 
in  ihrer  unteren  Hälfte  senkrecht  steht ,  in  ihrer  oberen  Hälfte  dagegen 
räckwärts  gebogen  ist. 

Ich  werde  auf  diesen  Sehnenzipfel  noch  einmal  zurückkommen,  wenn 
ich  von  den  lateralen  Befestigungen  der  Tenon 'sehen  Kapsel  spreche;  doch 
tritt  das  Wesentliche  schon  jetzt  hervor,  wenn  man  nur  einige  Consequenz 
darauf  verwendet,  das  Thatsächliche  klar  vor  Augen  zu  behalten,  und  es 
nicht  in  einer  verschwommenen  Sammelvorstellung  untergehen  zu  lassen. 
Es  handelt  sich  um  eine  straffe,  kräftige,  aber  doch  immerhin  dünne  Platte, 
deren  oberer  (zugleich  hinterer)  Rand  frei  ist,  und  deren  unterer  Rand  so- 
wohl mit  dem  davor  liegenden  Septum  orbitale,  wie  mit  dem  dahinter 
liegenden  »Ligamentum  capsulare  laterale  inferius«  verbunden  ist.  Es  han- 
delt sich  nicht  imi  einen  Fascienzipfel ,  sondern  um  einen  Sehnenzipfel. 
Dieser  Sehnenzipfel  ist  mit  der  Tenon 'sehen  Kapsel  gar  nicht  verbunden; 
er  kann  also  auf  diese  wenigstens  nicht  unmittelbar  einwirken,  und  mau 
mufs  beim  Anblick  desselben  jedenfalls  in  erster  Linie  an  Beziehungen  zur 
Lidhaltung  imd  Lidbewegung  und  nicht  an  solche  zur  Augenhaltung 
und  Augenbewegung  denken. 

Die  untere  oder  hintere  Levator-Ausbreitung  befestigt  sieh  in 
dem  Falle,  den  ich  beschreibe,  gleichfalls  am  Knochen;  sie  hat  gleich- 
falls einen  freien,  rückwärts  gewendeten  Rand.  Aber  dieser  Rand- 
abschnitt müst  nur  7°V°5;  das  dahinter  liegende  Stück  des  Randes  ist  ab- 
solut nicht  von  der  Kapsel  zu  trennen.  Wir  haben  es  hier  mit  der 
schon  frülier  erwähnten  Stelle  des  Levator  zu  thun,  an  welcher  die  Ver- 
bindung des  Muskels  mit  der  Kapsel  ganz  besonders  innig  ist.  Trotzdem 
lälst  sich  aber  doch  an  dem  Aussehen  und  an  der  Faserung  der  Levator- 
Rand  ganz  deutlich  erkennen  und  in  das  freie  Randstück  weiterföhren. 

Verfolgt  man  nun  diese  Levator-Ausbreitung  über  die  Kapsel  hinaus 
nach  vom,  d.  h.  in  das  Gebiet  des  obern  Lides,  so  kommt  man  aa 
die  Stelle,  wo  die  conjunctivalen  Thränendrüsen  gelegen  sind.    Hier 


Über  Tenon* sehen  Bmm  und  Tenorische  Kapsel.  25 

verdünnt  sie  sieh  aufs  äufserste;  ja  es  kommen  Fälle  vor,  wo  sie 
trotz  der  sorgfältigsten  Präparation  nicht  als  gesondertes  Blatt  darstellbar 
ist.  Sie  ist  eben  durch  die  von  unten  her  andrängenden  conjunctivalen 
Thränendrüsen  verdünnt  und  usurirt,  und  dieser  so  zu  sagen  atrophischen 
Partie  gehört  auch  der  eben  erwähnte  Knochenansatz  an. 

Trotzdem  findet  das  untere  Levator- Blatt  hiermit  nicht  sein  Ende;  viel- 
mehr wird  der  Untersucher,  der  mit  Vorsicht  die  Spaltung  des  Levator  in 
seine  beiden  Blätter  bis  zu  Ende,  .d.  h.  bis  gegen  den  Lidrand,  fort- 
setzt, für  seine  Bemühung  dadurch  belohnt,  dafs  er  auf  eine  neuerliche 
Verstärkung  der  hinteren  Ausbreitung  trifltt.  Diese  Verstärkung  kommt 
durch  horizontale  Fasern  zu  Stande,  und  hat  eine  Höhe  von  4""™.  Da 
diese  verstärkte  Partie  vom  Knochen  an  das  laterale  Ende  des  Tarsus 
geht,  so  verdient  sie  die  Bezeichnung  eines  »Ligamentum  laterale  tarsi 
superioris«. 

Somit  sind  an  der  lateralen  Randpartie  des  unteren  Blattes  des  Le- 
vator drei  hinter  einander  gelegene,  in  ihren  mechanischen  Beziehun- 
gen wesentlich  differente  Abschnitte  zu  unterscheiden:  eine  hintere  mit 
der  Ten on' sehen  Kapsel  innig  verbundene  und  daher  auf  diese  wirkende ; 
eine  mittlere,  die  wegen  ihrer  Schwäche  überhaupt  keine  mechanische  Be- 
deutung besitzt  und  nur  den  morphologischen  Werth  hat,  dafe  sie  eine 
Verbindung  nach  vom  vermittelt;  und  eine  vordere,  welche  zur  Fixirung 
des  Tarsus  dient. 

Für  unser  specielles  Problem,  fiir  die  Beziehungen  der  Tenon' sehen 
Kapsel,  ist  das  hinterste  dieser  drei  Stücke  das  einzig  in  Betracht  kommende. 
Aber  von  einem  »Fascienzipfel  des  Levator«  ist  dabei  nichts  zu  spüren, 
denn  weder  ist  eine  Fascie  vorhanden  noch  ein  Zipfel;  es  liegt  vielmehr 
eine  »Kapselverbindung  der  unteren  Levator-Ausbreitung«  vor, 
die  —  wie  schon  gesagt  —  in  ihrer  mechanischen  Bedeutung  den  »Schei- 
denverbindungen«  der  vier  Recti  an  die  Seite  zu  stellen  ist. 

Ich  werde  im  weitem  Verlaufe  meiner  Darstellung  alle  Wandverbin- 
dungen der  Kapsel  und  Fascienverbindungen  besprechen,  soweit  es  noch 
nicht  geschehen  ist,  aber  ich  möchte  sclion  hier  die  Bemerkung  einfügen, 
dafs  bei  einer  genaueren  Analyse  von  den  »Fascienzipfeln«  nichts  Greif- 
bares übrig  bleibt.  Der  Begriff  Fascienzipfel  ist  ein  Sammeltopf, 
in  den  alle  unanalysirten  Reste  zusammengeworfen  worden  sind. 
Ich  habe  mich   mehrmals  heifs  bemüht,  die  Fascienzipfel  nach  den  Lehr- 

Phys,  Ahh,  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter.    1902.    IV.  4 


26  H.  ViRCHOw: 

büchern  zu  verstehen ,  aber  während  man  sonst  bei  complicirten  Objecten 
die  angenehme  Erfahrung  macht,  dafs  eine  schwer  verständliche  Sache  klar 
wird,  wenn  man  das  Object  selbst  zu  Hülfe  nimmt,  so  geht  umgekehrt 
bei  den  »Fascienzipfeln«  das  Bischen  Klarheit,  welches  man  sich  aus  dem 
Buch  angelesen  hat,  verloren,  sobald  man  an  das  Präparat  kommt. 

Nach  dieser  Zwischenbemerkung  kehre  ich  zum  Levator  zurück. 

Weitere  Blätter  oder  Ausbreitungen  des  Levator  aufser  den  zwei  ge- 
nannten gibt  es  nicht.  Doch  müssen  'vy^ir  betrachten,  was  an  der  unteren 
und  was  an  der  oberen  Seite  des  Muskels  gelegen  ist. 

An  der  unteren  Seite  des  Levator,  d.h.  zwischen  Levator  und  Rectus 
superior,  findet  sich  in  der  hinteren  Hälfte  der  Orbita  überhaupt  gar  kein 
bindegewebiges  Blatt,  weder  zwei  Fasclen,  noch  eine,  sondern  nur  eine 
ganz  spärliche  Menge  von  zartem  Bindegewebe,  Vorn,  d.h.  oberhalb  des 
Bulbus,  trifft  man  eine  ansehnliche  Lage,  in  welcher  ich  nichts  anderes 
als  einen  Abschnitt  der  Kapsel  erblicke.  Ich  habe  schon  ausgeföhrt,  dafs 
man  allerdings  in  diesem  eine  Spaltung  in  zwei  Lagen  vornehmen,  und 
dafs  man  darin  eine  Beziehung  auf  die  beiden  begrenzenden  Muskeln  er- 
blicken kann,  aber  ich  habe  auch  hinzugefögt,  dafs  diese  Spaltbarkeit  nicht 
so  weit  geht,  dafe  man  darüber  die  einheitliche  Auffassung  der  Kapsel  aus 
den  Augen  verlieren  sollte. 

An  der  oberen  Seite  des  Levator  mufs  man  um  so  bestinomter  eine 
Fascie  hervorheben;  und  diese  hat  eine  Reihe  bestimmter  Charaktere.  Im 
Grunde  der  Augenhöhle  fehlt  sie  gänzlich;  sie  beginnt  dann  da,  wo  der 
Muskel  sich  mehr  verbreitert  und  erlangt  ihre  gröfste  Stärke  an  der  Stelle, 
wo  die  Spaltung  des  Muskels  selbst  in  seine  beiden  Blätter  sich  vollzieht. 
An  dieser  Stelle,  die  stets  durch  das  Vorkommen  starker  Venen  im  Muskel 
ausgezeichnet  ist,  ist  sie  auch  verhältniismäfsig  fest  mit  dem  Muskel  ver- 
bunden ,  und  ich  fand  in  einem  Falle  unter  Controle  des  Mikroskops  hier 
den  Übertritt  sehr  feiner  zerstreuter  und  aufgefaserter  Muskelbündel  in  die 
Fascie  in  der  ganzen  Breite  des  Levator  vom  medialen  bis  zum  lateralen 
Rande,  am  stärksten  an  letzterm.  Vor  dieser  Stelle  nimmt  die  Fascie  in 
der  Mitte  ab  und  verläufl  sich  in  dem  lockern  Bindegewebe,  so  dafs  sie 
das  Septum  nicht  erreicht. 

Anders  ist  es  an  der  lateralen  und  an  der  medialen  Seite, 

An  der  lateralen  Seite  steht  die  Fascie  durch  eine  schwache  Fort- 
setzung an  der  oberen  Kante  der  Thränendrüse  mit  dem  Periost  in  Ver- 


über  Terum' sehen  Raum  und  Tenon^sche  KapseL  27 

bindung;  sie  selbst  zieht  sich,  gleichfalls  nicht  dick  und  mehr  locker  an 
der  medialen  Seite  der  Drüse  bis  zu  deren  Hilus  hinab,  indem  sie  eine 
Halbkapsel  für  die  Drüse  bildet.  Es  kommt  vor,  dafs  die  Fascie  hier 
in  feste  Verbindung  mit  dem  Sehnenzipfel  des  Levator  tritt,  doch  ist 
die&  nicht  die  Regel;  und  selbst  wenn  es  vorkommt,  kann  man  doch  nur 
von  einem  gemeinsamen  Zipfel  der  Fascie  und  der  Sehne  sprechen,  in 
welchem  letzterer  der  Hauptantheil  zufällt. 

An  der  medialen  Seite  verstärkt  sich  die  Fascie  über  dem  freien 
Rande  des  Muskels ,  und  während  sie  sonst  überall  dem  Muskel  selbst  an- 
liegt und  von  dem  Orbitalrande  durch  das  Fettgewebe  des  extramusculären 
Raumes  getrennt  ist,  so  biegt  sie  hier  aus  der  Richtung  ab  nach  vorn 
gegen  den  Knochen  mid  befestigt  sich  mittels  eines  platten  Streifens  am 
Orbitalrande  oberhalb  der  Trochlea.  Der  Ansatz  an  den  Knochen  hat 
die  Länge  von  6"".  Dabei  kann  sie  entweder  mit  der  Trochlea  selber  und 
mit  dem  früher  erwähnten,  die  Obliquus- Sehne  einscheidenden  Kapsel- 
trichter verbunden  sein,  oder  von  beiden  frei  bleiben. 

Der  Muskel  wird  von  seiner  Fascie  sowohl  am  medialen  wie  am  late- 
ralen Rande  Oberschritten.  Nach  hinten  aber  verlieren  sich  diese  seit- 
lichen Ausbreitungen  aufgelockert  in  dem  Bindegewebe. 

Zu  dem  complicirten  Bilde  des  Levator  gehören  noch  Bündel,  welche 
sich  an  seinem  medialen  Rande  abzweigen  können;  nach  Budge, 
der  dieses  Vorkommen  zuerst  beschrieben  hat,  in  \  der  Fälle,  wie  Schwalbe 
citirt.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dafs  dabei,  da  es  sich  um  einen  in- 
constanten  Befund  handelt,  auch  Varianten  vorkommen.  Den  von  Budge 
gebrauchten  Namen  »Tensor  trochleae«  möchte  ich  nicht  beibehalten ,  denn 
einmal  habe  ich  in  allen  den  Fällen,  die  ich  präparirt  habe,  eine  Befesti- 
gung an  die  Trochlea  nicht  finden  können,  und  dann  ist  auch  bei  der 
grofsen  Derbheit  der  Trochlea  und  der  Schwäche  der  betreffenden  Muskel- 
bündel nicht  abzusehen,  was  eine  »Spannung«  der  Trochlea  bezwecken, 
oder  worin  sie  sich  überhaupt  äufsern  sollte.  Es  erfordert  aber  sehr  viel 
Vorsicht  und  Sorgfalt,  den  Verbleib  dieser  Bündel  festzustellen,  und  ein 
einziger  voreiliger  Schnitt  oder  Zug  kann  den  Erfolg  der  Präparation  ver- 
eiteln. 

Ich  unterscheide  zwei  Arten  derartiger  Bündel  am  medialen  Rande  des 
Levator,  welche  ich  in  einem  Falle  vereinigt  fand,  während  sie  an  der 
anderen  Orbita  der  gleichen  Leiche  beide  fehlten. 

4* 


28  H.  ViRCHow; 

Das  eine  ist  das  leichter  zu  erkennende,  weil  dickere,  Budge'sche 
Bündel,  welches  sich  schon  weit  hinten  vom  medialen  Rande  des  Mus- 
kels ablöst  und  unter  zunehmendem  Abstände,  aber  genau  an  der  Flächen- 
krümmung des  Muskels  theilnehmend ,  nach  vom  zieht.  Hier  biegt  es 
dann  an  der  hinteren  bez.  medialen  Seite  der  Obliquus- Sehne,  d.  h.  durch 
den  Winkel,  den  diese  Sehne  mit  dem  Muskelbauche  bildet,  abwärts 
und  tritt  in  das  lockere  Bindegewebe  unterhalb  der  Trochlea  ein.  Obwohl 
nun  dieses  Bündel  dort,  wo  es  sich  vom  Levator  ablöst,  einen  ziemlieh 
hoffnungsvollen  Eindruck  macht,  so  ist  es  doch  beim  besten  Willen  und 
der  grölsten  Bemüliung  schwer,  eine  eigentliche  Endigung  zu  finden. 
Die  kleinen  Bündelchen,  in  die  es  zerfällt,  gehen  in  zarte  Sehnen  über, 
und  diese  verlieren  sich  zwischen  den  Fettläppchen.  Allenfalls  lälst  es 
sich  bis  an  das  mediale  Septum  verfolgen,  und  mit  groCser  Geduld  glaube 
ich  die  letzten  damit  zusammenhängenden  Fasern  bis  an  den  obem  Band 
des  Horner'schen  Muskels  gesehen  zu  haben.  Hier  ist  oberhalb  des  Lid- 
bandes am  Lebenden  ein  kleines  Grübchen  zu  constatiren;  manchmal  fehlt 
dasselbe  gänzlich,  in  einigen  Fällen  ist  es  aber  so  scharf,  als  habe  dort 
ein  Schrotkorn  gelegen.  Bei  einem  Specialcollegen ,  Hm.  Altuchoff 
aus  Moskau,  konnte  ich  und  mit  mir  einige  andere  Beobachter  in  ge- 
wissen Momenten  ein  Zucken  im  Grunde  dieses  Grübchens  bemerken. 
Diefs  ist  wenigstens  die  Stelle,  auf  welche  die  Ausstrahlung  des  ge- 
nannten Bündels  hinzielt,  wenn  auch  die  Haut,  die  den  Grund  des  Grüb- 
chens bildet,  durch  den  Orbicularis  von  dem  Ende  der  Ausstrahlung  ge- 
trennt ist. 

Das  andere  Bündel  ist  schwerer  zu  finden ,  weil  es  feiner  ist.  Ich  be- 
zeichne es  als  »Fascienbündel  des  Levator«,  weil  es  an  die  (obere) 
Fascie  des  Muskels  geht  und  zwar  an  den  vorher  geschilderten  Fascien- 
zipfel.  Ich  fand  dieses  Bündel  in  einem  Falle,  wo  ich  es  präparirt  habe, 
nur  i""  breit;  es  löste  sich  vom  freien  Rande  des  Levator,  also  an  der 
lateralen  Seite  der  Obliquus- Sehne,  ab,  jedoch  nicht  so,  dafe  es  von 
dem  Muskel  medialwärts  divergirte,  sondern  so,  dafe  es  aus  seiner 
Fläche  heraus  nach  vorn  an  den  Fascienzipfel  trat.  Es  ist  leicht  zu 
sehen,  dafs  dießj  nur  ein  specieller  Fall  des  schon  vorher  erwähnten  Vor- 
kommens ist,  bei  welchem  feine  Bündel  aus  dem  Levator  an  seine  Fascie 
treten. 


••  

Über  Tenorischen  Raum  und  Tenorische  Kapsel.  29 

9.  Die  accessorische  Fascie  des  Rectns  inferior  and  die  septale  Briicke 

des  nntem  Lides. 

Der  Rectus  inferior  ist,  wie  die  anderen  Recti  auch,  von  einer  inneren 
und  äulseren,  bei  ihm  oberen  und  unteren  Fascie  bekleidet.  Hierzu  tritt  je- 
doch bei  ihm  speciell  noch  eine  zweite  untere ,  also  unterste  Fascie ,  welche 
in  der  Litteratur  wohl  bekannt  ist.  Ich  wähle  den  Ausdruck  »accesso- 
rische Fascie«  aü  dieser  Stelle  nur,  um  eine  deutliche  Unterscheidung 
zu  haben,  ohne  ihn  gerade  empfehlen  zu  wollen. 

Die  accessorische  Fascie  trennt  sich  von  der  unteren  Wand  der  Scheide 
des  Rectus  an  der  Stelle  der  «Scheidenverbindung«  und  läuft  von  da 
nach  vorn,  wobei  sie,  wie  es  in  den  Beschreibungen  hellst,  unterhalb 
des  Obliquus  inferipr  vorbeigeht.  Dieser  Punkt  bedarf  einer  genaue- 
ren Beachtung;  denn  da  die  accessorische  Fascie  des  Rectus  horizontal  ge- 
richtet ist,  der  Obliquus  jedoch  schief,  bez.  gebogen  aufsteigt,  so  ist  es 
von  vom  herein  klar,  dafs  in  der  Richtung  beider  Gebilde  eine  Kreuzung 
stattfindet. 

Dort,  wo  die  genannte  Fascie  mit  dem  Obliquus,  genauer  gesagt,  mit 
dessen  Scheide  in  Beziehung  tritt,  verbreitert  sie  sich.  Sie  verbreitert 
sich  also  nicht  von  Anfang  an  gleichmäfsig  in  Gestalt  eines  Dreiecks,  son- 
dern so,  dafs  die  beiden  Ränder  gebogen  sind,  und  zwar  unsym- 
metrisch. Der  laterale  Rand  läuft  geradeaus  bis  zu  der  Stelle,  wo  sich 
in  ganz  typischer  Weise  der  zum  Obliquus  inferior  gehende  Zweig  des 
Ramus  inferior  oculomotorii  krückenartig  gegen  den  Muskel  wendet;  von 
da  an  biegt  er  plötzlich  seitwärts  ab.  Der  Nerv  hält  sozusagen  den  Rand 
fest.  Der  mediale  Rand  der  Fascie  biegt  mehr  allmählich  ab  und  geht 
dadurch  in  den  hintern  Rand  der  Scheide  des  Obliquus  inferior  über;  er 
rundet  den  Winkel  aus  zwischen  dem  medialen  Rande  des  Rectus  und  dem 
hintern  Rande  des  Obliquus.  Es  kommt  auch  vor,  dafe  dieser  Rand  ver- 
stärkt und  mit  dem  Obliquus  selbst  verbunden  ist.  Dadurch  wird  dann  eine 
wichtige  Verbindung  zwischen  dem  Rectus  inferior  und  Obliquus 
erzeugt. 

Dort  nun,  wo  diese  accessorische  Fascie  des  Rectus  inferior  den  Orbi- 
taleingang erreicht,  trifft  sie  auf  einen  derbem,  sehnig  glänzenden, 
bogenförmigen  Streifen  und  verbindet  sich  mit  ihm.  Berücksichtigt 
man,  dafe  hier  die  Fascie,  die  Obliquus -Scheide  und  der  bogenförmige  Strei- 


30  H.  ViRCHOw: 

fen  verbunden  sind,  so  darf  man  hierin  wohl  ein  Moment  von  mechani- 
scher Bedeutung  erkennen. 

Der  fibröse  Streifen,  von  dem  ich  rede,  steht  in  seiner  medialen 
Hälfte  mit  der  vorderen  Kante  der  Obliquus- Scheide  in  Verbindung  und 
ist  dadurch  am  Knochenrande  fixirt;  seine  laterale  Hälfte  ist  frei  und 
befestigt  sich  am  untern  Orbitalrand  an  einer  Stelle,  die  ebenso  weit  latei*al 
von  der  Mitte  liegt  wie  die  erstgenannte  medial.  Wegen  dieser  Fixirung 
an  zwei  Punkten  bezeichne  ich  diesen  Bogen  als   »Brücke«. 

Die  Brücke  ist  platt  und  senkrecht  gestellt.  Ihre  Ebene  ist  also 
die  Ebene  des  Septum;  deshalb  nenne  ich  sie  »septale  Brücke«.  Sie 
kann  also  als  ein  verstärkter  Zug  in  der  mittleren  Partie  des  untern  Septum 
oder  auch  als  ein  Ersatz  derselben  bezeichnet  werden,  denn  in  der  Lücke 
imterhalb  des  Bogens  ist  das  Septum  schwach  oder  fehlend  bez.  wird  ver- 
treten durch  die  Fascie  des  Orbicularis. 

Dort,  wo  die  accessorische  Fascie  des  Rectus  inferior  sich  an  die 
septale  Brücke  ansetzt,  ist  sie  selbst  durch  quere  Fasern  verstärkt, 
welche  in  ihr  einen  horizontal  liegenden  Streifen  bilden.  Die  septale 
Brücke  und  der  zuletzt  genannte  Streifen  bilden  also  mit  einander  einen 
rechten,  allerdings  gerundeten  Winkel. 

Vor  der  septalen  Brücke  hebt  sich  die  accessorische  Rectus -Fascie  und 
tritt  in  das  dichte  subtarsale  Bindegewebe  des  untern  Lides  ein. 

Den  lateralen  Schenkel  der  septalen  Brücke  erkennt  man  in  der  Figur 
1 131  von  TestutS  allerdings  durch  die  Verlagerung  des  Bulbus  und  durch 
übertriebene  Stärke  entstellt.  Aber  man  sieht  doch  deutlich,  um  was  es 
sich  handelt.  Dagegen  ist  in  der  Figur  11 28  des  gleichen  Autors*  dieses 
»Prolongement  orbitaire«  der  Obliquus- Scheide  nicht  zu  billigen,  denn  diese 
Figur  stellt  einen  senkrechten  Mittelschnitt  durch  die  Augenhöhle  dar,  und 
es  gehört  zu  den  Merkmalen  der  »septalen  Brücke«,  dass  sie  auf  dem  Mittel- 
schnitt fehlt  und  sich  seitlich  befestigt. 

Ich  muis  nun  noch  einmal  auf  die  Beziehung  der  accessorischen  Fascie 
des  Rectus  inferior  zu  der  Scheide  des  Obliquus  inferior  zurückkommen, 
einen  Punkt,  den  ich  weiter  oben  schon  berührt,  aber  nicht  erledigt  habe. 
Ich  habe  darauf  aufmerksam  gemacht,  dafs  die  Fascie  des  Rectus  horizontal 


^   Trait^  d'anatomie  humaine,  T.  111,  livreVI,  Organes  des  sens  p.  206. 
^    A.  a.  0.  p.  202. 


••  

Über  Tenorischen  Raum  und  Tenorische  Kapsel.  31 

liegt  y  während  der  Obliquus  von  der  medialen  nach  der  lateralen  Seite  auf- 
steigt. Diesem  räumlichen  VerhältnUis  entspricht  es,  dals  am  medialen  Ende 
des  Obliquus  die  Fascie  in  die  obere  Wand  der  Scheide  übergeht;  unter 
der  Mitte  des  Bulbus  dagegen  hängt  die  Fascie  mit  der  unteren  Wand  der 
Scheide  zusammen ,  und  bereits  unterhalb  des  lateralen  Randes  des  Rectus 
läfst  sich  ein  Zwischenraum  zwischen  Fascie  und  Scheide  wahrnehmen,  in 
welchen  von  der  lateralen  Seite  her  Fettgewebe  vordringt.  Man  kann  diesen 
Sachverhalt  auch  so  ausdrücken,  dais  der  Obliquus,  von  der  medialen  nach 
der  lateralen  Seite  aufsteigend,  die  accessorische  Fascie  des  Rectus  inferior 
durchbohrt. 


10.  Befestigcmg  der  Tenon 'sehen  Kapsel  in  der  G^end  des  medialen 

und  lateralen  Lidwinkels. 

Wenn  man  die  Befestigungen  der  Kapsel  an  der  medialen  und  late- 
ralen Orbitalwand  schildern  will,  so  darf  man  nicht  generalisiren.  Der 
Autor,  welcher  seine  Beschreibung  und  Ausdrucksweise  den  wirklichen  Ver- 
hältnissen anpassen  wiU,  sieht  sich  hier  der  gleichen  Schwierigkeit  gegen- 
über, welche  ich  weiter  oben  hinsichtlich  der  Kapsel  selbst  schon  charak- 
terislrt  habe,  nämlich  er  findet  sich  vor  der  Aufgabe,  abzuwägen,  wie  weit 
er  die  Wandverbindungen  der  Kapsel  als  Fortsätze,  Ausstralilungen,  Zipfel 
anderer  Theile,  oder  als  selbständige  Bildungen  auffassen  soll.  Es  läfst 
sich  gar  nicht  verkennen ,  dafs  hier  die  geistige  Stimmung  des  Autors ,  die 
Richtimg  seiner  wissenschaftlichen  Gewohnheiten  eine  Rolle  spielt:  wer  eine 
Vorliebe  fiir  Formalismus  und  durchsichtige  Schemata  hat,  wird  diese  Ver- 
hältnisse anders  darstellen  wie  der,  welcher  ein  empfindliches  Feingefiihl 
für  Realitäten  besitzt.  In  der  französischen  Lehrbuch -Litteratur,  mitSappey 
anfangend,  sind  diese  Wandverbindungen  der  Kapsel  als  »Prolongements« 
bezeichnet;  Sappey  selbst  nennt  sie  »Prolongements  du  second  ordre  ou 
faisceaux  tendineux«*  und  betrachtet  sie  als  Fortsätze  der  Muskelscheiden. 
Hierzu  möchte  ich  bemerken,  dafs  die  Bezeichnung  »Verlängerungen«  oder 
»Fortsätze«  z.Th.  nicht  übel  ist,  dafs  aber  diese  Verbindungen  zu  weit  vorn 
sitzen,  um  noch  als  Fortsätze  der  Muskelscheiden  gelten  zu  können;  sie 
müfsten  vielmehr    »Fortsätze  der  Kapsel«    genannt  werden;    »sehnig« 


*  A.  a.  O.  S.  108. 


32  H.  ViRCHOw: 

aber  sind  sie  auf  keinen  Fall,  da  sie  mit  den  Muskeln  selbst  in  gar  keiner 
Verbindung  stehen.  In  die  deutsche  Litteratur  ist  durch  Merkel,  dem  sich 
Schwalbe  angeschlossen  hat,  der  Ausdruck  »Fascienzipfel«  gekommen, 
über  den  ich  mich  schon  ausgesprochen  habe.  Wenn  es  milslich  und  nach 
meiner  Meinung  nicht  statthaft  ist,  den  vordem  Theil  der  Kapsel  in  Fascien- 
zipfel  zu  zerspalten,  so  verbietet  es  sich  consequenterweise  von  selbst,  nun 
noch  darüber  hinaus  die  Verbindungen  der  Kapsel  zur  Wand  gleichfalls 
als  Fascienzipfel  zu  beschreiben.  Auf  der  anderen  Seite  ist  es,  wie  ich  von 
neuem  betone,  berechtigt,  gewisse  Faserzüge  und  Zugrichtmigen  von  den 
Muskelscheiden  durch  die  Kapselwand  hindurch  nach  vom  und  nach  den 
Seiten  zu  verfolgen.  Nur  darf  man  bei  diesen  analytischen  Versuchen  eines 
nicht  aulser  Acht  lassen.  Wenn  man  nämlich  einen  frischen  oder  doch 
weichen  Orbitalinhalt  präparirt  und  dabei  den  Bulbus  mit  der  Ten on 'sehen 
Kapsel  verlagert,  um  die  Wandverbindungen,  die  man  säubern  und  dar- 
stellen will,  zu  spanneu,  so  ist  es  zwar  sehr  leicht,  das  Bild  gewisser 
»Fascienzipfel«  zu  gewinnen  und  »überzeugend  zu  demonstriren«,  aber  es 
ist  doch  sehr  zweifelhaft,  ob  dieses  Bild  der  Wirklichkeit  entspricht. 

Verbindung  in  der  Gegend  des  medialen  Lidwinkels.  —  Wenn 
man  diese  Verbindung  verstehen  will,  so  mufs  man  sich  erinnern,  dafs 
hier  zwischen  der  Tenon'schen  Kapsel  und  der  Wand  der  Horner'sche 
Muskel  liegt,  oder  —  wie  die  BNA  sagt  —  die  »Pars  lacrimalis  des  Orbi- 
cularis  oculi«.  Ich  gehe  auf  eine  Analyse  dieses  Muskels  nicht  ein  und 
lasse  die  Frage  unerörtert,  ob  die  Aufstellung  einer  solchen  Pars  lacrimalis 
überhaupt  einen  Sinn  hat;  es  genügt,  an  das  wohlbekannte  Bild  eines 
platten  5""  hohen  und  8"™  langen  Muskelbandes  zu  erinnern,  welches  hinten 
tangential  von  der  Orbital  wand  abgeht  und  vom,  hart  an  der  Carunkel, 
auseinanderweicht,  um  in  das  obere  und  untere  Lid  überzugehen.  Ks 
scheint,  dafs  diejenigen,  welche  Lehrbücher  geschrieben  und  darin  dar- 
gestellt haben,  wie  sich  in  der  Gegend  des  medialen  Lid  winkeis  die  » Pro- 
Ion  gements«  oder  »Fascienzipfel«  an  die  Orbitalwand  befestigen,  vergessen 
hatten,  dals  sie  auf  einer  anderen  Seite  des  gleichen  Xichrbuches  den 
Hörn  er 'sehen  Muskel  beschrieben  haben,  sonst  müisten  sie  das  Bedürfnifs 
gefühlt  haben,  eine  genauere  Darstellung  von  den  Beziehungen  der 
Kapselfortsätze  zu  diesem  Muskel  zu  geben.  Es  könnten  sich  solche 
Kapselverbindungen  zur  Wand  nur  entweder  weiter  hinten  als  der  Muskel 
finden  —  das  ist  nicht  der  Fall,    denn  das  Fettgewebe  des   extramuscu- 


••  ^^  

Über  TenorC sehen  Baum  und  Tenorische  Kapsel  33 

laren  Raumes  dringt  sogar  noch  eine  Strecke  weit  zwischen  Muskel  und 
Kapsel  nach  vom  —  oder  am  obern  oder  untern  Rande  des  Hörn  er- 
sehen Muskels  —  das  ist  gleichfalls  nicht  der  Fall,  denn  an  beiden  Stellen 
liegt  lockeres  Gewebe.  £s  folgt  daraus,  dals  es  eine  directe  Befestigung 
der  Kapsel  an  der  Orbitalwand  in  der  Gegend  des  medialen  Lidwinkels 
nicht  gibt  und  nicht  geben  kann. 

Meine  Auffassung  ist  schon  im  Vorausgehenden  enthalten;  ich  brauche 
nur  das  zusammenzuziehen,  was  ich  über  die  Fascie  des  Hörn  er 'sehen 
Muskels  und  über  das  mediale  Polster  der  Kapsel  gesagt  habe.  Ich  rechne 
dieses  Polster  zur  Kapsel  selber,  wenn  es  auch  in  Bezug  auf  seine 
Consistenz  und  sein  Gefage  von  der  damit  verbundenen  Lage  der  Kapsel, 
der  Fortsetzung  der  Muskelscheide  des  Rectus  medialis,  abweicht.  Durch 
Vermittelung  dieses  Polsters  verbindet  sich  die  Kapsel  mit  dem  vor- 
dem Theil  der  Fascie  des  Horner'schen  Muskels,  mit  dem  Boden 
und  den  Rändern  des  Thränensees  und  mit  der  Basis  der  Ca- 
runkel. 

Es  ist  klar,  dafe  die  Befestigung  an  der  Orbitalwand  nur  mittelbar 
sein  kann,  und  es  ist  ebenfalls  klar,  dals  diese  Vermittelung  durch  das 
sogenannte  Ligamentum  palpebrale  mediale  geschieht.  Diese  Ver- 
hältnisse würden  sofort  anschaulich  sein,  wenn  die  Beschreibung  des  Ban- 
des genau  wäre.  Obwohl  diels  aber  meistens  nicht  der  Fall  ist,  so  will 
ich  doch  auf  diesen  Punkt  nicht  näher  eingehen. 

Verbindung  in  der  Gegend  des  lateralen  Lidwinkels.  Die 
Verbindung  in  dieser  Gegend  lä&t  sich  nur  deutlich  vorstellen,  wenn  man 
die  Lagerung  der  Thränendrüsen  im  Auge  behält.  Es  kommt  dabei  we- 
niger auf  die  orbitale  Drüse  an,  welche  oberhalb  der  vorderen  Ausbrei- 
tung des  Levator  gelegen  ist,  und  welclie  man  wegdenken  oder  abschneiden 
kann,  ohne  dafs  man  dabei  mit  den  Befestigungen  der  Kapsel  in  Berüh- 
rung geräth ;  doch  mufs  ich  der  topographischen  Verhältnisse  halber  auch 
an  sie  erinnern.  Pi-äparirt  man  von  vorn  her,  und  zwar  so,  dafs  man  das 
Septum  orbitale  nicht  nur  frei  legt,  sondern  auch  durchschneidet,  so  ge- 
langt man  bekanntlich  in  den  extramuscularen  Raum  der  Orbita;  räumt 
man  dann  diesen  aus,  indem  man  vorsichtig  das  Fett  entfernt,  so  erblickt 
man  die  vordere  Ausbreitung  des  Levator  und  kann  die  Verbindung  des 
Septum  mit  dieser  verfolgen.  Man  überzeugt  sich  dann,  dafe  die  Verbin- 
dungslinie im  Bogen  abwärts  läuft  bis  in  die  Höhe  des  lateralen  Lidwinkels, 

Phys,  Ahh.  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter.   1902.   IV.  5 


34  H.  ViRCHow: 

und  im  Anschlüsse  daran,  daß;  der  extramusculftre  Raum  an  dieser  Stelle 
in  einen  ebenso  weit  hinabreichenden  Recessus  ausläuft,  welcher  vorn 
vom  Septum,  seitlich  von  dem  früher  erwähnten  sehr  starken  Perioststreifen, 
hinten  von  der  vorderen  Levator- Ausbreitung  bez.  deren  Sehnenzipfel  abge- 
schlossen ist.  In  diesen  Recessus  des  extramusculären  Raumes,  und  zwar 
bis  zu  dem  Grmide  desselben,  biegt  sich  die  Thränendrüse  abwärts,  indem 
sie  auf  dem  Sehnenzipfel  der  vorderen  Levator-Ausbreitung  reitet.  Ich  be- 
zeichne daher  diesen  Raum  als  »Recessus  der  oberen  Thränendrüse«. 

Treten  wir,  um  die  Verhältnisse  von  einer  anderen  Seite  zu  beleuchten, 
an  unser  Präparat  von  der  lateralen  Seite  her  heran,  indem  wir  zuerst  den 
Knochen  entfernen  und  dann  die  Periorbita  vorsichtig  in  Stücken  abschnei- 
den, so  erblicken  wir  an  der  nun  freigelegten  lateralen  Fläche  der  orbitalen 
Thränendrüse  einen  vom  untern  Rande  der  Drüse  schief  auf- und  rück- 
wärts verlaufenden  Spalt,  der  von  einem  derben  fibrösen,  an  die  Pe- 
riorbita befestigten  Blatt  eingenommen  ist;  dieses  Blatt  ist  der  Sehnenzipfel 
der  vorderen  Levator-Ausbreitung. 

Der  beschriebene  Recessus  ist  an  seinem  untern  trichterförmig  zu- 
gespitzten Ende  entweder  geschlossen,  wie  das  ja  nicht  anders  sein  kann, 
wenn  die  Verbindungslinie  zwischen  Septum  und  Levator-Ausbreitung  sich 
bis  an  den  Knochen  fortsetzt;  oder  es  findet  sich  am  Boden,  hart  am  Knochen, 
ein  kleines  rundes  Loch,  welches  in  das  extramusculäre  Fett  der  Unter- 
lidgegend hineinföhrt.  In  diesem  Falle  hört  also  die  Verbindung  zwischen 
Septum  und  Levator -Sehne  dicht  vor  dem  lateralen  Ende  auf. 

Wichtiger  jedoch  für  unsere  vorliegende  Aufgabe  ist  es,  einen  andern 
Raum  kennen  zu  lernen,  nämlich  den,  in  welchem  die  unteren  (conjunc- 
tivalen,  palpebralen)  Thränendrüsen-Abschnitte  gelegen  sind.  Ich 
sehe  för  die  nachfolgende  topographische  Betrachtung  von  den  disseminir- 
ten,  weiter  medial  gelegenen,  mehr  mikroskopischen  Einzeldrusen  ab  und 
fasse  die  lateral  gelegenen  conjunctivalen  Drüsen  in  einen  einheitlichen  Drü- 
senkörper zusammen,  wie  diefs  ja  auch  in  dem  gebräuchlichen  Namen  »un- 
tere Thränendrüse«  zu  geschehen  pflegt.  Dieser  besitzt,  von  der  Orbital- 
wand an  gemessen,  in  horizontaler  Richtung  eine  Breite  von  15™™  und  liegt 
unterhalb  der  unteren  Levator-Ausbreitung  zwischen  ihr  und  der 
Conjunctiva  palpebrae  superioris;  seine  Gesammtmasse  besitzt  gut  den  dritten 
Theil  des  Volumens  der  orbitalen  Druse ,  was  mit  Rücksicht  auf  die  phy- 
siologischen Betrachtungen ,  die  an  die  Exstirpation  der  orbitalen  Druse  ge- 


über  Tenorischen  Raum  und  Tenon^sche  Kapseh  35 

knüpft  werden,  Beachtung  verdient.  Der  medial  gelegene  Abschnitt 
dieses  DrQsenkörpers  ist  stark  abgeflacht  und  liegt  in  einem  flachen  Spalt- 
raum zwischen  dem  Levator  und  der  Conjunctiva ;  doch  kann  man  von  einem 
»Raum«  nicht  eigentlich  sprechen,  da  die  Lücken  zwischen  den  Drüsen- 
lappchen  durch  Bindegewebe  eingenommen  sind,  welches  die  Conjunctiva 
mit  der  Levator- Ausbreitung  verbindet. 

Diese  Verhältnisse  ändern  sich  aber  an  der  lateralen  Seite ;  indem  hier 
die  an  die  Conjunctiva  sich  anschliefsende  Tenon'sche  Kapsel,  rückwärts 
abbiegend,  durch  einen  Abstand  von  der  lateralen  Knochen  wand  getrennt 
bleibt  und  indem  das  zwischen  den  Drüsenläppchen  gelegene  Bindegewebe 
so  spärlich  und  locker  wird,  dafs  man  es  vernachlässigen  kann,  entsteht 
ein  wirklicher  »Raum«,  ein  »Recessus  der  unteren  Drüse«,  welcher 
seitlieh  vom  Knochen,  genauer:  von  der  Periorbita,  medial  von  der  Tenon- 
schen  Kapsel  begrenzt  wird. 

Dieser  zweite  Recessus  liegt  nicht  unter  dem  erstgenannten,  son- 
dern hinter  demselben,  da  ja  der  Sehnenzipfel  des  Levator,  welcher  beide 
trennt,  der  Hauptsache  nach  senkrecht  steht,  und  da  beide  Recessus  gleich 
weit  nach  unten  reiclien,  nämlich  bis  zur  Höhe  des  lateralen  Lidwinkels. 

Dieser  »Recessus  der  untern  Thränendrüse«  ist  es,  auf  den  wir  unsere 
Aufmerksamkeit  concentriren  müssen,  denn  allein  die  Wände  dieses 
Raumes  sind  es,  welche  eine  Verbindung  zwischen  der  Tenon'schen  Kap- 
sel und  der  Orbitalwand  herstellen.  Es  handelt  sieh  dabei  an  keiner  Stelle 
um  eine  dicke  Fasermasse,  sondern  nur  um  dünne,  plattenartige,  aber 
doch  straffe  Formationen. 

Wir  können  an  diesem  Recessus,  abgesehen  von  der  lateralen ,  durch 
den  Knochen,  und  abgesehen  von  der  medialen,  durch  die  Tenon'sche 
Kapsel  gebildeten  Wand,  vier  Wände  unterscheiden:  eine  vordere,  obere, 
untere  und  hintere.  Man  gewinnt  far  die  Schilderung  den  besten  An- 
haltspunkt dadurch,  dafs  man  die  Befestigung  dieser  Wände  an  die 
Periorbita  feststellt.  Da  aber  eine  Übereinstimmung  bis  ins  Einzelne  nicht 
in  allen  Fällen  existirt,  so  schildere  ich  zwei  Fälle,  durch  deren  Ver- 
gleich erkannt  werden  kann,  was  an  den  Befunden  das  Wesentliche  und 
Typische  ist. 

In  dem  einen  Falle  haben  wir  eine  vordere,  untere  und  obere  Wand, 
die  hintere  fehlt,  d.  h.  der  Recessus  steht  hier,  also  nach  hinten  hin,  offen,  er 
hängt  nach  hinten  mit  dem  extramusculären  Räume  zusammen.    Die  vor- 


5* 


36  H.  ViRCHOw: 

dere  Wand  wird  gebildet  durch  den  schon  mehrfach  erwähnten  Sehnen- 
zipfel der  vorderen  Levator- Ausbreitung,  welcher  sich  in  einer  Höhe  von 
9°*°*  am  Knochen  befestigt.  Die  obere  Wand  wird  gebildet  durch  einen 
platten  Streifen  von  3™5  Breite,  dessen  hinterer  Rand  7""  hinter  dem 
Orbitaleingang  liegt;  die  untere  Wand  durch  einen  der  Hauptsache  nach 
horizontalen  Streifen  von  5""  Breite  (in  sagittaler  Richtung).  Von  diesen 
drei  Streifen  sind  der  vordere,  d.  h.  der  Sehnenzipfel  des  Levator  und  der 
untere,  den  ich  »Ligamentum  capsulare  laterale  inferius«  nennen 
will,  an  der  vorderen  unteren  Ecke  des  Recessus  verbunden,  so  daß?  der 
letztere  dadurch  an  dieser  Stelle  geschlossen  ist;  der  obere  oder  »Liga- 
mentum capsulare  laterale  superius«  dagegen  ist  weder  mit  dem  obem 
Rande  des  Sehnenzipfels  noch  mit  dem  hintern  Rande  des  untern  Streifens 
verbunden,  so  dals  sich  in  der  Wand  des  Recessus  zwei  Lücken  befinden, 
eine  obere  und  die  schon  erwähnte  hintere.  Durch  die  obere  dieser  beiden 
Lücken  geht  die  Verbindung  der  orbitalen  Thränendrüse  mit  dem 
conjunctivalen  Drüsenkörper  hindurch,  die  hintere  Lücke  entspricht 
annähernd,  wenn  auch  nicht  ganz  genau,  der  Höhe  des  Rectus  late- 
ralis. Die  beiden  »Kapselbänder«  stellen,  wie  ihr  Name  ausdrückt,  eine 
Verbindung  zwischen  der  Orbitalwand  und  der  Kapsel  her,  indem  das 
obere  zum  oberen  lateralen,  das  untere  zum  unteren  lateralen  Qua- 
dranten der  letzteren -i^eht.  Will  man  sie,  dem  Merkerschen  Schema 
entsprechend,  als  »Fascienzipfel«  auffassen,  so  würden  sie  dem  Rectus  su- 
perior  und  inferior  zuzusprechen  sein.  Zum  Rectus  lateralis  dagegen  dürfen 
sie  in  keine  so  nahe  Beziehung  gebracht  werden,  wie  in  dem  Ausdruck 
»Fascienzipfel  des  Rectus  lateralis«  gesagt  sein  würde.  Ein  Fascienzipfel 
dieses  Muskels  findet  sich  in  dem  beschriebenen  Falle ,  den  ich  für  typisch 
halte,  nicht  vor.  Der  in  solcher  Gestalt  umschlossene  Recessus  der  unteren 
Thränendrüse  hat  sowohl  in  horizontaler  wie  in  senkrechter  Richtung  einen 
Durchmesser  von  4™5. 

In  dem  zweiten  Falle,  den  ich  beschreiben  möchte,  gleicht  die  vordere 
Wand  des  Recessus,  indem  sie  von  dem  am  Knochenansatz  8"T5  hohen 
Sehnenzipfel  der  vorderen  Levator -Ausbreitung  gebildet  wird,  genau  der 
erstbeschriebenen  Form;  dagegen  finden  sich  hier  von  Kapselbändern 
nicht  zwei,  sondern  nur  eines,  nämlich  ein  unteres.  Die  Ansatzlinie  des 
Levator -Zipfels  am  Knochen  verläuft  gebogen,  entsprechend  der  Wölbung 
des  Muskels  selber,   so  dafs  das  untere  Stück  derselben  senkrecht  steht, 


Tiber  Tenon^ sehen  Raum  und  Tenorische  Kapsel  37 

das  obere  sich  rückwärts  biegt.  Die  Ansatzlinie  des  Kapselbandes  verläuft 
gleichfalls  gebogen,  indem  das  vordere  StQck  horizontal  liegt,  das  hintere 
aufsteigt.  Diese  Linie  hat  eine  Länge  von  S"™,  d.  h,  ihr  hinteres  Ende  liegt 
8"^  hinter  dem  Orbitaleingange.  Der  Recessus  ist  hier  nicht  kreisförmig, 
sondern  elliptisch  begrenzt;  sein  längerer  Durchmesser,  gleich  5"",  steht 
schief,  so  dafs  das  untere  Ende  desselben  vom  unten  an  der  Vereinigung 
der  Kanten  des  Levator- Zipfels  und  des  Kapselbandes  gelegen  ist.  Der 
kürzere  Durchmesser  mifst  3"*"*.  Die  ZugangsOfihung  findet  sich  zwischen 
dem  hintern  Rande  des  Levator- Zipfels  und  dem  obem  Rande  des  Kapsel- 
bandes in  einer  Breite  von  3"°,  auf-  und  rückwärts  gewendet,  und  ist  durch 
einen  schmalen  fibrösen  Streifen  in  einen  vordem  und  hintern  Ab- 
schnitt getheilt ,  von  denen  der  vordere  die  Verbindung  zwischen  der  oberen 
und  unteren  Thränendrüse ,  der  hintere  ein  Fettläppchen  enthält.  Die  Breite 
des  Kapselbandes,  d.  h.  der  Abstand  der  Kapsel  vom  Knochen,  beträgt  2"°". 
Der  Boden  des  beschriebenen  Recessus,  durch  das  untere  Kapsel- 
band gebildet,  stand  im  letzten  Falle  in  der  Höhe  des  lateralen  Lidwinkels, 
im  vorhergehenden  Falle  3""  tiefer. 


IL  Übersieht  über  die  im  Vorausgehenden  gesehilderten  Kapselbefesti- 
gongen,  Sehnenzipfeli  Fascienzipfel  und  abirrenden  MuskelbündeL 

Ich  will  in  diesem  Abschnitt  noch  einmal  eine  Übersicht  derjenigen 
Formationen  geben,  welche  eine  Verbindung  der  Kapsel  mit  Th eilen  des 
Orbitaleinganges  vermitteln,  sowie  derjenigen  Formationen,  welche  eine 
ähnliche  Anordnung  haben. 

Ich  hoffe,  dafe  die  Tendenz  meiner  Betrachtung  durch  die  vorausgehen- 
den Seiten  klar  geworden  ist.  Da  die  bindegewebigen  Platten  und  Stränge, 
welche  im  Orbitaleingange  ausgespannt  sind,  vielfach  unter  einander  zu- 
sammenhängen, so  ist  es  schwer  zu  entscheiden,  welche  von  ihnen  einen 
Anspruch  auf  besondere  Bezeichnungen  haben,  und  wie  sie  zu  begrenzen 
sind.  Es  ist  wenigstens  auf  den  ersten  Blick  schwer,  und  mich  hat  die 
Präparation  dieses  kleinen  Gebietes  Wochen  concentrirter  Arbeit  gekostet. 
Unter  solchen  Umständen  ist  es  begreiflich,  dafe  die  Autoren,  welche  über 
diese  Fragen  geschrieben  haben,  besonders  die  Verfasser  von  Lehrbüchern, 
einen  bestimmten  Gesichtspunkt,  einen  Begriff,  einen  Ausdruck  creirt  haben, 


38  H.  ViRCHOw: 

dem  sich  nach  ihrer  Meinung  das  Einzelne  am  besten  unterwerfen  liefs. 
Dafs  man  bei  diesem  Bestreben  zu  verschiedenen  Auffassungen  kommen, 
dafs  man  die  Beleuchtung  von  verschiedenen  Seiten  nehmen  konnte,  be- 
weist das  Beispiel  der  französischen  Autoren  einerseits,  mit  Sappey  an 
der  Spitze,  bei  denen  wir  von  »Kapsel -Fortsätzen«,  Prolongements  erster 
und  zweiter  Ordnung  hören;  das  Beispiel  von  Merkel,  und  ihm  folgend 
Schwalbe,  andererseits,  bei  denen  die  gleichen  Verbindungen  als  »Fascien- 
zipfel«  auftreten;  Sappey  greift  die  Sache  von  vorn  her  an,  indem  er 
von  der  Kapsel  ausgeht,  Merkel  dagegen  kommt  von  hinten,  indem  er 
die  Muskelfascien  in  den  Vordergrund  stellt. 

Ich  weiche  von  beiden  wesentlich  ab.  Ich  sage  nicht,  dafs  ich  prin- 
cipiell  abweiche.  Ich  betrachte  vielmehr  manche  der  Verbindungen  als  Fort- 
sätze, ja  als  T heile  der  Kapsel,  imd  ich  finde  ebenso  das  Streben  be- 
rechtigt, den  Faserzügen  innerhalb  der  Kapsel  nachzuspüren,  welche  als 
Ausstrahlungen  von  Muskelscheiden  aufgefafst  werden  können,  aber 
ich  finde  es  nicht  angemessen,  die  ganze  Betrachtung  dem  einen  oder  dem 
andern  dieser  Gesichtspunkte  unterzuordnen.  Ich  gehe  darauf  aus,  die 
einzelnen  in  Betracht  kommenden  Gebilde  in  ihren  Längen,  Dicken,  Breiten, 
Resistenzen,  Faserrichtungen,  Verbindungen  in  ihrer  Abhängigkeit  und  Selb- 
ständigkeit zu  definiren  und  abzuwägen,  und  damit  eine  Basis  zu  gewinnen, 
von  der  aus  sich  die  Mikromechanik  der  Bulbus -Auf  hängung  imd  Bulbus- 
Bewegung,  ebenso  wie  die  Lidbewegung,  besser,  d.  h.  nicht  schattenhaft, 
sondern  körperlich,  verstehen  läfst. 

Der  hier  aufzuführenden  Gebilde  gibt  es  acht. 

1.  Der  Zipfel  der  (oberen)  Fascie  des  Levator.  Es  ist  dieXs  ein 
wirklicher  » Fascienzipf el « ,  allerdings  auch  der  einzige,  der  diese  Bezeich- 
nung voll  verdient.  Er  biegt  aus  der  Richtung  der  Fascie  selbst  nach  vom 
ab  und  befestigt  sich  oberhalb  der  Trochlea  am  Augenhöhlenrande  bez.  an 
dem  periostalen  Randstreifen.  Er  ist  entweder  mit  der  Trochlea -Verbin- 
dung der  Kapsel  verwachsen  oder  von  dieser  frei. 

2.  Das  Fascien-Bündel  des  Levator.  Ein  winziges  Muskelbündel 
djes  l-icvator,  vom  medialen  Rande  des  Muskels ,  lateral  von  der  Sehne  des 
Obliquus  superior,  nach  vom  abbiegend  und  von  unten  her  in  den  Fascien- 
zipfel  eintretend;  inconstant. 

3.  Das  abgetrennte  mediale  Bündel  des  Levator.  Ein  etwa 
2"°*  breites  Bündel  des  Levator,   weiter  hinten  vom  medialen  Rande  des 


Über  Tenon' sehen  Raum  und  Tenon'sche  Kapsel  39 

Muskels  abgehend,  medianwärts  divergirend,  jedoch  die  Flächenkrümmung 
des  Muskels  einhaltend,  an  der  medialen  Seite  der  Obliquus- Sehne  abwärts 
gewendet,  wo  es  sich  im  lockern  Bindegewebe  oberhalb  des  Horner'schen 
Muskels  verliert;  inconstant. 

4.  Die  Kapsel-Umhüllung  der  Sehne  des  Obliquus  superior. 
Wird  gebildet  durch  den  obem  medialen  Quadranten  der  Tenon 'sehen 
Kapsel ,  welche  hier  bis  an  den  distalen  Rand  der  Trochlea  heranreicht  und 
mit  diesem  verbunden  ist;  liefert  mittels  mehrerer  trichterförmiger  oder  röh- 
renförmiger, z.  Th.  in  einander  steckender  Lagen  eine  Scheide  für  die  Sehne 
des  Obliquus  superior,  in  welcher  jedoch  letztere  nicht  vollkommen  frei  liegt. 

5.  Der  Sehnenzipfel  der  vorderen  Levator-Ausbreitung. 
Durch  den  verstärkten  vordem  lateralen  Randtheil  der  vorderen  bez.  oberen 
Levator-Ausbreitung  gebildet,  an  der  lateralen  Orbitalwand  in  einer  Länge 
von  9""  von  der  Höhe  des  lateralen  Lid  winkeis  an  aufwärts  angeheftet,  mit 
dem  Septum  superius  entweder  bis  an  den  Knochen  heran  verbunden,  oder 
von  ihm  am  lateralen  Ende  durch  ein  kleines  abwärts  führendes  Loch  ge- 
schieden. Die  Befestigungslinie  am  Knochen  steht  unten  senkrecht  und  ist 
oben  rückwärts  gebogen;  der  untere  Rand  des  Zipfels  ist  mit  dem  vordem 
Rande  des  Ligamentum  capsulare  laterale  inferius  verbunden;  der  obere,  zu- 
gleich hintere  Rand  ist  frei,  auf  ihm  reitet  die  orbitale  Thränendrüse.  Der 
Zipfel  scheidet  den  Recessus  der  oberen  von  dem  der  unteren  Thränen- 
drüse. Ein  lateraler  Fascienzipfel  der  Levator-Fascie,  der  sich  mit  dem 
Sehnenzipfel  verbindet,  kann  vorkommen,  aber  auch  fehlen. 

6.  Ligamenta  capsularia  lateralia.  Ein  unteres  derartiges  Band 
ist  constant ,  ein  oberes  inconstant.  Das  untere  steht  der  Hauptsache  nach 
horizontal,  bald  in  der  Höhe  des  lateralen  Lidwinkels,  bald  etwas  tiefer, 
und  bildet  den  Boden  des  Recessus  der  unteren  Thränendrüse.  Es  hat  in 
querer  Richtung,  d.  h.  von  der  Kapsel  bis  an  den  Knochen,  eine  Ausdehnung 
von  2*°",  in  sagittaler  Richtung  eine  solche  von  5  —  8""*.  Der  vordere  Rand 
ist  mit  dem  untern  Rande  des  Levator -Zipfels  verbunden,  der  hintere  Rand 
ist  frei. 

Das  obere  Band,  wenn  vorhanden,  ist  sowohl  am  vordem  wie  hin- 
tern Rande  frei;  es  stellt  eine  Verbindung  des  zwischen  Rectus  lateralis 
und  Rectus  superior  gelegenen  Kapselabschnittes  mit  dem  Knochen  dar 
und  zieht  ab-,  vor-  und  lateral wärts ,  so  dafs  es  sowohl  zu  der  Fläche  wie 
zu  der  Achse  des  Rectus  lateralis  schief  gerichtet  ist. 


40  H.  ViRCHOw: 

7.  Das  mediale  Polster  der  Tenon'schen  Kapsel.  Stellt  eine 
in  querer  (horizontaler)  Richtung  4™",  in  sagittaler  Richtung  7""  messende 
Verdickung  der  Kapsel  an  der  medialen  Seite  des  Rectus  medialis  dar,  durch 
welche  die  Kapsel  an  derFascie  des  Hörn  er 'sehen  Muskels  sowie  am  Boden 
und  an  den  Seitenrändern  des  Thränensees  fixirt  wird.  Es  ist  diels  keine 
directe  Wandbefestigung,  sondern  diese  wird  erst  erreicht  durch  das  Liga- 
mentum palpebrale  mediale  sowie  den  Homer 'sehen  Muskel. 

8.  Die  Verbindung  der  accessorischen  Fascie  des  Rectus 
inferior  mit  der  Scheide  des  Obliquus  inferior  sowie  mit  der 
septalen  Brücke  des  untern  Lides.  Die  accessorische  Fascie  des  Rec- 
tus inferior,  nach  vorn  zu  ausgebreitet,  verbindet  sich  in  ihrer  medialen 
Hälfte  mit  der  Scheide  des  Obliquus  inferior  und  durch  Vermittelung  der- 
selben mit  dem  die  vordere  E^nte  der  Obliquus -Scheide  eimiehmenden  me- 
dialen Schenkel  der  septalen  Brücke ,  in  der  -lateralen  Hälfte  direct  mit  dem 
lateralen  Schenkel  der  letzteren.  Sie  ist  dadurch  gegen  zwei  symmetrisch 
gelegene  Punkte  des  untern  Augenhöhlenrandes  fixirt;  doch  ist  von  einer  Ver- 
bindung der  Fascie  mit  dem  Knochen  durch  Sehnenzipfel  nicht  zu  sprechen, 
weil  diese  Verbindung  nur  mittelbar  ist. 

12.  Locale  unterschiede  im  Gewebe  des  Tenon'sehen  Raumes. 

Ich  habe  Eingangs  daran  erinnert,  dafs  der  Tenon'sche  Raum  in  allen 
Theilen  durch  ein  gerüstartiges  Gewebe  ausgefüllt  ist,  und  habe  hinzuge- 
fugt, dafs  in  diesem  Gewebe  locale  Unterschiede,  und  zwar  typische  Unter- 
schiede, vorhanden  sind.  Diese  typischen  localen  Unterschiede  her- 
vorzuheben, ist  nicht  nur  berechtigt,  sondern  noth wendig,  wenn  man  die 
Feinmechanik  der  Kapsel,  der  Augenmuskeln  und  der  Bulbus -Bewegung 
richtig  beurtheilen  will. 

Ich  unterscheide  drei  Modificationen,  bez.  drei  Dichtigkeitsgrade. 

Es  ist  wohl  selbstverständlich,  dafs  Übergänge  bestehen,  aber  die  lo- 
calen Unterschiede  sind  nichtsdestoweniger  deutlich  und  typisch. 

Ich  bezeichne  die  drei  Modificationen  als  »lockere  oder  weitmaschige«, 
als   »dichte  oder  engmaschige«  und  als   »dichteste«  Modification. 

I.  Die  lockere  Modification  findet  sich  an  den  Innenfl&chen 
der  Sehnen  der  Recti,  zwischen  ihnen  und  der  Sclera.  Es  ist  dabei 
zu  berücksichtigen,  dafs  diese  Sehnen  der  Sclera  flach  aufliegen,  so  da6, 


Tiber  Tenori  sehen  Baum  und  Tenon^sche  Kapsel  41 

wenn  man  das  thatsftcbliche  Verhältnifs  in  einer  Zeichnung  richtig  wieder- 
geben Willy  ein  Spalt  überhaupt  nicht  dargestellt  werden  kann.  Trotzdem 
besteht  ein  solcher,  und  in  ihm  findet  sich  das  erwShnte  zarte  Gewebe. 
Dasselbe  kann  jedoch  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  keine  RoUe  spielen, 
und  im  mechanischen  Sinne  dürfen  wir  daher  die  betreffenden  Abschnitte 
des  Ten on 'sehen  Raumes  als  »leer«  betrachten.  Wir  können  sie  vergleichen 
mit  den  Schleimbeuteln ,  welche  sich  an  einigen  Stellen  des  Skelets  dort 
finden y  wo  Sehnen  schief  an  Knochen  treten;  Beispiele  sind  die  Bursae  am 
Radiusansatz  der  Bicepssehne,  am  Galcaneusansatz  der  Achillessehne,  am 
Tibia-Ansatz  des  Ligamentiun  patellae  inferius. 

Gleichfalls  locker  ist  das  Gewebe  an  der  inneren  (medialen)  Seite 
des  Ansatzes  des  Obliquus  inferior,  zwischen  diesem  und  der  Sclera; 
ebenso  innerhalb  der  Kapselscheide  der  Sehne  des  Obliquus  superior 
an  der  oberen  Seite  der  letzteren. 

2.  Die  dichte  Modification  findet  sich  an  vier  Stellen:  erstens  am 
vordem  und  hintern  Ende  des  Tenon'schen  Raumes,  dort  am 
Limbus  der  Cornea,  hier  am  Sehnerveneintritt;  zweitens  in  den  Kapselab- 
schnitten der  Muskelscheiden;  drittens  innerhalb  der  ganzen  Scheide 
des  Obliquus  inferior;  viertens  an  der  Aufsenfläche  der  Sehnen  der 
Recti,  zwischen  ihnen  und  der  Kapsel.  Bei  letzteren  schien  es  mir,  dafs 
das  Gewebe  neben  dem  Rectus  lateralis  besonders  dicht  sei,  dichter  als 
bei  den  anderen  Recti.  Allerdings  handelt  es  sich  hier  um  so  grofse  Fein- 
heiten, dafs  Zufälligkeiten  in  der  Erhaltung  des  Präparates  und  in  dem  tem- 
porären Aufmerksamkeit^grade  des  Präparirenden  das  XJrtheil  beeinflussen 
können;  doch  würde  ich  angesichts  des  Umstandes,  dafs  auch  die  Kapsel 
an  der  lateralen  Seite  locale  Eigenthümlichkeiten  zeigt  (s.  oben) ,  die  er- 
wähnte Beobachtung  nicht  von  vom  herein  fÖr  bedeutungslos  halten. 

3.  Die  dichteste  Modification  ist  zugleich  ausgezeichnet  durch 
plattenartige  Anordnung;  d.  h.  die  betreffenden  Stellen  sind  nicht  strang- 
f&rmig  oder  kugelig,  sondern  membranartig,  nicht  ein-  oder  dreidimensional, 
sondern  zweidimensional.  Solche  plattenartige  Stellen  können  sogar  wirk- 
liche Membranen  sein,  und  man  kann  dann  für  die  gleiche  Thatsache  einen 
zwiefachen  Ausdruck  wählen,  nämlich  entweder:  das  Gewebe  wird  so  dicht, 
dals  die  Lücken  verschwinden  und  eine  Membran  zu  Stande  kommt,  oder 
eine  Membran  springt  ins  Innere  des  Tenon'schen  Raumes  vor.  Die  letztere 
Ausdrucks  weise  ist  durchaus  berechtigt;   nur  ist  immer  festzuhalten,  dafs 

Phys.  Äbh.  nicht  zur  Akad,  gehör.  Gelehrter.   1902.   IV.  6 


42  H.  ViRCHow: 

sowohl  die  plattenartigen  Abschnitte  des  Gerüstgewebes ,  wie  die  Membranen 
nicht  frei  sind,  weder  an  ihren  Flächen  noch  an  ihren  Rändern.  An  den 
Flächen  sind  sie  mit  weniger  dichtem  Gerüst  werk  verbunden  und  an  den 
Rändern  lockern  sie  sich  in  solches  auf.  Ich  sage  nicht:  sie  »fasern  sich 
auf«,  sondern  sie  »lockern  sich  auf«,  da  es  ja  »äuseriges  Gewebe«  im  Xe- 
non'sehen  Räume  nicht  gibt. 

Die  Feststellung  dieser  Thatsachen  erfordert  eine  gesteigerte  Sorgfalt 
von  Seiten  des  Untersuchenden,  sie  ist  geradezu  mit  einer  gewissen  An- 
strengung der  Aufinerksamkeit  verbunden.  Ein  voreiliger  Schnitt  oder  selbst 
ein  xmbedachter  Zug  muls  die  zarteren  Theile  des  Gewebes  zerstören,  und 
dann  erhält  man  thatsächlich  freie  Ränder,  aber  Ränder,  die  vorher  nicht 
da  waren ;  und  indem  die  zerrissenen  Bälkchen  zusammenschnurren ,  entsteht 
eine  »Membran« ,  wo  vorher  eine  »plattenförmige  Anordnung«  existirte. 
Wenn  Merkel  in  der  ersten  Auflage  des  Handbuches  von  Gräfe  und  Sä- 
misch  die  »zarten  Bindegewebsbündel«  des  Tenon*schen  Raumes  fiir  »so 
locker  und  dehnbar«  erklärt,  dais  es  leicht  sei,  die  Kapsel  »in  grofser  Aus- 
dehnung aufzublasen « \  so  muis  man  doch,  wie  ich  glaube,  hier  für  »locker 
und  dehnbar«  einsetzen:  »zart  und  zerreifslich « .  Das  Verfahren  des  Auf- 
blasens  in  Ehren !  Aber  dieses  Verfahren ,  welches  fÄr  viele  Demonstrationen 
so  werthvoll  ist,  mufs  mit  Vorsicht  verwendet  werden;  diese  Methode,  der 
die  ältere  Anatomie  die  &lsche  Vorstellung  des  »Petit*schen  Kanals«  als 
eines  leeren,  von  geschlossenen  Wänden  begrenzten  E^anals,  und  der  die 
ältere  Histiologie  den  falschen  Begriff  des  »Unterhautzellgewebes«  verdankte, 
ist  ebenso  wenig,  wie  in  diesen  beiden  Fallen,  bei  dem  Xenon 'sehen  Räume 
geeignet ,  über  die  Natur  und  Anordnung  des  ihn  ftülenden  Gewebes  auf- 
zuklären. 

Wenn  es  nun  auch  angesichts  der  Feinheit  der  in  Betracht  kommen- 
den Verhältnisse  manchmal  nicht  leicht  ist,  zu  entscheiden,  ob  wir  eine  Mem- 
bran oder  plattenfbrmiges  Gerüstwerk  vor  uns  haben,  bez.  an  welcher  Stelle 
eine  Membran  in  plattenartiges  G^rüstwerk  übergeht,  so  kommt  darauf  fOr 
die  mechanische  Vorstellung  nichts  an. 

Ich  führe  nun  die  in  Betracht  kommenden  Gebilde  vor. 

Zunächst  die  Adminicula  der  Sehnen  der  vier  Recti.  Nach 
meiner  Meinung  sind  dieselben  im  wesentlichen  gerüstartig,  können  jedoch 

^  Merkel,  Fr.  Makroskopische  Anatomie  in:  Handbuch  der  gesammten  Augenheil- 
kunde I.  Bd.    Leipzig  1874.    S.  57. 


••  ^^ 

über  Tenan'schen  Raum  und  Tenon'sche  Kapsel.  43 

z.  Th.  wirkliche  Membranen  sein.  Ich  übernehme  den  Ausdruck  von 
Merkels  weiche  jedoch  hinsichtlich  des  Tliatsächlichen  darin  ab,  da(b  diese 
an  den  Rändern  der  Sehnen  befestigten  Bildungen  nicht  nur  zum  Bulbus 
ziehen,  sondern  sich  ganz  ebenso  gut  auch  an  der  Kapsel  befestigen. 

In  die  gleiche  Kategorie  gehört  das  hintere  Adminiculum  der  Sehne 
des  Obliquus  superior.  Dieüs  ist  eine  wirkliche  Membran,  welche  vom 
hintern  Rande  der  Sehne  an  die.  Kapsel  tritt. 

Femer  sind  zu  nennen  die  Verlängerungen  der  (inneren)  Lippen 
der  Kapselschlitze  fQr  die  Recti.  Gleich&Us  Membranen,  welche  die 
Innenflächen  der  Sehnen  in  der  hinteren  Hälfte  des  Abstandes  zwischen  dem 
Kapselschlitz  und  dem  Ansatz  an  die  Sclera  begleiten.  Der  vordere  Rand 
lockert  sich  ziemlich  unvermittelt  auf,  indem  ja  gerade  hier,  wie  vorhin 
gesagt,  die  zarteste  Modification  des  Gewebes  anschlieüst.  Somit  finden  wir 
an  den  Innenseiten  der  Sehnen  der  Recti  die  beiden  Extreme 
des  Grewebes  des  Tenon'schen  Raumes:  in  der  hinteren  Hälfte  des  Abstandes 
zwischen  Schlitzlippe  und  Sclera  eine  membranartige  Bildung,  in  der  vor- 
deren Hälfte  die  lockere  Formation  in  ihrer  äulsersten  Steigerung.  Bei 
unachtsamer  Präparation  kann  es  vorkommen ,  dafs  man  die  membranartigen 
Verlängerungen  der  Schlitzlippen  bis  an  die  Sclera  fortgeftlhrt  denkt,  und 
dals  man  auf  Grund  davon  »Sehnenscheiden«  annimmt,  welche  als  Fort- 
setzungen der  Muskelscheiden  durch  den  Tenon'schen  Raum  hindurch  bis 
an  die  Sclera  reichen,  wie  solche  in  verschiedenen  Lehrbüchern,  z.  B.  bei 
Testut*,  filschlich  beschrieben  werden.  Diese  »Sehnenscheiden«  sind  schon 
an  sich  nicht  mit  dem  Begriff  der  »Adminicula«  im  Merkel'schen  Sinne 
vereinbar.  Denn  wenn  die  Sehnen  von  Sehnenscheiden  eingehüllt  wären, 
so  konnten  sich  an  sie  keine  Adminicula  ansetzen;  die  Adminicula  könnten 
dann  keine  Adminicula  tendinum,  sondern  höchstens  »Adminicula  vaginarum 
tendinum«  sein.  Die  Unvereinbarkeit  dieser  beiden  Lehrbuch  -  Begriffe  hat 
mir,  und  vielleicht  auch  manchem  Andern,  harte  Stunden  des  Nachdenkens 
bereitet.  Nach  meinen  Erfahrungen,  die  in  der  vorausgehenden  Darstellung 
niedergelegt  sind,  liegt  sowohl  den  »Sehnenscheiden«  wie  den  »Adminicula« 
etwas  Positives  zu  Grunde,  nur  ist  dieses  »etwas«  aus  dem  Zusammen- 
hange herausgerissen  und  dann  in  schematischer  Weise  zu  einer  zu  grofsen 


^    Merkel  und  Kallius  a.a.O.  S.  73. 
*    A.  a.  O.  Fig.  1 1 29  auf  S.  203. 

6* 


44  H.  ViBCHOw: 

Selbständigkeit  gebracht,  so  dafis  beide  Bestandtheile  nicht  mehr  neben  ein- 
ander möglich  sind,  w&hrend  in  Wahrheit  beide  Bildungen  mit  einander  vor- 
kommen. 

Endlich  ist  eine  Verlängerung  der  Scheide  des  Obliquus  in- 
ferior bis  zur  Sclera  zu  nennen;  und  zwar  liegt  diese  Verlängerung  am 
vordem  Rande  des  Muskels.  Wenn  man  sich  vergegenwärtigt,  wie  dieser 
Muskel  sich  mit  dem  Rectus  lateralis  Iqpeuzt,  so  wird  verständlich  sein, 
dafs  diese  Verlängerung  zugleich  mit  der  inneren  Lippe  des  Eapselschlitzes 
för  den  Rectus  zusammenhängt,  und  dais  daher  erwogen  werden  kann,  ob 
es  sich  nicht  um  eine  Verlängerung  dieser  Lippe  bis  an  die  Sclera  han- 
dele. Dafs  das  aber  nicht  der  Fall  ist,  geht  daraus  hervor,  daJ&  dieses 
Blatt  sich  an  der  Sclera  7""  hinter  der  Rectus -Sehne,  unmittelbar  am  vor- 
dem Rande  des  Obliquus  inferior  befestigt.  Diese  Verlängerung  findet  sich 
jedoch  nur  am  Rande  des  Muskels  und  umgibt  nicht  seinen  Ansatz,  so 
dals  nach  oben  hin  der  Scheidenraum  mit  dem  Tenon'schen  Raiune  in 
Verbindtmg  steht. 


Über  Tenon^schen  Baum  und  Tenorische  Kapsel.  45 


Erkl&nmg  der  Figuren. 


Tafel  I. 


Fig.  I.     Schema  des  mittlem  Sagittalschnittes  durch  den  Bulbus  und  seine  Umgebung 

bei  dreimaliger  Vergröfserung. 

Ca  Tenon'sche  Kapsel. 

Co  Scheidenverbindung  des  Rectus. 

F.  L  (obere)  Fascie  des  Levator. 

Fo,  t.  unterer  ) 

„  ,  l  Fomix  conjunctivae  mit  dem  vordem  £^de  der  Kapsel. 

Fo,s.  oberer   )  **  '^ 

F,  r.  accessorische  Fascie  des  Rectus  inferior. 

L.  Levator. 

L,  a.  vordere  oder  obere )  ^     ,     .  -      - 

r  , .  ^  j  ^       i  Ausbreitunir  des  Levator. 

L.p,  hmtere  oder  untere  )  ^^ 

Ob.  Obliquus  inferior. 

Or  Dach  der  Orbita. 

Pa.  subtarsales  Bindegewebe  des  untern  Lides. 

Pß.  periostaler  Randstreifen. 

R.  i.  Rectus  inferior. 

R.  8.  Rectus  superior. 

£>  Sclera. 

S.  s.  Septum  superius. 

V.  c  Kapseltheil   )  ,      w    i    i    u  •  j 

Tr  ^  t:*      '    xi-  -1  }  der  Muskelscheide. 

V./.  Fascientheil  ) 

V.  o.  Duralscheide  des  Sehnerven. 

Fig.  2.     Vorderes  Stück  eines  der  Recti  von  der  Aufsenfläche  gesehen. 

V  Bündel  des  Muskels  zur  Scheidenverbindung. 

Fig.  3.     Schema    eines    Frontalschnittes    durch    den    hintern    Theil    des    Bulbus    und 
seine  Umgebung. 

G.  Tenon'sche  Kapsel. 

K.  Verbindung  zwischen  den  Kapselscheiden  des  Rectus  superior  und  Rectus 

lateralis  durch  einen  rückwärts  gerichteten  Fortsatz  der  Kapsel. 

A"'  gedachte,  aber  nicht  deutlich  vorhandene,  ringförmige  Ergänzung  von  K, 


46  H.  ViRCHOw: 

R»  Recessus  des  intramiisculären  Raumes,  welcher  durch  K  nach  der  Seite 

begrenzt  wird. 

R.  L  Rectus  lateralis. 

R,  s.  Rectus  superior. 

S  Sclera. 

T  Ten on 'scher  Raum. 

V,  Kapseltheil  der  Scheide  des  Rectus  latei-alis. 

Flg.  4.    Sehne  des  Obliquus  superior. 

Ä        hinteres  Adminiculum  zur  Kapsel. 

c.         der  von  der  Kapsel  eingeschlossene    )  ^,     ,    .      _      ^  . 

,      .     ^  f    i_      »         1.        j    }  Abschnitt  der  Sehne. 

t         der  im  Xenon  sehen  Raum  hegende) 

S         Sclera  -  Streifen . 

T        Trochlea. 

Tafel  IL 

Fig.  5.  Schema  eines  Horizontalschnittes  durch  den  Bulbus  und  seine  Umgebung  bei 
dreimaliger  Vergrofserung. 

Ca       Ten on 'sehe  Kapsel. 

Ca.  L   lateraler,  in  zwei  Lagen  gespaltener  Theil  der  Kapsel. 

Co       Scheidenverbindung  des  Rectus  medialis. 

Cr       Caruncula  lacrimalis. 

F.h,  Fascie  des  Hörn  er 'sehen  Muskels  bez.  Abschnitt  des  medialen  Septum 
orbitale. 

JT.       Hörn  er 'scher  Muskel. 

L.a  unterer  Rand  der  vorderen  oder  oberen  Levator-Ausbreitunc:,  zugleich 
Verbindungslinie  dieser  mit  dem  Septum  orbitale  superius,  nach  hinten 
mit  L,  L  zusammenhängend. 

L.p  unterer  Rand  der  hinteren  oder  unteren  Levator- Ausbreitung  bez.  Liga- 
mentum laterale  tarsi  superioris. 

L,  l     Ligamentum  capsulare  laterale  inferius. 

L.  m.  Ligamentum  palpebrale  mediale. 

0.  /     laterale  )  „_     .    .       _.  , . 

/^  j«  1   J  Wand  der  Orbita. 

O.  m.  mediale ) 

p,  Fixationsstreifen  von  der  Orbital  wand  zum  Polster  (im  Text  nicht  erwähnt). 

Pa.8,  Rand  des  obern  Lides,  von  Haut  bekleidet. 

Fl  Plica  conjunctivalis. 

i\i.  mediales  Polster  der  Kapsel. 

S  Sclera. 

F.  c,  Kapseltheil  der  Muskelscheide. 

V.f  Fascientheil  der  Muskelscheide. 

F.  o  D uralscheide  des  Sehnerven. 

Fig.  6.  Schema  eines  Frontalschnittes  durch  den  Bulbus  vor  dem  Aequator  und 
die  Umgebung. 

A        Adminiculum  tendinis. 
Ca.      Tenon'sche  Kapsel. 


über  Tenon^scken  Bavm  und  Tenon'sche  Kapsel.  47 

CA.      Chorioides. 

d.        dichte    ) 

.  1    Ir       1  ^odification  des  Gewebes  im  Tenon'^chen  Raum. 

S        Sclera. 

T        Rectus- Sehne. 

Fig.  7.     Stück  eines  meridionalen,  zwischen  die  Sehnen  zweier  Recti  fallenden  Schnittes 
durch  den  Tenon 'sehen  Raum. 
A        Adminiculum. 

C         Innenfläche  der  Ten  on 'sehen  Kapsel. 
S         Sclera. 
T.        Tenon 'scher  Raum. 


48        H.  ViRCHO w :    Über  Tenon'schen  Raum  und  Tenorische  Kapsel. 


Inhalt. 


Seite 

I.    Das  Gewebe  des  Ten on 'sehen  Raumes 5 

3.    Die  Ten  on 'sehe  Kapsel 6 

3.  Der  supravaginale  Raum B 

4.  Die  Kapselschlitze 9 

5.  Beziehungen  der  Kapsel  zu  den  hinterliegenden  Theilen 10 

6.  Der  blättrige  Bau  der  Kapsel 14 

7.  Fascie  des  Hörn  er 'sehen  Muskels;  Septum  orbitale  ...          19 

8.  Levator  palpebrae  superioris;   Ausbreitungen   und  Fascie  desselben,   Fascienzipfel, 

Sehnenzipfel,  abgelöste  Bündel 22 

9.  Die  accessorische  Fascie  des  Rectus    inferior  und  die  septale  Brücke  des  untern 

Lides 29 

10.  Befestigung  der  Ten  on 'sehen  Kapsel   in   der  Gegend  des  medialen  und  lateralen 

Lidwinkels 31 

11.  Übersicht  über  die  im  Vorausgehenden  geschilderten  Kapselbefestigungen,  Sehnen- 

zipfel, Fascienzipfel  und  abirrende  Muskelbündel 37 

12.  Locale  Unterschiede  im  Gewebe  des  Tenon 'sehen  Raumes .  40 


K.  Prm/s.  Akad.  d.  Wuteiuch. 


Fig.1. 


Anhang  s.  d.  Abh.  1902.  Fhyt.-fna&,  CL 


Im, 


^ 


Fig.3. 


Fi0.z. 


Fig.  f. 


JC. 


.a.i. 


E  Vlrohow:  Ober  Tenoo'schen  Baom  und  Tenon'ache  Kapsel. 


K.  PrMf/s.  Atad.  d.  Witwueh. 


Fi^.5. 


An/lang  i.  d  AbA.  1902,  Fh^.-tHoA.  a. 


J, 

F.Jl.- 

ftt. 

p. 

Om. 


,01.,  t. 

-O.l 


Ftg.6. 


Tig.7. 


E  Virehow:  Ober  Tenon'aoheQ  Baam  imd  Tenon'sohe  E^seL 

TBf.IL 


über  den  Einflufe  ferbigea  Lichte  auf  die  Färbung 

lebender  Oscillarien. 


Von 


N.  GAIDUKOV. 


i%y».  Mh,  niehi  tmr  Akad.  gehär.  Geirrter.  1902.    V. 


Gelesen  in  der  Sitzung  der  phys.-math.  Classe  am  31.  Juli  1902 

[Sitzungsberichte  St.  XL.  S.  927]. 

Zum  Druck  eingereicht  am  gleichen  Tage,  ausgegeben  am  10.  December  1902. 


L  Einleitimg. 

JUie  Aufgabe  der  folgenden  Untersuchung,  welche  ich  auf  Anregung  von 
Hrn.  Prof.  Engelmann  im  Physiologischen  Institut  zu  Berlin  ausgeführt 
habe,  war,  zu  prüfen,  ob  durch  Einwirkung  farbigen  Lichts  auf  lebende 
chromophyllhaltige  Pflanzen  eine  zweckm&£sige  Änderung  der  F&rbung  des 
Chromophylls  zu  erhalten  sei.  Unter  zweckmalsig  wird  hier  eine  die  Kohlen- 
Stoffassimilation  begünstigende  Änderung  verstanden,  d.h.  eine  solche  in 
complementärem  Sinne  zu  der  Farbe  des  einwirkenden  Lichtes. 

Durch  die  mittels  der  Bakterienmethode  im  Mikrospectrum  von  Hm. 
Engelmann  angestellten  Messungen  hatte  sich  gezeigt \  dals  im  allge- 
meinen Licht  von  zu  der  des  betreffenden  Chromophylls  complementärer 
Farbe  die  Sauerstofiausscheidung  am  günstigsten  beeinflulst.  Für  grüne 
Zellen  war  das  rothe  Licht,  fiir  rothe  das  grüne,  fär  blaugrüne  das  gelbe, 
för  gelbe  das  blaugrüne  Licht  relativ  am  wirksamsten.  Der  Zusammenhang 
zwischen  Wellenlänge  des  Lichts  und  Lichtabsorption  durch  den  Farbstoff 
war  dann  mittels  des  zu  diesem  Zweck  gebauten  Mikrospectralphotometers  an 
den  verschiedenen  farbigen  lebenden  Zellen  quantitativ  festgestellt  worden* 
und  es  hatte  sich  ergeben,  dafs  zwischen  assimilatorischer  Wirkung  und 
Absorption  eines  Lichts  von  beliebiger  Brechbarkeit  innerhalb  weiter  Grenzen 
der  Wellenlängen  eine  strenge,  directe  Proportionalität  besteht,  derart,  dafe 
es  sogar  gelang,  unter  Voraussetzimg  dieser  Proportionalität  die  Curve  der 

^  T h.  W.  Engelmann,  Farbe  und  Assimilation.  Botanische  Zeitung  1 883,  Nr.  i ,  S.  2 .  — 
Siehe  auch  Archives  neerland.  T.  XVIII.  1883,  p.  29. 

'   Derselbe,  Untersuchungen  über  die  quantitativen  Beziehungen  zwischen  Absorption 
des  Lichtes  und  Assimilation  in  PÜanzenzellen.    Botanische  Zeitung  1884,  Nr.  6  und  7.  — 
.Siehe  auch  Archives  neerland.  T.  XIX.  1884,  p.  186. 

1* 


4  N.  Gaidükov: 

Vertheilung  der  Energie  im  Spectrum  des  Sonnen-,  Gas-  und  elektrischen 
Glühlicht«  aus  den  an  den  verschiedenfarbigen  Zellen  eingestellten  Messungen 
der  Assimilationsenergie  und  der  Absorptionsgröfse  in  objectiv  gültiger  Weise 
wenigstens  för  einen  grofsen  Theil  des  sichtbaren  Spectrums  zu  berechnen. 

Aus  der  somit  festgestellten  Thatsache,  dafs  bei  jeder  beliebig  gef&rbten 
lebenden  ZeUe  im  allgemeinen  nur  die  Menge  der  absorbirten  strahlenden 
Energie  des  Lichts  die  assimilatorische  Wirkung  bestimmt,  folgte  zunächst 
der  wichtige  Schlufs,  dafs  das  Vermögen,  im  Lichte  CO,  zu  zerlegen,  nicht, 
wie  bis  dahin  allgemein  angenommen  war,  ausschliefslich  dem  grünen  Farb- 
stoff, dem  Chlorophyll,  zukomme,  sondern  ebenso  gut  jenen  anderen,  welche, 
meist  mit  Chlorophyll  gemischt  oder  verbunden,  die  von  der  grünen  ab- 
weichende Färbung  der  assimilirenden  Organe  der  gelben,  rothen,  blau- 
grünen u.  s.  w.  Zellen  bedingen.  Das  Chlorophyll  war  also  nur  ein  be- 
sonderer, allerdings  der  am  weitesten  verbreitete  Fall  aus  einer  grolsen  Gruppe 
von  Farbstoffen  gleicher  physiologischer  Function,  und  es  war  deshalb  ge- 
boten, alle  diese  Stoffe  unter  einem  gemeinschaftlichen  Namen,  nach  Hm. 
Engelmann 's  Vorschlag  »ChromophyU«,  zusammenzu&ssen.  Denselben 
konnte  später  noch  das  durch  seine  starke  Absorption  der  ultrarothen  Strahlen 
(etwa  zwischen  X  =  o.8o  und  0.90 /i)  ausgezeichnete  Bakteriopurpurin  an- 
gereiht werden.^ 

Es  war  durch  Hrn.  Engelmann  weiter  gezeigt  worden,  dafs  aus  der 
aufgedeckten  Gesetzmäfsigkeit  die  seit  lange  bekannten,  die  Tiefenvertheilung 
verschiedenfarbiger  Pflanzen  im  Meere  betreffenden  Thatsachen  verständlich 
werden.     Er  äufserte  sich  hierüber  folgendermaßen^: 

»Wie  bekannt,  herrschen  in  gröfseren  Tiefen,  wie  überhaupt  an  solchen 
Orten,  zu  denen  das  Licht  nur  durch  eine  sehr  lange  Schicht  Seewasser 
gelangen  kann  (blaue  Grotten) ,  rothe  Formen  vor,  während  die  grünen  schon 
in  sehr  mä&iger  Tiefe  völlig  zu  verschwinden  pflegen.  Oersted^  wollte  ja 
sogar  vier  durch  die  verschiedene  Färbung  der  Pflanzen  (und  Thiere)  charak- 
terisirte Tiefenregionen  unterscheiden:  eine  oberste  (litorale)  der  grünen,  eine 
zweite  der  braunen,  eine  dritte  der  rothen  Pflanzen  und  Thiere,  und  eine  vierte. 


^  Th.  W.  Engelmann,  Über  Bakteriopurpurin  und  seine  physiologische  Bedeutung. 
Pfluger's  Archiv  Bd.  42.  1888,  S.  183.  —  Die  Purpurbakterien  und  ihre  Beziehungen  zum 
Lichte.  Botanische  Zeitung  1888,  Nr.  42 — 45.  Siehe  auch  Arch.  neerl.  T.  XXUI.  1889,  p.  151. 

*   Botanische  Zeitung  1883,  Nr.  2. 

'   A.J. Oersted,  De  regionibus  marinis.  Elementa  topogr.etc.  Diss.Inaug.  Uauniaei844. 


•  •  

Über  den  Einflufs  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  lebender  Oscillarien.       5 

tiefste,  pflanzenfreie  der  weifeen  Thiere.  Wenn  nun  auch  solche  Eintheilung 
sich  keineswegs  streng  hat  durchföhren  lassen,  so  enthält  sie  doch  ein 
gut  Theü  Wahrheit.  Im  besondern  bestätigen  alle  neueren  Beobachter  die 
Beschränkung  der  grünen  Formen  auf  die  oberflächlichen,  das  Vorherrschen 
der  rothen  in  den  tieferen  und  tiefsten  Schichten.  So  bemerkt  G.  Berthold 
in  seiner  soeben  erschienenen  wichtigen  Studie  über  die  Vertheilung  der 
Algen  im  Golfe  von  Neapel  \  »dafs  die  Vegetation  der  beschatteten  Fels- 
wände, der  Grotten  und  ebenso  die  der  gröfseren  Tiefen  schon  durch  ihre 
rothe  Färbung  einen  besondem  eigenthümlichen  Charakter  erhält«.  Er  ist 
aber  geneigt,  wie  auch  andere  vor  ihm,  den  etwaigen  Einflufs  des  Lichts 
wesentlich  nur  der  verschiedenen  Intensität  desselben  zuzuschreiben. 

»Offenbar  aber  ändert  sich,  wie  ja  schon  der  blofse  Anblick  imgleich 
tiefer  Meeresstellen  ergibt,  mit  der  Dicke  der  Wasserschicht,  die  das  Licht 
durchläuft,  nicht  nur  die  Intensität,  sondern  auch  die  Qualität  des  Lichtes. 
Schon  in  mälsig  dicker  Schicht  erscheint  das  Wasser  grün  bez.  blaugrün. 
In  diesen  Tiefen  haben  also  die  grünen  und  blaugrünen  Strahlen  eine  relativ 
gröfsere,  die  rothen  und  gelben  eine  relativ  geringere  Energie  als  im  ur- 
sprünglichen Licht.  Da  nun  gerade  die  rothen  Strahlen  fiir  die  Assimilation 
grüner  Zellen  das  meiste  leisten,  die  grünen  nur  wenig,  so  müssen  sich  die 
grün  gefärbten  Pflanzen  von  diesen  mäfsigen  Tiefen  an  im  Nachtheil  befinden 
gegen  die  roth  gefärbten  Zellen,  in  welchen  ja  umgekehrt  gerade  die  grünen 
Strahlen  weitaus  am  energischsten  assimilatorisch  wirken.« 

»Es  ist  also  nur  natürlich,  dafs  in  gröfseren  Tiefen  die  rothen  Formen 
im  Kampf  ums  Dasein  überall  siegen  und  ebenso  in  geringerer  Tiefe  überall 
da,  wo  das  Licht  ausschliefslich  (blaue  Grotten)  oder  doch  zu  einem  grolsen 
Theil  (submarine  schattige  Felsenabhänge)  durch  längere  Wasserschichten  hin- 
durch die  Pflanzen  erreicht.  Selbstverständlich  liegt  kein  Einwand  in  der 
Thatsache,  dafs  rothe  Formen  auch  an  den  oberflächlichen,  dem  vollen 
Licht  ausgesetzten  Stellen  sehr  häufig  sind,  wie  andererseits  auch  das  Auf- 
finden einer  einzelnen  grünen  Form  in  gröfserer  Tiefe  nichts  beweisen  würde. « 

Auch  die  Folgerung,  dafs  gelbe  Formen  im  allgemeinen  in  gröfserer 
Tiefe  als  gi'üne  gedeihen  werden,  wird  durch  die  Thatsache  bestätigt. 
Auf  dem  Boden  des  blaugrünen  Genfersees  herrschen  nach  J.  A.  Forel 
gelbe  Algen  —  neben  farblosen  —  durchaus  vor  und  fehlen  grüne  gänzlich. 


Mittheilungen  aus  der  Zoologischen  Station  zu  Neapel.    3.  Bd.  1882,  S.  415. 


6  N.  Gaidukov: 

Unlängst  hat  6.  Nadson^  gefunden,  dafs  gewisse  Cyanophyceen-  und 
Chlorophyceenarten  (z.  B.  Mastigocohus  testarum  Lagerh.,  Hydla  oaespitasa 
Born,  et  Flah.,  Ostreöbmm  Queketii  Born,  et  Fl  ah.),  in  oberflächlichen 
Meeresschichten  durch*  grüne  oder  blaugrune,  in  tiefen  durch  rothe  In- 
dividuen vertreten  sind,  so  daJä  also  die  nämliche  Art  den  Forderungen 
der  Engelmann'schen  Theorie  entsprechend  ihre  Färbung  ändert,  sich  den 
veränderten  optischen  Bedingungen  anpassen  zu  können  scheint. 


IL  Plan  und  Methode  der  Untersnclumg. 

Es  erschien  unter  diesen  Umständen  nicht  nur  wünschenswerth ,  sondern 
auch  aussichts voll ,  zu  untersuchen,  ob  nicht  auch  künstlich  durch  Cultur- 
versuche  in  verschiedenfarbigem  Licht*  der  Theorie  entsprechende  Än- 
derungen der  Chromophyllfärbung  sich  würden  hervorbringen  lassen.  Die 
meiste  Aussicht  auf  positiven  Erfolg  boten  offenbar  die  durch  Verschieden- 
heit und  Wandelbarkeit  der  Färbung*  ausgezeichneten,  dabei  sehr  niedrig 
organisirten ,  überall  verbreiteten  und  rasch  sich  vermehrenden  OsciUarien. 

Meine  Versuche  wurden  hauptsächlich  an  OscUlaria  sancta  angestellt, 
welche  ich  aus  Gewächshäusern  des  alten  botanischen  Gartens  in  Berlin  in 
genügender  Menge  erhielt.  Sie  bedeckte  hier  in  violettem  Lager  die  Erde 
vieler  Blumentöpfe.  Es  wurde  solche  Erde  abgenommen  und  in  Porzellan- 
tellem  mit  etwas  Wasserleitungswasser  na&  gehalten.  Nach  einigen  Tagen 
Stehens  bei  gewöhnlicher  Beleuchtung  häuften  sich  die  Fäden  in  der  oberen 
Schicht  an,  krochen  ebenso  in  grofser  Menge  nach  dem  trockenen  Rande 
des  Tellers.  Die  neu  gebildeten  Lager  bestanden  theils  aus  violetten,  theils 
aus  blaugrünen  Fäden.    Letztere  bildeten  meist  durch  Zusammenhalten  haut- 

*  G.  Nadson,  Die  perforirenden  (kalkbohrenden)  Algen  und  ihre  Bedeutung  in  der 
Natur.  Scripta  botanica  Horti  Universitatis  Petropolitani,  p.  15 — 18  (russisch),  S.  36 — 37 
(deutsch). 

^  Schon  Fr.  Oltmanns  (Über  die  Culturen  und  Lebensbedingungen  der  Meeresalgen, 
Pringsheim's  Jahrbuch,  für  wissenschaftliche  Botanik  23,  1892,  S.  424)  und  G.  Klebs 
(Die  Bedingungen  der  Fortpflanzung  bei  einigen  Algen  und  Pilzen,  Jena  1896,  8.  104) 
cultivirten  einige  Algen  in  farbigem  Licht,  doch  ihr  Ziel  war  wesentlich  Beobachtung  der  vom 
Licht  hervorgebrachten  morphologischen  Änderungen. 

"  Ober  den  Wechsel  der  Farbe  bei  Cyanophyceen  vergl.  Nägeli  und  Schwendener, 
Das  Mikroskop,  2.  Ausgabe  1877,  S.496;  P.  Richter,  Über  den  Wechsel  der  Farbe  bei  einigen 
Süfs wasseralgen ,  insbesondere  den  OsciUarien  (Botanisches  Centralblatt  1880,  S.  605 — 607). 


Über  den  Emflufs  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  lebender  Osciüarien.      7 

artige  Schichten.  Morphologisch  stimmten  die  bis  20/1  dicken  violetten 
Ffiden  mit  0.  sancta  var.  aequinoctialis  Gomont^  überein.  Die  Färbung 
variirte  von  nahezu  reinem  Violett  bis  Purpurviolett  und  Braun-  oder  Grau- 
violett.  Die  blaugrünen  nur  bis  14/1  dicken  FSden  stimmten  in  ihren 
Eigenschaften  am  meisten  mit  0.  sancta  var.  caldariorum  Gomont  (Hauck)^ 
überein. 

Im  Laufe  einiger  Wochen  verschwanden  auf  einigen  Tellern  fast  alle 
blaugrünen,  auf  anderen  fast  alle  violetten  Fäden,  so  da&  man  schlieislich 
fast  reine  Culturen  von  der  einen  oder  der  anderen  Färbung  erhielt.  Nach 
drei  bis  vier  Wochen  pflegten  diese  Culturen  das  Maximum  der  Entwicklung 
erreicht  zu  haben ;  die  Fäden  bildeten  dann  dicke  die  Oberfläche  überziehende 
Lager.  Aus  diesen  Culturen  wurden  eine  Zahl  Fäden  in  Pe  tri -Schalen  auf 
Erde  mit  Leitungswasser  oder  auf  Agar-Agar  mit  0.3  Procent  Knop 'scher 
Lösung  übertragen.  Auf  Agar-Agar  fand  die  Entwickelung  langsamer  statt, 
hielt  aber  länger  an.  Durch  wiederholtes  Übertragen  auf  frisches  Agar- 
Agar  konnten  nahezu  reine  Culturen  der  violetten  wie  auch  der  blaugrünen 
Formen  anscheinend  unbegrenzt  lange  erhalten  werden. 

Aus  oben  Gesagtem  folgt,  da£s  unter  anscheinend  denselben  Bedingungen 
in  dem  einen  Fall  die  violette,  im  andern  die  blaugrüne  Form  siegt.  Beide 
sind  auch  nach  ihrem  Habitus  gut  zu  unterscheiden.  Ich  bezeichne  die 
violette  Form  als  0.  sancta  Kütz.  f.  violacea  mihi  und  die  blaugrüne  als  0. 
(Xildariorum  Hauck  f.  viridis  mihi. 

Die  Petri-Schalen  mit  den  beiden  genannten  Nährböden,  auf  welche 
die  Fäden  aus  möglichst  reinen  Culturen  auf  Porcellan -Tellern  übertragen 
wurden,  wurden  hinter  die  Lichtfilter  gestellt.  Alle  Culturen  befanden  sich 
in  einem  grofsen  hellen  weifsgestrichenen  Zimmer  im  zweiten  Stock  des 
Physiologischen  Instituts,  auf  einem  Tische,  welcher  von  dem  nach  Süden 
gerichteten ,  etwa  i "  entfernten  grofsen  Fenster  genügendes  Tages-  und  ge- 
legentlich directes  Sonnenlicht  erhielt. 

Im  Laufe  des  Juni  bis  August  1 900  wurden  Culturen  im  gewöhnlichen 
(weifsen)  Licht  und  vom  November  bis  October  1901/02  ebensolche  im  ge- 
wöhnlichen und  farbigen  Licht  wiederholt  gezogen,  und  zwar  fast  immer 
mit  demselben  Erfolge.  Im  weifsen  Lichte  siegte  öfters  0.  sancta j  jedoch 
prävalirte  0.  caldariorum  vom  Februar  bis  Mai.    Auf  der  Culturerde  mit  Lei- 

^  M.  Gomont,  Monographie  des  Oscillariees  (Nostocacees  homocystees) ,  Annales  des 
sciences  naturelles,  VII  s^rie,  Botanique,  Paris  16,  1892,  p.  146,  147,  pl.IV,  fig.  i — 3. 


8  N.    GrAIDUKOV: 

• 

tungswasser  giengen  die  Oscillarien  ungefähr  nach  zwei  Monaten  zu  Grunde, 
auf  dem  Agar-Agar  jedoch  hielten  sie  sich,  wie  schon  oben  gesagt,  an- 
scheinend unbegrenzt  lange.  In  den  Gewächshäusern  (Colonial-  und  Orchi- 
deenhaus), wo  diese  Oscillarien  wuchsen,  ist  die  Temperatur  sehr  hoch, 
doch  entwickeln  sich  dieselben  auch  in  der  gewöhnlichen  Zimmertempera- 
tur zu  allen  Jahreszeiten  ganz  gut. 

Die  benutzten  Lichtfilter  waren  folgende:  Petri-Schalen*  aus  braun- 
gelbem Glase ,  in  welchen  die  Algen  direct  cultivirt  wurden ;  ferner  farbige 
Lösungen  in  doppelwandigen  Glocken  nach  Sachs  (richtiger  nach  Senebier) 
und  groXse  blaue  Schalen,  mit  welchen  Petri-Schalen  aus  farblosem  Glase, 
in  denen  sich  die  Culturen  befanden,  bedeckt  wurden.  Viele  Lichtfilter 
wurden  spectrometrisch  untersucht  (s.  imten)  und  von  diesen  diejenigen 
gewählt,  mit  welchen  man  am  ehesten  eindeutige  Resultate  zu  erwarten 
hoffen  konnte. 

Der  einzige  Apparat,  mit  welchem  man  eine  quantitative  Spectral- 
analyse  von  einzelnen  lebenden  (was  für  uns  sehr  wichtig  ist)  oder  todten 
Zellen,  wie  überhaupt  von  mikroskopisch  kleinen  farbigen  Objecten  (Kry- 
stallen  u.  a.)  und  ebenso  von  minimalen  Mengen  farbiger  Lösungen  auszu- 
föhren  im  Stande  ist,  ist  das  Mikrospectralphotometer  nach  Engel- 
mann.^  Die  Vorzüge  dieses  Apparates  sind  neuerdings  noch  dadurch  erhöht, 
daüs  an  Stelle  des  bisher  benutzten  dispergirenden  Prismensatzes  ein  trans- 
parentes Gitter  nach  Thorp  angebracht  ist*,  welches  also  nicht  ein  Spectrum 
mit  ungleichförmiger  Dispersion,  sondern  ein  normales  mit  überall  gleicher 
Zerstreuung  liefert.*  Die  relativ  sehr  grofse  Ausdehnung  der  wenig  brech- 
baren Partie  des  Spectrums  empfiehlt  diesen  Apparat  namentlich  für  Ab- 
sorptionsbestimmungen in  Roth  und  Orange.    Nur  bei  sehr  dunkel  gefärbten 


*  Käuflich  bei  P.  Alt  mann  in  Berlin. 

^  Th.  W.  Engel  mann,  Das  Mikrospectralphotometer.  Zeitschrift  für  wissenschaft- 
liche Mikroskopie,  Bd.  5,  1888,  S.  289 — 296.  Siehe  auch  Archives  neeriand,  T.  XXIII,  1889, 
p.  82 — 92.  Über  die  Methodik  der  Beobachtungen  u.  s.w.  vergl.:  Derselbe,  Die  Farben 
bunter  Laubblätter  und  ihre  Bedeutung  für  die  Zerlegung  der  Kohlensäure  im  Lichte.  Bota- 
nische Zeitung,  1887,  Nr.  29.    Siehe  auch  Archives  neerland,  T.  XXII,  1888,  p.  43 — 50. 

*  Th.  W.  Engelmann,  Über  die  Verwendung  von  Gittern  statt  Prismen  bei  Mikro- 
spectralapparaten  (Sitzungsber.  d.Berl.  Akad.  d.  Wiss.,  phys.-math.  Ciasse  vom  26.  Juni  1902,32). 
—  H.  Siedentopf,  Über  ein  Mikrospectralphotometer  nach  Engelmann  mit  Gitterspectrum, 
ebenda  S.  706 — 710. 

*  Über  einige  kleine  anzubringende  Correcturen  vergl.  Sie  den  topf  a.  a.  O.  S.  7o61f. 


Über  den  Einflufs  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  lebender  Oscillarien.      9 

Objecten,  wenn  gleichzeitig  die  Anwendung  sehr  starker  VergröJCserungen 
nöthig  ist,  dürfte  der  Apparat  mit  prismatischem  Spectrum  wegen  seiner 
grölseren  Lichtstärke  vorzuziehen  sein.  Übrigens  stimmen  die  Resultate 
der  mit  dem  prismatischen  und  Gitter -Spectrum  an  gleichen  Objecten  an- 
gestellten Messungen  überein ,  wie  z.  B.  folgende  an  einer  grünen  Zelle  der 
Cladaphora  fracta  Kütz.  an  einer  und  derselben  Stelle  angestellten  Bestim- 
stimmungen  der  Absorptionsgröfee  zeigen: 


Prismatisches 

Gitt«r- 

Spectrum^ 

Spectrum 

x  = 

• 

• 

680 — 670 

10.4 

10.5 

670 — 660 

13-7 

13.9 

635—625 

19.6 

19.2 

595—585 

40.2 

40.0 

575—565 

48.1 

48.1 

565—555 

46.0 

450 

495—485 

14.6 

14.0 

Für  Untersuchungen  wie  die  unseren  ist  sehr  intensives,  möglichst 
constantes  weifses  Lieht  noth wendig.  Im  Petroleumlicht,  im  gewöhnlichen 
Gas  oder  elektrischen  Glulilicht  sind  die  blauen  oder  violetten  Strahlen 
im  allgemeinen  zu  schwach.  Sonnenlicht  war,  namentlich  in  dem  trüben 
Sommer  1902,  zu  inconstant.  Elektrisches  Bogenlicht,  welches  übrigens 
nach  Qualität  und  Intensität  des  Spectrums  allen  Anforderungen  genügen 
würde,  pflegt  auch  gelegentlich  störende  Schwankimgen  zu  zeigen.  Das 
Licht  des  Auerbrenners  ist  für  viele  Fälle  nicht  ausreichend  stark.  Das 
einzige  Licht,  welches  alle  zu  unserer  Untersuchung  noth  wendigen  Eigen- 
schaften aufweist,  ist  das  Licht  des  Glühfadens  der  Nernst-Lampe.  Ich  be- 
nutzte ein  von  der  Allgemeinen  Elektricitäts- Gesellschaft  nach  Anweisung 
von  Prof.  Engelmann  hergestelltes  Modell,  welches  einen  geraden,  etwa 
15""  langen  und  fast  i""  dicken  Glühfaden  besitzt.  Die  sehr  handliche,  auf 
einer  Grundplatte  fixirte  und  mittels  Schraube  verstellbare  Lampe  wurde 
an  die  Gleichstromleitung  (i  10  Volt)  angeschlossen.  Von  dem  vertical 
stehenden  Glühfaden  wurde  mittels  einer  Sammellinse,  des  Stativspiegels 
und  des  Abbe'schen  Condensors  ein  Bild  in  der  Objectebene  entworfen 
von  solcher  Gröfse  und  Lage,  dafs  der  Bedingung  gleichmäfsiger  Beleuch- 


^   Mittel  von  fünf  Messungen,  t  ist  die  Intensität  des  durchgelassenen  Lichts  in  Procenten 
von  der  Stärke  des  aufTallenden. 

Phys.  Abh.  nicht  sitr  Akad.  gehör.  Gelehrter.   1902.    V.  2 


10  N.  Gaidukov: 

tung  beider  Halbspalte  im  Spectralocular  auch  bei  gröfster  Weite  der  Spalte 
genügt  war.  Die  Lichtstärke  war  so  grols,  dals  in  vielen  Fällen  die  stärk- 
sten trockenen  und  Oelimmersionssysteme  (Apochromat  2"*",  1000 fache  Ver- 
gröfserung)  mit  Vortheil  zur  Verwendung  kommen  konnten.  Das  Mikroskop 
befand  sich  entweder  in  dem  dunkeln  Engelmann'schen  Mikroskopirkasten, 
oder  es  war  zwischen  dem  Mikroskop  und  der  Lichtquelle  ein  schwarzer 
Schinn  angebracht,  der  alles  störende  Licht  vom  Auge  und  der  Umgebung 
abhielt. 

Zur  feinen  Einstellung  sämmtlicher  Objecte  waren  die  Bewegungsvor- 
richtungen des  von  mir  benutzten  Zeifs 'sehen  Stativs  IIa  vollkommen  aus- 
reichend. 

Die  als  Lichtfiltra  benutzten  farbigen  Gläser  werden  folgendermafsen 
untersucht.  Mit  einem  Diamanten  abgeschnittene  Stücke  von  derselben  Dicke, 
wie  die  Schalen  selbst,  werden  auf  Objectträgern  in  Canada- Balsam  ein- 
geschlossen und  mit  einem  Deckgläschen  bedeckt.  Nur  die  Stücke  mit  ganz 
glatten,  geraden  und  homogen  geförbten  Rändern  wurden  bei  schwächster 
Vergröfserung  (Apochromat   16""  Zeifs)  spectrometrisch  geprüft. 

Die  farbigen  Lösungen  wurden  in  Glaszellen  untersucht,  welche  für 
die  spectrophotometrischen  Untersuchungen  äufserst  kleiner  Flüssigkeits- 
mengen nach  den  Angaben  von  Prof.  Engelmann  durch  Zeifs  angefertigt 
und  von  J.  Velichi^  bereits  beschrieben  worden  sind.  Zur  Verwendung 
kam,  bei  schwächster  Vergröfserung  imd  bei  möglichst  breitem  Lichtkegel, 
eine  i**°  hohe  Glaszelle.  Dieselbe  Dicke  hatte  nahezu  die  Flüssigkeitsschicht 
in  den  doppelwandigen  Glocken. 

Bei  der  Untersuchung  der  lebenden  Oscillarienzellen  befanden  sich 
die  Zellen  in  Wasser.  Die  Ränder  des  Deckgläschens  wurden  mit  auf  flachem 
Löffel  geschmolzenem  Vaselin  begossen,  wodurch  ein  vollkommener  Verschlufs 
des  Präparates  erzielt  wurde.  Der  zu  untersuchende  Faden  muXs  ganz  flach, 
vor  allem  nicht  schräg  im  Gesiclitsfeld  liegen,  seine  Einstellung  überaus 
fein  sein,  das  Bild  der  einen  seitlichen  Begrenzungslinie  des  Fadens  ganz 
genau  mit  der  Grenzlinie  der  beiden  Spalthälften  zusammenfallen.  Die 
bei  spectrometrischen  Untersuchungen  von  Pflanzenzellen  aus  dem  optischen 
Einflüsse  der  stark  lichtbrechenden  farblosen  Zellmembranen  entspringenden 
Störungen  sind  bei  den  Oscillarien  nicht  nennenswerth.    Sie  würden  übrigens 

^  Jon  A.  Velichi,  Quantitative  8 pectralanalyse  des  rothen  Blutfarbstoffes  bei  wirbel- 
losen Tbieren.     Diss.  inaiig.     Berlin   1900.    S.  21  —  23. 


•  •  

Über  dm  Einflufs  farbigen  Lichts  auf  die  Färhang  lebender  Oscülarien.     1 1 

für  den  vorliegenden  Zweck,  auch  wenn  sie  gröfser  wären,  nicht  in  Be- 
tracht kommen,  da  es  sich  ftlr  uns  ja  wesentlich  um  Änderungen  im  Ver- 
hältnifs  der  Absorption  in  den  verschiedenen  Theilen  des  Spectrums ,  nicht 
um  die  absoluten  Werthe  handelt.  Zur  Untersuchung  gelangten  nur  solche 
Fäden,  die  eine  sehr  zarte  und  dünne  Membran  aufwiesen.  Bei  rich- 
tiger Beleuchtung  und  richtiger  Einstellung  des  Focus  verschwindet  die 
Grenzlinie  zwischen  dem  Fadenspectrum  und  dem  Vergleichsspectrum  so 
gut  wie  vollständig. 

Viel  gröfser  ist  eine  Schwierigkeit  anderer  Art,  nämlich  die  in  der 
Beweglichkeit  der  Oscillarienfaden  gelegene.  Es  bedarf  gröfser  Geduld  und 
sehr  langen  Suchens,  ehe  man  einen  geeigneten  unbeweglichen  Faden  im 
frischen  Präparat  findet.  Denn  0.  sanda  ist  im  allgemeinen  sehr  lebhaft 
beweglich.  Erst  nach  einem  etwa  fünfstündigen  Aufenthalte  in  dem  mit 
Vaselin  gekitteten  Präparate  wurden  die  Oscillarien  mehr  oder  weniger  un- 
beweglich. Bedeutend  schneller  läfst  sich  diese  Schwierigkeit  überwinden, 
wenn  man  die  Oscillarien  ganz  kurze  Zeit  mit  Aether  oder  Benzindampf 
narkotisirt.  Nach  einer  solchen  Behandlung  werden  die  Oscillarien  unbe- 
weglich. Sie  bleiben  trotzdem  noch  etwa  zwei  Tage  lang  im  beschriebenen 
Präparate  lebend.  Der  Tod  der  0.  sanda  ist  leicht  daran  zu  erkennen, 
dafs  der  violette,  in  Wasser  lösliche  Farbstoff  austritt  und  die  Zellen  grün 
werden.     Das  in  Wasser  unlösliche  Chlorophyll  bleibt  zurück. 

Wegen  verschiedener  Schwierigkeiten,  die  bei  der  spectrometrischen 
Untersuchung  der  lebendigen  Zellen  entstehen  können,  z.  B.  wegen  der 
selbständigen  Bewegungen  der  Individuen  (Oscillarien,  Diatomaceen,  Bak- 
terien u.  s.  w.)  oder  Bewegungen  der  Chromophyllkörper  innerhalb  der  Zel- 
len, oder  weil  manche  Pflanzen  (besonders  Meeresalgen)  im  lebendigen  Zu- 
stand schwierig  zu  erhalten  sind,  wäre  es  sehr  wünschenswerth ,  wenn  man 
die  Zellen  ohne  Veränderung  der  Chromophyllfarbe  dauernd  fixiren  könnte. 
Hr.  Prof.  Engelmann  hat  eine  solche  Fixirungsmethode  beschrieben*,  die 
für  viele  mikroskopische  Pflanzen  diese  Anforderung  ziemlich  streng  erföUt. 
Sie  besteht  in  der  EinschlieJGsung  in  Ganada -Balsam  der  zuvor  i*asch  auf 
dem  Objectträger  eingetrockneten  Objecte.  Hierbei  werden  auch  die  Stö- 
rungen durch  Lichtreflexe  an  der  Zellwand,  welche  bei  Untersuchung  in 
Wasser  drohen,  sehr  reducirt.     0.  sanda  wurde  bei  gewöhnlicher  Tempe- 

^   Botanische  Zeitung  1 888,  8.  68o. 


12  N.  Gaidukov: 

ratur  auf  einem  Objectträger  im  Luftzuge  oder  unter  dem  Exsiceator  ein- 
getrocknet, in  Canada- Balsam  eingeschlossen  und,  mit  einem  Deckglase  be- 
deckt, spectrometrisch  geprüft.  Die  so  erhaltenen  Dauerpräparate  haben 
sich  jetzt  bereits  über  zwei  Jahre  in  völlig  unveränderter  Färbung  erhalten. 
Die  Farbe  der  so  fixirten  Individuen  ist  für  die  einfache  mikroskopische 
Betrachtung  ganz  dieselbe,  wie  die  der  lebenden,  ebenso  auch  das  spec- 
troskopische  Bild  (Taf.  I,  Fig.  11).  Genaue  Auskunft  lieferte  die  vergleichende 
spectrophotometrische  Untersuchung  der  nämlichen  Zellen  der  0.  saneta,  erst 
im  lebenden  Zustand,  dann  nach  Einschluls  in  Balsam.  Es  ergab  sich  hierbei 
(vergl.  Taf.  I,  Fig.  11,  Curven  a  und  &),  dafe  die  Absorptionscurven  in  der  That 
in  der  Hauptsache  identisch  sind.  Die  beobachteten  Abweichungen  hielten 
sich  meistens  innerhalb  der  Grenzen  der  Beobachtungsfehler.  Nur  zwischen 
\  580 — 540  war  die  Absorption  bei  den  in  Balsam  fixirten  Zellen  etwas 
schwächer,  wie  die  Zahlen  in  Tab.  I  2  a,  &  zeigen.  Die  Abweichungen  könnte 
man  vielleicht  dadurch  erklären ,  dafs  von  dem  violetten  Farbstoff,  der  ja 
gerade  zwischen  jenen  Wellenlängen  ein  starkes  Absorptionsmaximum  zeigt, 
trotz  des  rapiden  Eintrocknens  doch  ein  wenig  beim  Absterben  der  Zellen 
der  0.  sancta  ausgetreten  war. 

Wenn  also,  wie  aus  Gesagtem  folgt,  zwischen  den  spectroskopischen 
Eigenschaften  der  von  uns  untersuchten  lebenden  und  fixirten  Zellen  nur 
ein  sehr  geringer  Unterschied  ist,  so  gilt  das  doch  keineswegs  Ar  alle  Algen, 
und  es  sollten  deshalb  spectrometrische  Messungen  zunächst  immer  an  le- 
benden Zellen  ausgeführt  werden.  Diatomaceen  z.  B.  können  überhaupt  nicht 
auf  die  beschriebene  Weise  in  brauchbarem  Zustand  fixirt  werden,  denn 
sie  werden  dabei  grün. 

Zum  Verständnifs  der  beigegebenen  Tabellen  und  Tafeln  sei  noch  Fol- 
gendes bemerkt.  Die  Stellen  des  Spectrums,  an  welchen  der  Lichtverlust 
gemessen  ward,  sind  in  den  Tabellen  jedesmal  durch  die  in  Tausendstel 
Mikren  (fifi)  ausgedrückten  Wellenlängen  (X)  bezeichnet.  Bei  der  Unter- 
suchung der  Zellen  folgten  die  Messungen  an  den  mittels  der  Ocularschieber 
unter  Benutzung  der  Angström'schen  Scala  des  Apparats  isolirten  farbigen 
Feldern  in  der  Richtung  von  Roth  nach  Violett  oder  umgekehrt,  von  \  720 
bis  X420,  an  30  oder  mehr  sich  ununterbrochen  folgenden  Stellen.  Bei 
der  Untersuchung  der  Lichtfiltra  wurde  die  Absorption  meist  nur  an  solchen 
Stellen  des  Spectrums  gemessen,  welche  den  charakteristischen  Helligkeits- 
Maximis  und  -Minimis  des  05c//Ä3rria  -  Spectrums  entsprachen.     Bei  den  ersten 


Über  den  Einfluß  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  Übender  OsciUarien.    1 3 

Übungen  habe  ich  an  jeder  Stelle  20  Messungen  gemacht,  meist  zweimal, 
Morgens  und  Abends.  Später  genügten  jedoch  bereits  fünf  Messungen ,  um 
sehr  brauchbare  Mittelwerthe  zu  erhalten. 

In  den  Tabellen  wie  in  den  Curven  sind  die  Intensitäten  des  vom  farbigen 
Objecte  durchgelassenen  Lichtes  in  Procenten  der  Stärke  des  auffallenden  (i) 
verzeichnet.  Hieraus  können  die  entsprechenden  Werthe  der  Extinctions- 
coefficienten  mittels  der  von  Prof.  Engelmann  gegebenen  Tabellen^  leicht 
gefunden  und  beliebige  Localconstanten  (Reinke)  berechnet  werden,  Berech- 
nungen, welche  jedoch  för  den  vorliegenden  Zweck  zunächst  unnöthig  er- 
schienen. 

Die  Resultate  der  Farbenuntersuchung  sind  in  den  Figuren  der  bei- 
gegebenen Tafeln^  verzeichnet.     Auf  jeder  ist  abgebildet: 

1.  (links  am  Rande)  Stück  eines  Fadens  in  der  Färbung,  wie  sie  bei 
starker  Vergröfserung  im  Mikroskope  bei  durchfallendem,  hellem  Tageslicht 
erschien ; 

2.  das  Spectralbild ,  und  zwar  unmittelbar  über  einander  oben  das  des 
Absorptionsspectrums,  unten  das  Spectrum  des  ursprünglichen  (Nernst-) 
Lichtes  bei  Betrachtung  im  Mikrospectralocular  (mit  Prisma); 

3.  die  spectrophotometrische  Curve,  welche  die  Lichtabsorption  als 
Function  der  Wellenlänge  auf  Grund  unserer  Messungen  graphisch  dar- 
stellt. 

In  Fig.  I  Taf.  I,  UI— VI  Taf.  II,  III,  VIII  Taf.  IV  bezieht  sich  die  mit  a 
bezeichnete  Curve  auf  Messungen  an  einem  einzelnen  Faden,  die  gestrichelte 
Curve  b  auf  das  Mittel  aller  Messungen  an  aus  ähnlichen  Culturen  entnom- 
menen Fäden.  Die  Curve  a  in  Fig.  II  Taf.  I  zeigt  den  Gang  der  Absorption 
in  einem  lebenden,  die  Curve  b  in  einem  in  Balsam  conservirten  Faden. 
In  Fig.  Vn  Taf.  IV  zeigen  die  Curven  a  und  b  den  Gang  der  Absorption 
in  zwei  Fäden  verschiedener  Färbung,  von  denen  links  je  ein  Stück  ab- 
gebildet ist. 

In  Fig.  in — VII  Taf.  11 — IV  ist  aufserdem  links  am  Rande  ein  Vier- 
eck (c)  in  der  Farbe  des  einwirkenden  Lichts  und  weiter  die  spectrophoto- 
metrische Curve  {c)  dieses  Lichts  abgebildet. 


*  Th.  W.  Engel  mann,  Tafeln  und  Tabellen  für  Darstellung  der  Ergebnisse  spectro- 
skopischer  und  spectrophoto metrischer  Beobachtungen.    Leipzig  1897. 

'  Die  Tafeln  sind  nach  dem  Muster  der  von  Prof.  Engelmann  publicirten  (a.  a.  0.) 
angefertigt.     Eis  ist  das  prismatische,  nicht  das  Normalspectrum  zu  Grunde  gelegt. 


14  N.  Gaidukov: 

m.  Ergebnisse  der  Untersuchung. 

Die  Versuche  habe  ich  Ende  November  1901  begonnen,  indem  ich  fol- 
gende Erde-  und  Leitungswasserculturen  der  0.  sancta  einstellte :  zwei  in  gelb- 
braunen Pe  tri -Schalen,  zwei  in  Petri- Schalen  aus  farblosem  Glase,  welche 
ich  mit  einer  blauen  Schale  bedeckte,  und  zwei  Petri- Schalen  aus  demselben 
(farblosen)  Glase,  die  in  gewöhnlichem,  diffusem,  weifsem  Lichte  standen. 
Nach  etwa  zwei  Monaten ,  als  ich  zu  meinen  Untersuchungen  zurückkehrte, 
waren  die  Resultate  folgende :  sämmtliche  Culturen  waren  sehr  gut  und  fast 
gleich  stark  entwickelt;  doch,  während  bei  den  in  diffusem,  weifsem  Lichte 
befindlichen  Culturen  die  Lager  der  Oscillaria  wie  früher  violett  waren, 
waren  diejenigen  in  gelbbraunem  Lichte  graugrün  und  die  in  blauem 
braun  geworden.  Die  mikroskopische  Untersuchung  zeigte,  dals  die  meisten 
Fäden  in  gelbem  Lichte  graugrün  (Fig.  7),  in  blauem  dagegen  gelbbraun 
(Fig.  3)  gefärbt  werden. 

Bei  den  weiteren  Versuchen  mit  gefärbten  Lösungen  trat  die  Veränderung 
der  Farbe  noch  früher  ein  (zwei  Wochen  bis  einen  Monat).  Die  Culturen  im 
farbigen  Lichte  werde  ich  die  Lichtfilterculturen  nennen. 

Bei  diesen  Versuchen  ist  es  noth wendig,  noch  einige  andere  Fehler- 
quellen zu  berücksichtigen.  Wie  lange  bekannt,  ist  die  Farbe  nicht  nur  einer 
und  derselben  Algenart,  sondern  auch  derselben  Individuen  veränderlich. 
Nägel i  und  Schwendener^  beobachteten,  dafs  sich  die  Farbe  gewisser 
Cyanophyllen  mit  dem  Alter  der  Zellen  verändert.  Solche  Veränderungen 
waren  bei  der  ursprünglichen ,  in  weifsem  Licht  cultivirten  oder  in  Gewächs- 
häusern wachsenden  0.  sancta  nicht  typisch ,  in  den  Lichtfilterculturen  aber 
überaus  auffallend  (s.  unten). 

P.  Richter^  behauptet,  dals  gewisse  Algen,  wenn  sie  im  Wasser  wach- 
sen, grüner,  dagegen  auf  trockenem  Boden  blauer  u.  s.  w.  sind,  was  er  aus 
Auflösen  und  osmotischem  Austreten  gewisser  Mengen  des  blauen  Farb- 
stoffes (Phycocian)  im  Wasser  erklärt.  In  meinen  Culturen  war  die  Färbung 
der  Fäden,  ob  im  Wasser  oder  aufserhalb,  stets  dieselbe. 

Dafs  die  Farbenveränderung  keine  pathologische  Erscheinung  war,  geht 
aus  folgenden  Gründen  klar  hervor:  die  Intensität  des  Wachsthums 
und  die  Beweglichkeit  der  Fäden  in  den  Lichtfilterculturen  war 
manchmal   noch    stärker,   als   bei   in  gewöhnlichem  Lichte  gezo- 

*  A.  a.  O.  p.  496. 

*  A.  a.  0.  p.  605  —  607. 


Über  den  Einfluß  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  lebender  Oscülarien.     1 5 

genen  Culturen.  Hierbei  traten  auch  keine  morphologischen  Ver- 
änderungen hervor.  Aus  allen  Culturen  habe  ich  im  Interesse  der  Ein- 
heit und  Gleichheit  der  Beobachtung  stets  die  dicksten  Fäden  (bis  20  /i) 
spectrometrisch  untersucht.  Hierüber  findet  sich  Näheres  bei  der  Beschrei- 
bung der  einzelnen  Fälle. 

Wie  schon  bemerkt,  ist  die  Farbe  der  0.  sancta,  welche  in  Gewächs- 
häusern, wo  meistens  die  Glasscheiben  mit  grüner  Farbe  bedeckt  sind^ 
oder  wenn  sie  in  künstlichen  Culturen  in  diffusem  weifsem  Lichte  wächst,, 
stets  violett  bis  bräunlich  violett  (Taf.  I,  Fig.  1,2).  Die  Fadenfilze  bilden  ein 
schwarzviolettes  Lager.  Das  Spectrum  der  violett  gefärbten  Zellen  ist  durch 
folgende  Eigenschaften  charakterisirt.  Es  zeigt  sechs  Helligkeitsmaxima 
und  ebenso  viele  Helligkeitsminima ,  deren  Lage  durch  X  und  relative  Stärke 
mit  I,  2,  3  u.  s.  w.,  so  wie  sie  nach  dem  subjectiven  Eindruck  zu  beurtheilen 
ist,  in  der  folgenden  Tabelle  angegeben  sind.  Mit  i  ist  das  absolute  Maxi- 
mum der  Helligkeit,  bez.  der  Dunkelheit,  bezeichnet. 

Violette  Zellen  von   0.  sancta. 


Helligkeits- 

Relative 

Helligkeits-              Relative 

maxima 

Stärke 

minima                    Stürke 

1  von  \  690  bis  Ende 

4 

I  von  \  660 — 685             2 

11     •    \640 — 655 

2 

II     -    X  613—635             5 

in     •    \  590 — 600 

I 

III     -    X  570—580             T 

IV    -  X  557-562 

5 

IV     .    X  540— 555             2 

V    -  X  515—535 

3 

V     .    X  490— 505             4 

VI     -    \  475— 485 

4 

VI     -    \  455  bis  Ende       3 

Im  Gitterspectrum  erscheint  das  Minimum  III  intensiver  als  das  Mini- 
mum I,  im  prismatischen  dagegen  das  Minimum  I  immer  am  dunkelsten, 
was  sich  aus  der  in  beiden  Spectren  ungleichen  Zerstreuung  erklärt. 

Das  Spectrum  der  braunvioletten  Zellen  (Fig.  II)  war  dem  rein  violetten 
sehr  ähnlich,  nur  war  das  Minimum  I  relativ  stärker,  die  Minima  III  und 
rV  schwächer  ausgeprägt.     Näheres  ergibt  die  folgende  Tabelle. 

Braunviolette  Zellen  von  0.  sancta. 

Helligkeits-              Relative  Helligkeits-  Relative 

maxima                   St&rke  minima  Starke 

I  von  X  690  bis  Ende       4  I  von  X  660 — 685              i 

II     •    X  640 — 655             2  II     •    X  620 — 630             6 


III 

IV 

V 

VI 


X  590— 600  I  III  -  X  570— 577  3 

X  556— 560  5  I^^  •  X  540— 550  4 

X  5 15— 525  3  V  -  \  490— 517  5 

\475 — 485  4  VI  *  X  460  bis  Ende  2 


16  N.  Gaidükov: 

In  demselben  Faden  waren  manchmal  einige  Zellen  violett ,  andere 
dagegen  braunviolett,  doch  können  andererseits  alle  Zellen  desselben  Fadens, 
junge  sowohl  als  auch  ganz  alte,  gleich  violett  oder  auch  braunviolett  ge- 
färbt sein. 

Viele  (zwölf)  verschieden  gefärbte  Fäden  der  0.  sancta  wurden  spectro- 
photometrisch  untersucht.  Die  Mittelwerthe  dieser  Messungen  (etwa  30CX)) 
stellt  die  Curve  Taf.I  Fig.  16  und  Tab.  16  dar.  Wie  die  Curve  zeigt,  erreicht 
die  relative  Intensität  des  durchgelassenen  Lichts  im  äulsersten  sichtbaren 
Roth  (bei  X  710)  das  absolute  Maximum  (84  Procent),  dann  nimmt  sie  sehr 
rasch  ab,  um  bei  etwa  X  675  ein  erstes  Minimum  (35.3  Procent)  zu  erreichen 
(I.  Absorptionsband) ,  dann  steigt  die  Intensität  bei  etwa  X  645  auf  60.  i  Pro- 
cent, sinkt  auf  ein  zweites  Minimum  (58  Procent),  bei  etwa  X  625  (ü.  Absorp- 
tionsband), steigt  dann  sehr  hoch  auf  70.7  Procent  bei  X  595  (HI.  Helligkeits- 
maximum), um  nochmals  sehr  steil  und  tiefer  wie  im  Roth  auf  34.4  Procent 
bei  etwa  X  575  zu  sinken  (III.  Absorptionsband).  Nach  einer  vorübergehenden, 
sehr  kleinen  Erhebung  auf  37.5  Procent  bei  etwa  X  560  (IV.  Helligkeits- 
maximum)  sinkt  die  Intensität  auf  36.6  Procent  bei  etwa  X  550  (IV.  Ab- 
sorptionsband), steigt  dann  sehr  steil  auf  59.8  Procent  bei  etwa  X  525, 
sinkt  danach  wieder  ziemlich  tief  auf  43.2  Procent  bei  etwa  X  500  (V.  Ab- 
sorptionsband), steigt  nochmals  schwach  bis  48.1  Procent  bei  etwa  X  475 
und  sinkt  schliefslich  gegen  das  violette  Ende  auf  das  absolute  Minimum 
(29.7  Procent),  welches  etwa  bei  X  435   erreicht  wird. 

Extreme  Fälle  der  einen  und  anderen  Färbung  sind  in  Taf.  I  Fig.  I  und  11 
graphisch  dargestellt  worden.  Die  Cui've  Fig.  la  betrifft  einen  intensiv 
violetten  lebendigen  Faden  (600  Messungen),  Curve  Fig.  IIa  einen  braun- 
violetten lebendigen  und  Hh  einen  ebenso  gefärbten  in  Balsam  fixirten 
Faden  (600  Messungen).  Die  Lage  der  Helligkeitsmaxima  und  -Minima  im 
Spectrum  dieser  extremen  Fälle  ist  dieselbe  wie  in  der  Curve  16,  welche 
nach  den  Mittel werthen  aller,  an  zwölf  verschiedenen  Fäden  angestellten 
Messungen  gezogen  ist.  Die  relativen  Intensitäten  der  Maxima  und  Minima 
sind  jedoch,  wie  zu  erwarten  ist,  für  die  braun  violetten  Zellen  etwas 
andere  als  för  die  reinvioletten.  So  liegt  das  Helligkeitsminimum  HI  beim 
reinvioletten  Faden  Fig.  la  viel  tiefer,  auf  29.9  Procent,  als  das  I  (45.3  Pro- 
cent), in  der  Curve  des  braun  violetten  umgekehrt  das  erste  Minimum  (bei 
X  675)  in  Fig.  iflf  viel  höher  (etwa  45  Procent)  als  in  Fig.  IIa  (30.4  Pro- 
cent).   Auch  die  Absorption  vom  Grün  an  bis  ins  Violett  ist  bei  den  braun- 


Über  den  Einflufs  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  lebender  OsciUarien.     1 7 

violetten  Fäden  (Fig.  11)  merklieh  stärker  als  bei  den  rein  violetten  (Fig.  i). 
Bei  beiden  aber  erreicht  die  Absorption  gegen  das  Violett  hin  die  absolut 
höchsten  Werthe.  Nur  bei  den  reinvioletten  Fäden  ist  die  Lichtschwächung 
im  Gelb  (Minimum  III)  ebenso  stark  (i=  30  Procent)  wie  am  starkbrech- 
baren Ende. 

Es  ist  noch  zu  bemerken,  daß  das  Helligkeitsminimum  I  des  Spec- 
trums unserer  0.  sancta  f.  molacea  das  sogenannte  Chlorophyllband,  dem 
charakteristischen  Absorptionsmaximum  der  grünen  \  unser  Helligkeitsmini- 
mum n  dem  der  blaugränen ,  m  und  IV  dem  der  rothen ,  V  und  VI  dem 
der  braunen  Algen  entspricht.  Deswegen  sind  bei  der  Untersuchimg  von 
0.  sancta  noch  interessantere  Resultate  zu  erwarten. 

Wie  in  den  auf  Taf.  I  in  Fig.  I,  II  dargestellten  Fällen,  so  waren 
auch  in  allen  anderen  (s.  unten)  alle  subjectiven  Bänder  photome- 
trisch nachweisbar,  was  mit  den  Beobachtungen  von  A.  von  Wolkoff , 
Th.  W.  Engelmann\  F.  Stenger*  u.  A.,  aber  nicht  mit  denen  von 
J.  Reinke'^  und  F.  Schutt*  übereinstimmt. 

ä)  Versuche  mit  rothen  Lichtfiltern. 

Als  Lichtfilter  ftir  rothes  Licht  habe  ich  eine  Lösung  des  käuflichen 
Carmins  gebraucht.  Wie  bekannt,  ist  carminrothes  Licht  nicht  das  Roth 
des  Spectrums,  doch  läfst  Carmin  bei  grofser  Dicke  der  Schicht,  wie  Prof. 
W.  A.  NageT  bemerkt  hat,  nur  rothe  Strahlen  durch.    Die  Curve  c  (Taf.  III, 

^  Vergl.  EDgeimann,  Botanische  Zeitung,  1884,  Nr.  6  und  7.  J.  Reinke,  Photo- 
metrische  Untersuchungen  über  die  Absorption  des  Lichtes  in  Assimilationsorganen ,  ebenda 
1886,  Nr.  9 — 14.  Über  die  qualitative  Spectralanalyse  der  lebenden  Algen  vergl.  Stokes. 
Über  die  Veränderung  der  Brechbarkeit  des  Lichts,  PoggendorTs  Annalen  der  Physik  und 
Chemie,  Ergänzungsbd. IV,  1854,  S.  263.  —  Rosonoff,  Physiologische  und  anatomische  Unter- 
suchungen U.S.W,  (russisch),  Naturalist,  St.  Petersb.  1867,  Tab.  II.  —  Reinke,  Beitrag  zur 
Kenntnifs  des  Phycoxanthins ,  Pri ngs heim 's  Jahrbuch,  wissensch.  Botanik  X,  1876,  S.  412, 
Tab.  XXX. 

*  A.  von  Wolkoff,  Die  Lichtabsorption  in  den  Chlorophylllösungen,  Verhandlungen 
des  Naturhistorischen  Medicinischen  Vereins  zu  Heidelberg,  i,  1877,  S.  204 — 328. 

*  Th.  W.  Engelmann,  Botanische  Zeitung,  1887,  S.  415. 

^    F.  Stenger,  Über  die  Bedeutung  der  Absorptionsstreifen.     (Ebenda  S.  120). 

*  J.  Reinke,  ebenda  1886,  Nr.  9,  Taf.  II.  Entgegnung  bezüglich  der  subjectiven  Ab- 
sorptionsstreifen, ebenda  1887,  S.  271. 

*  F.  Schutt,  Über  das  Phycoerythrin.  Berichte  der  Deutschen  Botanischen  Gesell- 
schaft VI,  1888,  Taf.  in  u.  s.  w. 

^   W.  A.  Nagel,  Über  flüssige  Strahlenfilter,  Biologisches  Centralblatt  18,  1898,  S.  650. 

Fhys,  Ahh,  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter,    1902.    V.  3 


18  N.  Gaidukov: 

Fig. VI)  Tab.  III,  Spalte  2,  zeigt  auch,  dafe  nur  die  rothen  Strahlen  in  dieser 
Lösung  intensiv  sind,  orange  Strahlen  nur  halb  durchgelassen,  alle  anderen 
jedoch  so  gut  wie  ganz  absorbirt  werden. 

0.  sancta  entwickelte  sich  hier  nicht  so  gut  wie  in  einigen  anderen  Licht- 
filterculturen.  Meistens  siegte  0.  caldariorum.  Von  sechs  Culturen,  welche 
im  Laufe  vom  Mftrz  bis  August  1902  eingestellt  wurden,  fand  nur  in  einer 
Agar-Agarcultur  eine  gute  Entwickelung  mit  0.  caldariorum  zusammen  statt. 
Nach  einem  Monat  hatten  die  gut  wachsenden  und  beweglichen  Fäden  in 
genannten  Culturen  hellviolette,  graugrüne,  graublaugrüne,  hellspangrOne 
Färbung  und  nur  sehr  wenige  waren,  ähnlich  der  ursprünglichen  Form, 
violett  gefärbt.  Die  hellvioletten  Formen  werden  weiter  berücksichtigt  werden. 
Das  Spectrum  eines  hellspangrünen  (Fig.  Via)  Fadens  zeigte  Folgendes: 


HelHgkeits- 
maxinia 

Relative 
Stärke 

Helligkeits-             Relative 
minima                  St&rke 

I  von  \  700  bis  Ende 
II     .    \  648— 655 
IIa     •    X  616^620 

III  •    \  590—600 

IV  — 

4 
4 
5 
3 

I  von  \  660—685             I 

II     •    \63I — 643              2 

IIa     •    \6o5 — 615            4 

III  .    \  570— 580            5 

IV  —                — 

V     .    \  510— 560 
VI     .    \  460— 480 

I 
2 

V     .    X  495— 505            6 
VI     -    X450  bis  Ende     3 

Wenn  wir  dieses  Spectrum  mit  dem  des  violetten  und  braunvioletten 
(Fig.  I,  II)  vergleichen,  so  bemerken  wir  Folgendes:  Helligkeitsminimum  l 
ist  ebenso  stark  wie  in  Fig.  II ,  Minimum  11  dagegen  viel  starker  und  be- 
steht überdiels  aus  zwei  Absorptionsbändern  (11  und  Ha).  Vom  Minimum  III 
war  nur  eine  schwache  Änderung  bei  etwa  X  575  geblieben,  das  ursprüng- 
lich im  Spectrum  der  violetten  Formen  vorhandene  Minimum  IV  fehlt  ganz, 
das  absolute  Helligkeitsmaximum  befindet  sich  im  Grün  und  femer  ist  die 
Absorption  gegen  das  violette  Ende  hin  schwächer. 

Die  Curve  a  (Fig. VI,  Tab.  II,  6 0)  (etwa  1 50  Messungen)  zeigt,  verglichen 
mit  den  ursprünglichen  violetten  Formen  (Fig.  I,  II),  einen  durchschnittlich 
wesentlich  tiefern  Verlauf  im  Roth,  Orange  und  Gelb,  einen  erheblich  höhern 
im  Gelbgrün,  Grün,  Blaugrün  und  Blau.  Das  absolute  Maximum  der  In- 
tensität (80.5  Procent)  liegt  im  äulsersten  sichtbaren  Roth  (etwa  bei  X  710), 
jedoch  ist  es  nicht  ganz  so  hoch  wie  in  den  Curven  I  a,  6  und  11  a,  ft. 
Das  Minimiun  I  bei  etwa  X  675  liegt  sehr  niedrig,  auf  30.3  Procent.  Die 
Steigerung  der  Intensität  von  hier  bis  zum  Maximum  II  bei  etwa  X  645 
ist  relativ  gering  (52.4  Procent).    Von  etwa  X  640  findet  ein  neuer  starker 


Über  dm  Einflufs  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  lel)ender  Oscälarien.     1 9 

Abfall  statt,  der  bei  X  625  zu  einem  zweiten,  sehr  bedeutenden  Minimum 
(36.1  Procent)  führt  (11.  Absorptionsband).  Dann  folgt  neues  steiles  Steigen 
bis  etwa  \6i7  (Maximum  11 0,  52.7  Procent),  darauf  schwaches  Sinken  bis 
auf  48.3  Procent  bei  etwa  X610  (Absorptionsband  II/7),  dann  allmähliches 
Steigen  zu  einem  vierten  Maximum  (Maximum  III)  bei  X  585  (59  Procent) 
und  nach  geringer  Senkung  auf  57  Procent  bei  X  575  steileres  Wachsen, 
um  bei  etwa  X525  im  Grün  ein  sehr  hohes  fünftes  Maximum  (71.2  Procent) 
zu  erreichen.  Darauf  sinkt  die  Intensität  bis  etwa  X495  auf  55.5  Procent, 
wächst  nochmals,  um  bei  etwa  X  480  mit  60.9  Procent  das  sechste  Maxi- 
mum zu  erreichen  und  dann  ziemlich  steil  bis  etwa  X  435  auf  weniger 
als  30  Procent  herabzusinken.  Die  Curve  VI&  stellt  das  Mittel  von  etwa 
600  Messungen  an  vier  verschieden  gefärbten  Fäden  (violett,  hellviolett, 
graugrün  und  hellblaugrün)  aus  den  genannten  Culturen  dar. 

Bei  manchen  Fäden  war  der  Unterschied  der  Färbung  von  jungen  und 
alten  Zellen  ein  ganz  auffallender:  bei  einigen  waren  alle  älteren  Zellen 
stark  violett,  die  jüngeren  dagegen  hellviolett  bis  graublaugrün,  bei  ande- 
ren die  älteren  hell  oder  graublaugrün,  die  jüngeren  hellviolett  gefärbt. 


b)  Versuche  mit  braungelben  Lichtfiltern. 

Das  Glas  der  von  mir  benutzten  braungelben  Petri- Schalen  absorbirte, 
wie  die  Curve  c  Taf.  IV  Fig.  VII  und  Tab.  III  Spalte  3  zeigt,  die  weniger 
brechbaren  Strahlen  bis  zum  Gelbgrün  sehr  schwach,  die  stärker  brech- 
baren, von  etwa  \  560  an,  dagegen  sehr  stark.  Schon  im  Grün  bei  X  500 
war  die  Intensität  auf  weniger  als  20  Procent  gesunken.  Zur  Wirkung 
konnten  also  wesentlich  nur  die  rothen  bis  gelben  Strahlen  kommen. 

Wie  schon  erwähnt,  wurden  die  ersten  Culturen  (zwei)  in  diesen  Schalen 
Ende  November  1901  angesetzt.  Die  im  Laufe  des  März  bis  August  1902 
gezüchteten  entwickelten  sich  fast  sämmtlich  mit  demselben  Erfolge.  Die 
anfangs  violetten  Lager  der  Oscillaria  sahen  nach  i — 2  Monaten  immer 
graugrün  aus.  Die  einzelnen  Stadien  der  Farbenveränderung  waren  bei 
diesen  Culturen  sehr  gut  zu  beobachten.  Zuerst  wurden  die  anfangs  stark 
violetten  Zellen  (Fig.  I)  blafs-  bis  grauviolett  (Fig.  VII  b) ,  dann  graugrün 
(Fig. VII ö),  manchmal  ganz  grau,  dann  hellblaugrün  (Fig. VI)  wie  in  den 
Carminlichtculturen ,  und  endlich  färbten  sich  einige  intensiv  blaugrün  oder 
spangrün  (Fig.  VIII).     Andere  jedoch  behielten  ihre  ursprüngliche  violette 


r>* 


20 


N.  Gaidukov: 


Färbung,  doch  wurden  die  meisten  graugran  gefikrbt.  Neben  0.  mncta, 
welche  aus  mögliehst  reinen  Tellerculturen  übertragen  wurde,  wuchs  immer, 
wenn  auch  nicht  so  stark,   0.  caldariorum  mit. 

Das  Spectrum  der  unter  dem  Einflüsse  des  gelbbraunen  Lichtes  hell- 
violett  gewordenen  Zellen  (Fig.Vüft)  zeigte  folgendes  Verhalten: 


Hdligkeits- 

Relative 

Helligkeits-             Relative 

maxima 

Stärke 

minima                  Stärke 

I  von  \  700  bis  Ende     4 

I  von  X  660 — 685            I 

II     •    \  640 — 655 

3 

II    •    \  617—638            5 

III     •    \  590 — 600 

2 

III     .    \  571—580            3 

IV   .  \  555-561 

5 

IV     .    X  545— 555            4 

V     .    \  520—540 

I 

V     .    X  490— 505            6 

VI    .    \  460— 480 

4 

VI     •    X455  bis  Ende      2 

Der  Unterschied  dieses  Spectrums  von  dem  der  ursprünglichen  vio- 
letten oder  braunvioletten  Farbe  besteht  wesentlich  darin,  dafe  das  dunkle 
Absorptionsband  (III)  bei  X  570  —  580  in  Gelb  und  Gelbgrün  sehr  viel 
schwächer  geworden  ist,  ebenso  das  Band  bei  X  540 — 550  und  bei  X490 
bis  505,  dagegen  erscheint  das  Helligkeitsminimum  II  etwas  starker  und 
breiter,  das  Minimum  I  ebenso  stark. 

Dementsprechend  ist  auch  der  Verlauf  der  Absorptionscurve  (etwa 
150  Messungen)  (Fig.  VII  &)  geändert.  Das  Intensitätsminimum  bei  X  675 
liegt  fast  ebenso  tief  (30.1  Procent)  wie  in  der  Curve  Ha;  im  Orange  läuft 
die  Curve  ebenfalls  durchweg  tiefer  wie  in  den  Curven  I  und  11;  vom 
Gelbgrün  bis  im  Blau  dagegen  merklich  höher.  Die  Intensität  erreicht  im 
Grün  höhere  Werthe  (69.8  Procent  bei  X  525)  als  im  Gelb  (67.2  Procent 
T^i  ^  595)>  während  bei  den  Curven  der  ursprünglichen  Farben  das  Gegen- 
theil  der  Fall  ist. 

Noch  aufi&lliger  sind  diese  Unterschiede  im  Spectrum  der  graugrünen 
Zellen  aus  den  Culturen  im  gelbbraunen  Licht.  Bei  der  directen  Betrach- 
tung (s.  Fig. VII)  zeigt  dieses  Spectrum  folgende Vertheilung  der  Helligkeiten: 


Helligkeits- 
maxima 

Relative 
Stärke 

Helligkeits-             Relative 
ininima                  Stftrke 

I  von  X  700  bis  Ende 
II     «    X  647—655 
II 0     •    X615 — 622 

III  •    X  580— 600 

IV  — 

3 

4 

5 

2 

I  von  X  660 — 685            I 

II     •    X633 — 645            3 

IIa     -    X603 — 615            4 

III  .    X  570— 580            5 

IV  —                 — 

V     •    X  515-550 
VI     -    X  460— 480 

I 
3 

V     .    X  495— 515             6 
VI     •    X  450  bis  Ende      a 

über  den  Einfluß  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  lebender  OsciUarien.    2 1 

Die  spectrophotometrische  Curve  (Fig.VIIa  Tab.  11  7,0)  (150  Messungen) 
zeigt  eine  im  Vergleich  zu  Fig.  VII 6  noch  stärkere  und  noch  gleichmäisiger 
gegen  Grfln  hin  abnehmende  Absorption  im  Orangeroth ,  Orange  und  Gelb ,  bei 
gleich  starker  Absorption  zwischen  B  und  C  (\  675)  und  etwas  schwächerer 
im  Gelbgrün  bis  Blaugrün.  Von  hier  an  bis  gegen  das  violette  Ende  decken 
sich  beide  Curven  ziemlich  genau.  In  der  ganzen  stärker  brechbaren  Hälfte 
des  Spectrums  laufen  sie  absolut  wie  relativ  —  zum  übrigen  Spectrum  '- — 
höher  als  vor  der  Einwirkung  des  gelben  Lichtfilters.  Hiemach  ähneln 
beide  Spectra  dem  der  hellblaugrünen  Zellen  aus  Carminlichtculturen.  Noch 
mehr  nähern  sich  diesen  letzteren  die  Spectra  der  im  braungelben  Lichte 
hellblaugrün  oder  spangrün  gewordenen. 

Die  relativ  geringe  Sättigung  dieser  vier  Färbungen  beruht  anschei- 
nend hauptsächlich  auf  der  geringeren  Ausbildung  der  Absorptionsmaxima 
in  den  helleren  mittleren  Partien  des  Spectrums  zwischen  Orangeroth  und 
Blau,  besonders  derer  im  Gelb.  Die  erste  Veränderung  besteht  in  der  Ab- 
schwächung  der  vom  violetten  Farbstoffe  herrührenden  starken  Absorption 
im  Grelb.  Dazu  tritt  eine  Verstärkung  der  Absorption  im  Orange  und  Orange- 
roth, welche,  wie  ich  in  Folgendem  zeigen  werde,  eine  sehr  bedeutende 
werden  kann. 

Im  Spectrum  der  durch  lange  Einwirkung  braungelben  Lichtes  intensiv 
spangrün  gewordenen  Zellen  (Fig.  VIII),  welches  dem  vorigen  im  grofsen 
und  ganzen  ähnlich  ist,  war  Orange  und  Orangeroth  relativ  stärker  ge- 
schwächt, das  Helligkeitsmaximum  n  im  Roth  bei  etwa  X620 — 640,  be- 
sonders bei  der  Betrachtung  im  Gitterspectrum  anscheinend  das  dunkelste. 
Näheres  ergibt  die  folgende  Tabelle. 


Helligkeits- 

Relative 

Helligkeits-             Relative 

maxima 

Stärke 

minima                  Stärke 

I  von  \  700  bis  Ende 

3 

I  von  \  660 — 685            3 

II     .    \  650— 655 

4 

II     •    \  621—648             I 

IIa     •    \  615— 620 

5 

IIa     •    \6o2 — 615             3 

III     •    \  580— 600 

3 

III     .    \  570— 580            5 

IV                  — 

— 

IV                  —                 — 

V     •    \  510—560 

I 

V     .    \498— 5«5            6 

VI    -    \  460— 485 

3 

VI     •    \45o  bis  Ende      4 

Die  spectrometrische  Untersuchung  (Fig.  Villa)  belegt  zahlenmäßig  die 
erheblich  stärkere  Absorption  im  Orangeroth  und  Orange.  Das  Absorptions- 
maximum n  bei  X  625  liegt  selbst  etwas  tiefer  (32.7  Procent)  als  das  im 
Roth  bei  X  675  (35.6  Procent).    Auch  in  der  Curve  Fig.VIIIft,  welche  die 


22  N.  Gaidukov: 

Mittel  aus  Messungen  (etwa  750)  an  fünf  verschiedenen  (violett,  hellviolett, 
graugrün,  hellblaugrün,  intensiv  spangrün)  denselben  Lichtculturen  entstam- 
menden Zellen  gibt,  ist  die  relativ  sehr  starke  Absorption  im  ganzen  Orange 
noch  sehr  deutlich  ausgesprochen. 


c)  Versuche  mit  grünen  Lichtfiltern. 

Für  die  Isolirung  der  grünen  Strahlen  benutzte  ich  eine  Kupferchlorid- 
lösimg.  Die  von  mir  benutzte  ziemlich  concentrirte  Lösung  erschien  rein 
grün.  Wie  Curve  c  (Fig.  IV,  Taf.  II  und  Tab.  HI  Spalte  4)  zeigt,  liefe  sie 
das  Roth  von  etwa  700  an  nicht  merklich  durch  und  absorbirte  auch  das 
übrige  Roth  und  Orange  sehr  stark.  Noch  im  Anfang  des  Gelbgrün  bei 
^565  betrug  die  IntensitSt  erst  37.5  Procent.  Von  hier  an  stieg  sie  steil, 
um  im  Grünen  zwischen  X  545  und  500  das  absolute  Maximum  (über  68  Pro- 
Cent)  zu  erreichen,  dann  sinkt  sie  gegen  das  violette  Ende  wieder  stärker 
(35  Procent  bei  X  440). 

In  diesem  grünen  Lichte  wurden  von  Mai  bis  August  1902  sechs  Cul- 
turen  mit  beiden  Nährboden  angestellt.  Die  P'ntwickelung  fand  besonders 
in  einer  Cultur  ziemlich  stark  statt.  Nach  etwa  zwei  Wochen  konnte  man 
schon  eine  Farbenveränderung  beobachten.  Das  Lager  war  dann  ebenso 
wie  hinter  blauem  Glase  röthlichviolett  bis  braun  gefärbt.  Im  Mikroskop 
zeigten  nur  wenige  Fäden  violette,  die  meisten  gelbbraune  (Fig.  III),  einige 
auch  röthlichorange  (Fig.  IV)  Färbung. 

0.  caldariorum  fehlte  in  diesen  Culturen  ganz.  In  den  Agar-Agar- 
culturen  der  0.  caldariorum  dagegen ,  welche  ich  hinter  demselben  Lichtfilter 
zu  gleicher  Zeit  cultivirte  und  welche  aus  Tellerculturen  übertragen  wurde, 
in  denen  0.  sancta  fast  ganz  fehlte,  wuchs  die  letztere,  die  braun 
war,  ebenso  stark  wie  die  graugrün,  hellviolett,  violett  und  dann 
braun  gewordene  O.caldarioruTn.  Solche  Culturen  wurden  anfangs  August 
aus  dem  Lichtfilter  entfernt  und  in  gewöhnliches  weifses  Licht  gebracht. 
Bis  jetzt  (November  1902)  wachsen  diese  Culturen  in  weifsem  Licht  sehr 
gut  und  bei  beiden  Formen  entwickeln  sich  reichlich  wie  die  typi- 
schen blaugrünen  und  violetten,  so  auch  braune  Zellen. 

Diese  braune  Färbung  wird  weiter  bei  der  Beschreibung  der  Culturen 
im  blauen  Glase  berücksichtigt  werden.  Das  Spectrum  der  röthlieh- 
orangen  Zellen  (Fig.  IV)  zeigte  folgende  llelligkeitsvertheilung: 


•  •  

über  den  Einflufs  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  lebender  Oscillarien.    23 


Helligkeits- 
maxima 

Relative 
Stärke 

Helligkeits-             Relative 
minima                  Stärke 

I  bei  \  690 

iji    •  X  590— 650 

IV    .    \  556— 560 

3 
I 

4 

I  bei  \  665—685            3 
II                  —                 — 

III  •    X  561— 575            4 

IV  •    \  540— 555            I 

V    .   \  520— 530 
VI    •    \47o — 480 

2 

3 

V    .    \  490— 505            4 
VI    •    \  460  bis  Ende      2 

Das  Bild  dieses  Spectrunis  unterscheidet  sich  von  dem  der  violetten 
Zellen  dadurch  aufißUlig,  dals  das  Helligkeitsminimum  11  im  Orange- 
roth ganz  fehlt  und  das  Minimum  IV  dunkler  ist  als  das  Mini- 
mum m. 

Die  in  Curve  a  Fig.  IV  graphisch  verzeichneten  Ergebnisse  der  (etwa  150) 
spectrometrischen  Messungen  lehren,  dals  im  äufsersten  sichtbaren  Roth 
die  relative  Intensität  des  durchgelassenen  Lichtes  sehr  grofs  ist 
(94.5  Procent  bei  \  710)  und  zwar  viel  höher  als  in  allen  anderen 
Fällen,  und  dafs  sie  auch  bei  X675  nicht  so  tief  (45.2  Procent)  sinkt  wie 
sonst.  Sie  steigt  gegen  Orange  hin  sehr  rasch,  um  bei  etwa  X  620  ein 
zweites  sehr  bedeutendes  Maximum  (70.3  Prorent)  zu  erreichen.  Die  dem 
zweiten  Helligkeitsmaximum  entsprechende  Senkung  im  Orange,  welche 
namentlich  bei  den  blaugrünen  (Fig.  VIII  a ,  b)  und  ähnlichen  Formen  so  be- 
deutend ist,  fehlt  hier  gänzlich.  Von  etwa  X  615  an  sinkt  die  Intensität 
langsam  bis  X  595 ,  von  hier  steil  herab  auf  ein  sehr  niedriges  Minimum 
(34.2  Procent)  bei  etwa  X  565,  d.  h.  etwas  näher  zum  violetten  Ende  wie 
bei  den  violetten  Zellen,  sinkt  dann  weiter  herab  auf  29.3  Procent  bei  etwa 
X  550  imd  erhebt  sich  danach  im  Grün  nur  bis  zu  mäfsiger  Höhe  (42  Pro- 
cent bei  X  520).  Auch  weiterhin  im  Grünen  und  Blau  bleibt  sie  erheblich 
niedriger.  Im  ganzen  sind  also  die  weniger  brechbaren  Strahlen  sehr  wenig, 
die  stärker  brechbaren  vom  Gelbgrün  sehr  stark  geschwächt.  Wesentlich 
dasselbe  zeigt,  nur  etwas  weniger  ausgeprägt,  die  Curve  Fig.  IV 6,  welche 
das  Mittel  aus  etwa  6cx)  Messungen  an  je  einem  violetten ,  braunvioletten, 
braunen  und  röthlich orangen  Faden  derselben  im  grünen  Licht  gezogenen 
Cultur  wiedergibt. 

Wie  in  den  vorigen  Fällen ,  fieng  auch  hier  der  Färbungsunterschied 
bei  den  jüngeren  Zellen  an.  In  vielen  Fällen  konnte  man  beobachten,  dals 
bei  älteren  Zellen  das  alte  Chromophyll  dasselbe  blieb  und  sich  bei  den 
jüngeren  braunes  entwickelte. 


24  N.  Gaidukov: 

d)  Versuche  mit  blauen  Liehtfiltern. 

Für  die  Isolirung  der  blauen  Strahlen  benutzte  ich  Kupferoxydammoniak 
und  Schalen  aus  blauem  Glase.  Im  Spectrum  der  letzteren  (Cmrve  c  Fig.  III 
und  Tab.  in,  Spalte  5)  wurden  weitaus  am  stärksten  die  orangen  und  gelben 
Strahlen  absorbirt,  die  äufseren  rothen,  wie  auch  die  grünen  wurden  besser, 
die  blauen  und  violetten  vollkommen  durchgelassen. 

Die  ersten  Culturen  wurden  Ende  November  1901  angesetzt,  später 
noch  vier  mit  den  oben  beschriebenen  Nährböden,  und  zwar  von  März  bis 
Juni  1902.  Die  Entwickelung  liefs  nichts  zu  wünschen  übrig,  war  manch- 
mal geradezu  auffallend  stark.  Die  Färbung  unterschied  sich  nicht  merklich 
von  der  der  Culturen  in  grünem  Lichte:  das  Lager  sah  braun  aus,  die 
Zellen  im  Mikroskop  braun  oder  (die  meisten)  gelbbraun,  viele  röthlich- 
orange,  braunviolett  und  violett.  0.  caldariorum  fehlte  in  diesen  Culturen 
gänzlich. 

Das  Spectrum  der  gelbbraunen  Zellen  (Fig.  III)  zeigte  folgende 
Helligkeitsvertheilung : 

Helligkeits-  Relative  Helligkeit«-  Relative 

maxiina  Stärke  minima  Stärke 

I  von  \  690  bis  Ende       4  I  von  \  660 — 685  i 


II  •  \640 — 655  2  H 

III  •  \  590—618  I  III 

IV  .  \  556—559  5  IV 
V  .  \  515— 525  3  V 

VI  .  \  470— 480  4  VI 


\  620—630  5 

A^  560— 575  4 

^540—555  3 

^.  490—508  3 

\  465  bis  Ende  2 


Dieses  Spectrum  unterscheidet  sich  von  dem  in  Fig.  IV  abgebildeten  des 
röthlichoraiigenen  Fadens  dadurch,  dafs  das  erste  Absorptionsband  (bei 
X675)  dunkler,  dafs  noch  Spuren  des  Helligkeitsminimums  11  des  ursprüng- 
lichen Spectrums  der  violetten  Zellen  (bei  X  620 — 630)  vorhanden  sind 
und  die  Schwächung  im  blauen  Theil  bedeutender  erscheint. 

Die  Resultate  der  photometrischen  Messung  (etwa  1 50  Messungen),  welche 
die  Curve  a  Fig.  III  und  Tab.  I,  3a  wiedergibt,  sind  hiermit  wie  erwartet  in 
bester  Übereinstimmung.  Die  Absorption  ist  sehr  gering  im  äulsern  Roth 
(i  =  82  Procent  bei  \  710),  sehr  stark  zwischen  B  und  C  (i  =  32.5  Pro- 
cent bei  X675),  gering  im  Orangeroth  und  Orange  (i  =  65.5  Procent  bei 
X645,  69  Procent  bei  X615),  zeigt  eine  geringe  Zunahme  bei  X  645 — 625 
(i  =  64.4  Procent),  darauf  eine  beträchtliche  Abnahme  im  Orange  und  Grelb 
(bei  X  595  I  =  72.8  Procent).     Steil  sinkt  dann  die  Intensität  auf  ein  Mini- 


Über  den  Einflufs  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  lebender  Oscillarien.     25 

mum  (39.8  Procent)  bei  ^565,  nach  kleiner  Erhebung  (auf  40.3  Procent 
bei  X555)  weiter  herab  auf  33.5  Procent  bei  X545,  ^™  auch  weiterhin 
gegen  das  Violett  hin  auf  tieferer  Höhe  zu  bleiben  als  in  allen  anderen 
Fällen  (21.5  Procent  bei  X425).  Schon  bei  X495  ist  sie  tiefer  gesunken 
(31.1  Procent)  als  im  Roth  bei  X675  (45.2  Procent).  Also  im  ganzen  sehr 
starke  Absorption  des  Grün  bis  Violett,  sehr  geringe  Absorption  des  Orange, 
Gelb  und  äufsersten  Roths.  Dieser  Charakter  zeigt  sich  auch  noch  in  Curve  6 
Fig.  in,  welche  die  Mittelwerthe  der  Messungen  (etwa  600)  an  vier  ver- 
schieden —  gelbbraun,  röthlichorange,  braunviolett  und  violett  —  gefärbten 
Fäden  aus  Blaulichtculturen  graphisch  darstellt. 

Die  Entwickelung  der  Oscillarien  hinter  Kupferoxydammoniak  war 
übrigens  sehr  schwach.  Die  Culturen  giengen  schon  nach  zwei  Wochen 
zu  Grunde. 

e)  Versuche  mit  violetten  Lichtfiltern. 

Die  von  mir  benutzte  Anilinviolettlösung  liefs,  wie  Curve  c  Fig.V 
und  Tab.  in,  5  c  zeigt,  die  blauen  Strahlen  bei  X450  ganz  durch,  die  äulseren 
rothen  von  etwa  X650  an  recht  gut,  absorbirte  dagegen  die  orangen  und 
gelbgrünen,  namentlich  aber  die  gelben  Stralilen  sehr  stark. 

Es  wurden  in  diesem  Lichte  vom  März  bis  Juli  sechs  Culturen  auf 
beiden  Nährböden  gezogen.  O.sanda  wuchs  nur  schwach,  meist  herrschte 
die  blaugrüne  0.  caldariorum  vor.  Nach  einem  Monat  wurden  in  einer  Agar- 
Agarcultur  die  Fäden  der  0.  sancta  hellviolett  (Fig.VIIft),  graugrün  (Fig.VIIa) 
und  graubläulich  (Fig.V)  gefunden,  den  aus  den  Culturen  in  den  braun- 
gelben Schalen  hervorgegangenen  ziemlich  ähnlich.  Das  Spectrum  eines 
graubläulichen  Fadens  (Fig.V)  wies  folgende  Helligkeitsverth eilung  auf: 


Helligkeita- 

Relative 

Helligkeit«-             Relative 

maxima 

Stärke 

minima                  St&rke 

I  von  \  700  bis  Ende 

4 

I  von  \  660 — 685             I 

II     •    \  645—655 

3 

II     •    \  622— 635            5 

IIa     •    \6i5 — 620 

5 

IIa     •    \  605— 615            6 

III     •    \  590—600 

2 

III     .    X  563— 575            5 

IV    .  \  556-559 

5 

IV     .    X  540— 555            3 

V     .    \5>5— 535 

I 

V     .    X  490— 505            4 

VI     .    \  46s —480 

4 

VI     •    \  460  bis  Ende       2 

Dieses  Spectrum  ist  den  Spectren  der  im  rothen  und  gelbbraunen  Lichte 
gewachsenen  hellvioletten  und  graugrünen  Zellen  ähnlich,  doch  sind  zwei 
Helligkeitsminima  im  Orange  bei  X625  und  \6io  und  auch  im  Gelbgrün 

Phys.  Abh.  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter.   1902.    F.  4 


26  N.  Gaidukov: 

^^i  ^575  ^»d  X  550  vorhanden,  und  zwar  ist  das  bei  X  550,  wie  bei  den 
im  grünen  und  blauen  Lichte  gewachsenen  Zellen,  starker  als  das  bei  X  575. 
Die  Verdunkelung  im  Blau  erscheint  auch  intensiver. 

Der  Verlauf  der  spectrophotometrischen  Curve  ist  aus  Fig.  Va  und 
Tab.  II,  5«  zu  ersehen.  Er  ähnelt  dem  der  Curven  Fig.VIIa  und  6,  zeigt 
aber  relativ  stärkere  Absorption  der  kurzwelligen  Strahlen  von  grün  bis 
violett.  In  diesem  letztern  Punkte  ähnelt  er  auch  dem  der  Curven  Fig.  Jüa 
und  IVö  der  im  blauen  bez.  grünen  Lichte  gezogenen  bräunlichen  und  röth- 
liehen  Formen.  In  Fig.Vfi  ist  noch  das  Mittel  aus  etwa  450  Messungen 
an  drei  —  violetten,  bläulich  grünen  und  graugrünen  —  Fäden  aus  diesen 
Culturen  im  violetten  Lichte  graphisch  wiedergegeben.  Im  Ganzen  nimmt 
die  Curve  den  gleichen  Verlauf  wie  Curve  Va.  Doch  ist,  wie  leicht  erklär- 
lich, die  Absorption  im  Orange  etwas  schwächer,  im  Gelb,  Gelbgrün  und 
Grün  etwas  stärker,  gegen  das  Violett  hin  wieder  etwas  schwächer  als  in 
der  Curve  der  einzelnen  Zelle  Fig.Va. 


Die  Versuche  mit  der  blaugrünen  0.  caldariorum ^  welche  ähnliche 
Resultate  ergaben,  werde  ich  in  meiner  nächsten  Abhandlung  berück- 
sichtigen. 


IV.  Znsammenstellüiig  und  Besprechung  der  Versnchsergebnisse. 

Die  im  Vorhergehenden  verzeichneten  Thatsachen  geben  auf  die  im 
Eingang  unserer  Untersuchung  gestellte  Frage  eine  unzweideutige  Antwort. 
Es  zeigt  sich,  dafs  imter  dem  Einflufe  farbigen  Lichts  das  Chromophyll 
lebender  Fäden  von  Osdllatoria  sancta  (und  caldariorum)  im  allgemeinen 
seine  Farbe  ändert.  Die  Farbenänderung  tritt  innerhalb  der  Zeit  der  von 
uns  gewählten  Versuchsdauer  —  einige  Wochen  bis  Monate  —  zwar  nicht 
bei  allen  Zellen  nachweisbar  ein,  aber  immerhin  bei  einer  so  grofsen  Zahl 
von  Individuen  in  so  aufifalliger  Weise ,  dafe  man  von  einem  sichern  Er- 
folge reden  kann  und  nur  die  Einschränkung  hinzugefügt  werden  muls, 
dafs  au&er  der  Einwirkung  des  farbigen  Lichts  noch  gewisse  andere  Um- 
stände för  das  Zustandekommen  der  Farbenveränderung  mitwirken  müssen. 
Unter  diesen  scheint  das  Alter  der  Zellen  eine  Rolle  zu  spielen»  denn  es 


Über  den  Einflufs  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  lebender  Oscillarien.    27 

wechseln  häufig  junge  in  gröfserer  Zahl  und  rascher  die  Färbung,  als  alte. 
Inzwischen  kamen  doch  auch  Fälle  vor,  wo  unter  nach  vielen  Tausenden 
zählenden  Fäden  einer  Cultur  nur  vereinzelte  die  ursprüngliche  Farbe  be- 
hielten. Todt  konnten  diese  letzteren  nicht  sein,  denn  es  bewegten  sich 
manche  derselben  noch  ganz  munter.  Es  mufs  also  einstweilen  dahin- 
gestellt bleiben,  worauf  die  individuellen  Unterschiede  in  der  chromati- 
schen Reaction  beruhen. 

Wichtiger  als  die  blofse  Thatsache  der  Farbenveränderung  ist  die 
von  uns  gefundene  Art  der  Farben  Veränderung.  So  mannigfach  die 
Färbungen  sind,  die  namentlich  0.  sanda  in  verschiedenfarbigem  Licht 
annehmen  kann,  so  beherrscht  doch  alle  diese  Änderungen  unverkennbar 
ein  Gesetz:  die  Farbenänderung  hängt  von  der  Farbe  des  ein- 
wirkenden Lichts  aby  und  zwar  im  allgemeinen  in  dem  Sinne,  dafs 
das  Absorptionsvermögen  des  Chromophylls  für  die  in  der  ein- 
wirkenden Strahlung  dominirenden  Wellenlängen  zunimmt,  für 
die  relativ  geschwächten  abnimmt.  Es  mag  dieses  Gesetz  nach  dem 
Vorschlag  von  Prof.  Engelmann  das  der  complementären  chromati- 
schen Adaptation  heifsen.  Dieses  Gesetz  spricht  sich  in  vielen  Fällen 
(f&r  die  nicht  Farbenblinden)  ohne  weiteres  anschaulich  darin  aus ,  dafs 
die  ursprüngliche  Farbe  mehr  und  mehr  complementär  zu  der 
des  einwirkenden  Lichts  wird.  So  veranlafete,  wie  unsere  Tafeln  ver- 
anschaulichen, die  Einwirkung  von 

rothem  Licht  das  Entstehen  grünlicher  Färbung  (Fig.  VI), 
gelbbraunem       »         »  »  blaugrüner        »         (Fig.VU,  VHI), 

grünem       »         »  »  röthlicher         »         (Fig.  IV), 

blauem      »         »  »  braungelber      »         (Fig.  III). 

Aber  auch  da,  wo  die  blofse  Betrachtung  der  Farbe  mit  unbewaflFhetem 
Auge  nicht  genügt,  um  die  Änderung  der  relativen  Absorption  sicher  zu 
beurtheilen,  gibt  der  Anblick  des  Absorptionsspectrums  (neben  dem  Ver- 
gleichsspectrum des  Nernst-Lichts)  häufig  Aufschlufe.  In  allen  Fällen  aber 
liefert  —  auch  fOv  Farbenblinde  —  die  spectrophotometrische  Messung 
sichere  Auskimft,  indem  sie  für  jede  Wellenlänge  den  relativen  Betrag 
der  Absorption  zahlenmäfsig  festzustellen  gestattet. 

Bei  der  vergleichenden  Betrachtung  der  Helligkeitsvertheilung  an  den 
Absorptionsspectren  der  verschiedenen  unter  Einflufs  farbigen  Lichts  erzeug- 
ten  Chromophylle  bemerkt  man,  dafs  die  frühesten  und  auf5ßQligsten  Ande- 


28  N.  Gaidukov: 

rungen  im  allgemeinen  in  dem  mittlem  Theil  des  sichtbaren  Spectnims 
etwa  von  Orangeroth  bis  Grün  stattfinden.  Die  in  diesem  Theil  sichtbaren 
Absorptionsbänder  und  Verdunkelungen  sind  in  ihrer  Intensität  sehr  variabel, 
verglichen  mit  dem  Chlorophyllband  im  Roth  zwischen  B  und  (7  und  der  End- 
absorption im  Violett.  Man  vergleiche  beispielsweise  die  Spectralbilder 
Fig. in,  IV  einerseits  mit  VI,  Vn,  VIII  andererseits:  im  Spectrum  Fig. III 
der  durch  Einwirkung  blauen  Lichts  braungelb  gewordenen  Zellen  eine 
aufiMlige  Schwächung  im  Gelbgrün  und  Grün,  ebenso  —  obschon  im  ein- 
zelnen etwas  abweichend  —  im  Spectrum  IV  der  durch  grünes  Licht  rosen- 
röthlich  gewordenen  Zelle.  Dagegen  relativ  gro&e  Helligkeit  in  denselben 
Wellenlängenbezirken  bei  den  Spectren  der  durch  gelbbraunes  bez.  rothes 
Licht  grünlich  (Fig. VI),  graugrün  (Fig. VII)  oder  spangrün  (Fig.Vm)  ge- 
wordenen Fäden. 

Vergleicht  man  nun  gar  die  spectrometrischen  Curven,  so  lä&t  sich 
der  quantitative  Nachweis  streng  und  bis  ins  einzelne  ftlhren,  dafs  den 
durch  die  Farbenfilter  eingeführten  Änderungen  in  der  relativen  Intensität 
der  verschiedenen  Spectralregionen  im  allgemeinen  gleichsinnige  Änderungen 
des  Absorptionsvermögens  des  Chromophylls  entsprechen,  also,  dafe  die 
Absorption  für  diejenigen  Wellenlängen  wächst,  deren  relative  Intensität 
im  einwirkenden  Lichte  durch  die  selective  Absorption  des  Lichtfilters  erhöht 
ist  und  umgekehrt  abnimmt  für  die,  deren  relative  Lichtstärke  vermindert 
ist.  Man  betrachte  beispielsweise  den  Verlauf  der  Curven  in  Fig.  EI,  IV 
einerseits,  in  Fig.VI,  VE,  VIH  andererseits  imd  vergleiche  ihn  mit  dem 
Lauf  der  entsprechenden  Curven  in  Fig.  I  und  11  (ursprüngliche  Farbe). 

In  Fig.  in,  im  einwirkenden  blauen  Licht  (Curve  c),  sehr  starke 
Schwächung  des  Orangegelb  und  Gelbgrün,  relativ  bedeutende  Zunahme 
der  grünen  und  blaugrünen  Strahlung,  dementsprechend  Intensitätscurve  a 
(braunes  Chromophyll)  in  Orange  und  Gelb  sehr  hoch,  in  Grün  und  Blau  u.s.  w. 
sehr  niedrig  verlaufend. 

In  Fig.  IV  im  einwirkenden  grünen  Licht  (Curve  c)  starke  Schwächung 
im  Roth  und  Orange,  dementsprechend  relativ  sehr  hohe  Ordinatenwerthe 
in  der  Intensitätscurve  a  in  denselben  Theilen  des  Spectrums;  sehr  hohen 
Verlauf  der  Curve  c  im  Grün,  ebenso  im  Grün  bedeutend  gegen  la — Ha 
niedrigere  Ordinatenwerthe  der  Curve  a. 

In  Curve  Fig.  YIc  des  einwirkenden  rothen  Lichts  umgekehrt  relativ 
sehr  hohe  Ordinatenwerthe  vom  Roth  bis  ins  Orange,  in  derselben  Strecke 


Über  den  Einfluß  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  lebender  Osciüarien.    29 

sehr  erniedrigte  Ordinatenwerthe  von  Curve  a  (grün  gewordenes  Chromo- 
phyll).  Sehr  tiefer  Verlauf  von  Curve  c  im  Grelbgrün,  Grün  u. s.w.;  sehr 
hoher  Verlauf  von  Curve  a  im  Grelbgrün,  Grün,  verglichen  mit  \a  und  Ha. 

In  Curve  Fig.  VE  c  (braungelbes  Licht)  sehr  hohe  Ordinatenwerthe  im 
Roth,  Orange  und  Gelb,  sehr  niedrige  im  Grün  und  Blau,  dementsprechend 
relativ  tiefer  Verlauf  der  Intensitätscurven  Vlla  und  Villa  in  Roth  und 
namentlich  in  Orange  imd  Gelb ,  aber  Erhöhung  der  Ordinatenwerthe  über 
die  Norm  im  Grün  und  Blau. 

Es  ist  für  unsem  Zweck  vorläufig  nicht  erforderlich,  diese  quanti- 
tativen Beziehungen  im  einzelnen  weiter  zu  verfolgen  und  etwa  durch 
Berechnung  und  Vergleichung  von  Localconstanten  (J.  Reinke)  zu  studiren. 
So  wünschenswerth  und  lohnend  diese  Arbeit  vielleicht  später  werden  möge, 
zur  Begründung  und  Sicherung  des  Gesetzes  der  complementären  chroma- 
tischen Adaptation  genügen  die  vorstehenden  Ausfuhrungen.  Zudem  liefern 
unsere  Curven  und  die  im  Anhang  beigefügten  Zahlentabellen  die  zu  solchen 
Berechnungen  erforderlichen  Daten  in  genügender  Menge.  Nur  über  den 
Process  der  complementären  Adaptation  und  seine  ökologische  Bedeutung 
sei  noch  Einiges  bemerkt. 

Es  unterscheidet  sich  der  von  uns  nachgewiesene  Vorgang  principiell 
von  allen  bisher  bekannten  Wirkungen  farbigen  Lichtes  auf  körperliche 
Farben'  dadurch,  dals  bei  den  letzteren  die  Farbe  des  beleuchteten  — 
leblosen  oder  lebendigen  —  Körpers  zu  der  des  einwirkenden  Lichts  nicht 
mehr  oder  weniger  complementär,  sondern  vielmehr  ähnlicher  oder  gleich 
wird.  Hier  handelt  es  sich  also  um  einen  entgegengesetzt  gerichteten  Vor- 
gang, den  man  als  chromatische  Assimilation  bezeichnen  könnte. 

An  die  zahlreichen ,  bei  lebenden  Organismen  vorkommenden  Fälle  von 
Farbenänderung  durch  farbiges  Licht  schliefst  sich  aber  unser  Vorgang  der 
complementären  chromatischen  Adaptation  doch  insofern  an,  als  in  beiden 
die  Farbenänderung  nicht  einfach  auf  einer  directen,  mechanischen  (im 
weitesten  Sinne)  Wirkung  des  Lichts  auf  die  farbige  Substanz  beruht, 
sondern   der  Vermittelung  lebendigen  Zellplasmas,   also   eines  physiolo- 


^  Eine  gute  Zusammenstellung  und  kritische  Behandlung  der  hierher  gehörigen  That- 
sachen,  auf  die  Hr.  Geh.  Rath  E.  War  bürg  uns  aufmerksam  zu  machen  die  GQte  hatte, 
findet  sich  in  der  Abhandlung  von  O.Wiener,  Farbenphotographie  duitsh  Korperfarben 
und  mechanische  Farbenanpassung  in  der  Natur.  Ann.  d.  Phys.  u.  Chemie.  Neue  Folge. 
Bd.  55,  1895,  S.  225  — 281. 


30  N.  Gaidukov: 

gischen  Processes,  bedarf.  Weder  in  todten  Zellen  noch  in  Lö- 
sung tritt,  wie  ich  fand  und  spater  genauer  darlegen  werde,  eine  com- 
plementäre  Farbenveränderung  der  Chromophylle  unserer  Os- 
cillaria  ein. 

Eine  nähere  causale  Zergliederung  des  Vorgangs  erscheint  einstweilen 
noch  nicht  möglich.  Dazu  würde  zunächst  wohl  erforderlich  sein,  dafe 
man  die  chemische  Natur  der  Chromophylle  der  Oscillarien  und  die  phy- 
siologischen und  chemischen  Bedingungen  ihres  Auf-  und  Abbaues  kennte. 
Hierüber  weifs  man  aber  selbst  bei  dem  am  weitesten  verbreiteten  assi- 
milatorisch wirksamen  Farbstoff,  dem  Chlorophyll,  trotz  eifrigster,  vielsei- 
tigster Bemühungen  sehr  wenig  Brauchbares.  Jedenfalls  besitzen  die  Chloro- 
plasten  im  allgemeinen  nicht  wie  das  Plasma  unserer  Oscillarien  die  Fähige 
keit,  bei  Änderung  der  Farbe  des  einwirkenden  Lichts  andere,  assimi- 
latorisch zweckmässiger  gefärbte  Chromophylle  zu  bilden.  Fast  immer 
scheint  es  sich  nur  um  eine  quantitative  Beeinflussung,  um  Bildung  bez. 
Zerstörung  von  mehr  oder  weniger  Chlorophyll  zu  handeln.  Andererseits 
ist  es  wenig  wahrscheinlich,  dafs  die  Erscheinung  der  wenig  complemen- 
tären  chromatischen  Adaptirung  nur  auf  die  wenigen  von  uns  untersuchten 
Formen  beschränkt  sein  sollte.  Vermuthlich^  finden  sich,  wenigstens  unter 
den  im  Meere  lebenden  chromophyllhaltigen  Pflanzenformen,  auch  wohl 
den  höher  organisirten,  noch  andere,  denen  jene  Fähigkeit  zukommt.  Denn 
die  im  Meere  lebenden  Arten  sind  schon  durch  die  Gelegenheit  zu  sehr 
ungleicher  Tiefenvertheilung  der  Möglichkeit  bedeutender  und  dauernder 
Farbenänderung  des  einwirkenden  Lichts  ausgesetzt,  was  bei  den  in  der 
Luft  lebenden  Pflanzen  im  allgemeinen  nicht  der  Fall  ist. 

Eine  andere  wichtige  Frage  erscheint  aber  schon  jetzt  der  Lösimg 
zugänglich.  Es  ist  die  Frage,  wie  sich  die  durch  Einwirkung  farbigen 
Lichts  complementär  adaptirten  Zellen  verlialten,  wenn  sie  nachträglich 
wieder  andersfarbigem  Licht  ausgesetzt  werden.    Unsere,  allerdings  noch 


^  Die  Beobachtungen  von  OUmans  (I.e.  Sep.-Ahdr.  p.  76  —  89)  an  Rhodomela  sub- 
fusca  und  Bolysiphonia  ni grescens  scheinen  diefs  schon  anzudeuten,  obgleich  der  Autor  die  von 
ihm  unter  farbigem  Licht  beobachteten  Farben» nderimgen  jener  Pflanzen  nur  auf  die  •lleliig- 
keits«- Unterteil iede  des  einwirkenden  Lichts  zurfickfuhren  zu  milssen  glaubt  und  also  darin 
keine  Stutze  fiir  die  Engel  man  nasche  Auffassung  finden  kann.  Dafs  die  absolute  Energie 
der  Stralilung  mit  in  B«*trai*lit  kommen  wird,  erscheint  unzweifelhaft.  Es  ist  sogar  denkbar, 
dafs  durch  gewaltige  Steigerung  der  Intensität  monochromatischen  Lichts  von  gewisser  Wellen- 
länge sich  derselbe  Effect  wie  durch  schwaches  weifses  erreichen  lassen  wird. 


TJber  den  Einflufs  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  lebender  Oscülarien.    31 

spärlichen  Beobachtungen  an  0.  saneta  und  caldariorum  zeigen,  dals  die 
einmal  unter  Einflufs  farbigen  Lichts  künstlich  erzeugte  neue 
Färbung  und  Farbstofferzeugung  sich  auch  nach  Rückversetzung 
der  Fäden  in  weifses  Licht  monatelang  weiter  erhalten  kann\ 
und,  wie  es  scheint,  nicht  blofs  in  denselben  Zellen,  in  denen  die  Farben- 
änderung früher  erzeugt  war,  sondern  —  was  besonders  wichtig  —  auch 
in  jüngeren,  von  diesen  abstammenden  Zellgenerationen,  welche  dem 
farbigen  Licht  gamicht  ausgesetzt  waren.  Bestätigt  sich  diels  —  und 
wir  behalten  uns  weitere  expeiimentelle  Verfolgung  dieser  Fragen  vor  — , 
so  würden  wir  hier  einen  neuen  überaus  schönen  experimentellen  Be- 
weis für  die  Vererbung  erworbener  Eigenschaften  besitzen. 

Vielleicht  dürfte  schon  das  häufige  und  dauernde  Vorkommen  rother 
und  gelber  Algen  in  der  Oberfläche  des  Meeres  u.  s.  w.,  imter  dauerndem 
Einflufis  weifsen  Tageslichts,  im  Sinne  eines  solchen  Beweises  zu  ver- 
werthen  sein.  Denn  es  wäre  ja  möglich,  dafs  diese  an  der  Oberfläche 
lebenden  Individuen  ihre  rothe  bez.  gelbe  Färbung  von  Vorfahren  ererbt 
hätten,  welche  dieselbe  einst  in  gröfseren  Tiefen,  unter  dem  Einfluis  des 
dort  herrschenden  grünen  bez.  blauen  Lichts,  erwarben.  Dafs  das  nicht 
seltene  Vorkommen  rother  Formen  an  der  Oberfläche  des  Meeres  keinen 
Einwand  gegen  die  Erklärung  der  ungleichen  Tiefenvertheiluiig  der  ver- 
schiedenfarbigen Algen  aus  der  selectiven  Absorption  des  Wassers  bildet, 
hat  Prof.  Engelmann  schon  früher  (1882)  betont.  Im  weifsen  Tageslicht 
sind  ja  gleichfalls  die  für  Bildung  des  rothen  Chromophylls  und  damit  fiir 
die  Eohlenstoffassimilation  der  rothen  Zellen  wichtigsten  der  gelbgrünen 
und  grünen  Strahlen  sehr  reichlich  vertreten  und  sogar  von  relativ  sehr 
grofser  Energie.  Es  besteht  also  zunächst  kein  Grund,  weshalb  die  Zellen 
aufhören  sollten,  denselben  Farbstoff  wie  bisher  weiterzubilden.  Dieselben 
Betrachtungen  gelten  mutatis  mutandis  für  die  gelbes  Chromophyll  ent- 
haltenden Formen,  die  ja  auch  keineswegs  auf  grofse  Wassertiefe  be- 
schränkt sind. 

Unsere  Befunde  liefern  nun  nicht  nur  eine  Bestätigung  der  Engel- 
mann'sehen  Theorie  der  Tiefen vertheilung  verschiedenfarbiger  Meeresalgen, 
sondern  erklären  auch  die  von  ims  beobachteten,   den  Kampf  ums  Da- 


^  Diese  Thatsache  stimmt  mit  der  bekannten  Erfahrung  überein,  dafs  in  gewissen 
Bacterien  durch  geeignete  Züchtung  die  Production  von  Farbstoffen  oder  Giflen  in  erblicher 
Weise  unterdrückt  werden  kann.     Vergl.  Pfeffer,  Pflanzenphysiologie,  II,  1901,  S.  241. 


32  N.  Gaidükov: 

sein  zwischen  0.  sancta  und  0.  oaldariarum  in  farbigem  Lichte  betreffenden 
Thatsachen.  Hinter  grünem  und  blauem  Lichtfilter  sahen  wir  die  blaugrune 
0.  caMariorum  den  kürzern  ziehen ,  bis  zu  völligem  Untergange ,  im  rothen 
und  braungelben  Lichte  aber  sich  gegenüber  0.  sancta  sehr  stark  ent- 
wickeln. Aus  einer  Tellercultur,  in  der  0.  sancta  fast  ganz  fehlte,  0.  oal- 
dariorum  stark  entwickelt  war,  wurde  eine  Probe  in  grünes  Licht  (CuCl,) 
gebracht,  mit  dem  Erfolg,  dafs  bald  0.  sancta  unter  Abänderung  ihrer 
violetten  Färbung  in  Bräunlichgelb  ebenso  reichlich  wie  0.  caldariorum  ent- 
wickelt war.  Zwar  kann  auch  die  letztere  ihre  spangrüne  Farbe  in  Braun- 
gelb  ändern,  aber  nicht  direct  wie  0.  sancta,  sondern  auf  einem  Umwege 
über  Graugrün,  Grau,  Hell  violett  und  Violett.     0.  sancta  hat  also  in  dieser 

Hinsicht  anscheinend  einen  gro&en  Vorsprung  voraus. 

.« 

Über  diese  Verhältnisse  sowie  Ober  weitere ,  die  complementäre  chro- 
matische Adaptation  und  ihre  Bedeutung  für  die  Tiefenverbreitung  und 
den  Kampf  ums  Dasein  betreffende  Versuche  hoffe  ich  in  Bälde  berichten 
zu  können. 


Zum  Schluss  ist  es  mir  eine  sehr  angenehme  Pflicht,  Hm.  Geh.  Rath 
Prof.  Dr.  Th.  W.  Engelmann  für  die  gütige  Anregung  zu  obigen  Versuchen 
und  für  die  Unterstützung  durch  Rath  und  That  meinen  ergebensten  und 
herzlichsten  Dank  auszusprechen,  sowie  auch  Hrn.  Gustos  P.Hennings 
und  Hm.  Dr.  R.  Kolkwitz  für  die  Hülfe  beim  Sammeln  des  Materials  und 
Hm.  Geh.  Rath  Prof.  Dr.  L.  Kny  für  die  Erlaubnils,  die  doppel wandigen 
Gefafse  aus  dem  Botanischen  histitut  der  Land wirth schaftlichen  Hochschule 
zu  benutzen. 


Tiber  den  Einfluß  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  lebender  Osdüarien.    88 


Tabelle  L 

Spectrophotometriäehe  Messungen  des  von  verschiedenfarbigen  Zellen  von 

OsdUaria  sancta  durehgelassenen  Lichts. 

Die  Intensität  (t)  des  ursprfinglichen  Lichts  ist  =  loo  gesetzt. 

I  234 


720 — 700 
700 — 690 
690 — 680 
680 — 670 
670 — 660 
660 — 650 
650 — 640 
640 — 630 
630 — 620 
620 — 610 
610 — 600 
600 — 590 

590—580 
580—570 

570—560 

560—555 
555—540 

540—530 

530—520 
520—510 
510—500 
500 — 490 
490 — 480 
480 — 470 
470 — 460 
460—450 

450—440 
440—430 
430—430 


^    y* 


N    y* 


AuberateWerthe 

AttÜMTstoWertfae 

der  Einaelbeob- 

der  Einselbeob- 

a 

aelitungen  tco  a 

b 

aehtengen  Ton  b 

a 

b 

a 

b 

a 

i^ 

Max. 

Hin. 

ts 

Max. 

Min. 

{=: 

t» 

t'ss 

t  = 

iss 

83.0 

89.5 

77.0 

84.4 

95.0 

73.0 

84.0 

88.5 

83.8 

84.5 

94.5 

635 

66.5 

60.0 

63.6 

68.5 

53.0 

65.5 

66.4 

58.7 

64.8 

74.0 

47.8 

50.5 

4^.5 

37.6 

52.5 

28.0 

3«-7 

33.8 

34.9 

37.1 

49.8 

45.3 

47.0 

42.5 

35.3 

55.5 

25.0 

30.4 

31« 

32.5 

34.3 

45.2 

50.2 

52.5 

47.0 

40.6 

57.5 

35.5 

43.6 

43.9 

41.6 

43.1 

51.3 

54.6 

55.5 

50.0 

54.1 

64.0 

450 

50.2 

51.2 

50.6 

52.8 

56.2 

59.» 

64.0 

58.5 

60.1 

68.0 

48.5 

63.8 

64.5 

65.5 

63.8 

65.8 

57.3 

60.0 

56.0 

58.0 

64.0 

48.0 

63.0 

63.6 

64.5 

63.7 

68.1 

55.3 

58.0 

52.5 

56.6 

62.5 

47.5 

59-9 

60.2 

64.4 

62.6 

70.2 

65.0 

67.0 

62.5 

65.5 

68.5 

50.0 

66.5 

67.2 

69.2 

69.4 

70.4 

69.5 

70.0 

64.0 

68.7 

72.0 

52.0 

69.4 

70.0 

72.4 

70.2 

69.5 

70.4 

74.5 

67.5 

70.7 

75.0 

59.5 

70.5 

71. 1 

72.8 

70.4 

68.7 

59.9 

61.0 

55.5 

60.8 

65.0 

47.0 

62.8 

63.6 

66.5 

59.5 

52.9 

29.9 

33.5 

26.5 

34.4 

56.0 

25.0 

44.4 

48.8 

48.0 

40.0 

35-5 

30.2 

35.0 

27.5 

34.6 

56.5 

26.0 

45.6 

50.4 

39.7 

38.0 

34.2 

34.7 

37.0 

3«.5 

37.5 

58.0 

30.5 

46.0 

52.1 

40.2 

39.» 

34.7 

33.» 

34.0 

30.5 

36.6 

57.5 

30.0 

45-7 

50.8 

33.2 

37-6 

29.3 

59.0 

63.0 

56.0 

S6.7 

63.0 

46.0 

55.8 

53.4 

36.4 

45.1 

36.5 

62.5 

65.5 

58.0 

59.4 

65-5 

47.0 

58.3 

57.6 

38.2 

50.8 

41.9 

56.7 

595 

52.5 

56.4 

60.0 

46.5 

56.2 

56.0 

35.1 

48.2 

40.4 

52.8 

55.0 

49.0 

47.8 

55.0 

4>.5 

45.1 

44.9 

30.0 

35.6 

38.6 

44.4 

49.5 

42.0 

43.2 

50.0 

39.5 

43.0 

43.8 

29.4 

34.5 

31.1 

49.5 

51.0 

46.0 

47.2 

51.0 

43.0 

45.4 

44.5 

30.0 

35.8 

35-8 

50.5 

54.0 

49.0 

48.1 

54.0 

45.0 

46.7 

46.3 

32.1 

39.8 

36.0 

49.8 

50.5 

45-0 

46.8 

50.5 

430 

45.3 

45.2 

30.6 

37.9 

34.5 

48.3 

50.0 

41.5 

43-4 

50.0 

40.0 

42.4 

40.3 

26.3 

34.4 

29.5 

31.0 

33.0 

28.0 

33.0 

37.5 

23.0 

27.8 

28.2 

24.1 

24.7 

27.0 

30.2 

35.0 

26.0 

29.7 

36.5 

20.0 

24.6 

25.0 

23.3 

24.1 

27.5 

30.4 

32.5 

28.0 

29.7 

36.0 

20.0 

23.2 

24.0 

21.5 

23.8 

27.6 

87.6 

65.4 
40.7 

38.0 

46.1 

53.6 

63.1 

63.9 

64.0 
68.2 
68.5 

69.4 
60.0 

39.3 
37.9 

38.5 
33.0 
43.2 

46.3 
43-8 
38.8 

33.8 

37-7 
38.6 

37.3 
33.0 
28.0 
26.6 
26.6 


Phys,  Ähh,  nicht  zur  Akad.  gehfir.  Gelehrter,    lf}f}2.    V. 


34 


N.  Gaidukov:' 


Tabelle  E 

Spectrophotometrische  Messungen  des  von  verschiedenfarbigen  Zellen  von 

OsciUaria  sancta  durchgelassenen  Lichts. 


\= 

720—700 
700—690 
690—680 
680 — 670 
670 — 660 
660^650 
650 — 640 
640 — 630 
630 — 620 
620 — 615 
615—605 
605—590 
590 — 580 
580—570 
570—560 

560-555 
555—540 

5.40—530 
530—520 
520—510 
510—500 
500—490 
490 — 480 
480 — 470 
470 — 460 
460 — 450 
450—440 
440—430 
430—420 


a 

b 

a 

b 

t  = 

j^ 

i= 

m 

79.5 

80,9 

80.5 

81.2 

59.7 

61.9 

59.7 

60.4 

32.3 

34.1 

34.5 

35-0 

295 

31.6 

30.3 

31.5 

42.1 

41.5 

45.5 

43-5 

53.1 

540 

51. 1 

51.9 

54.0 

57.6 

53.4 

54.2 

5>.9 

56.6 

36.7 

43-3 

49.5 

55.5 

36.1 

42.0 

55.9 

60.7 

52.7 

551 

55. 1 

60.6 

48.3 

54.0 

60.2 

63.5 

52.9 

57.7 

62.3 

60.5 

58.4 

59.0 

55.4 

48.6 

56.9 

50.3 

54-6 

48.1 

63.9 

58.2 

55.3 

49-4 

673 

59.7 

53.9 

48.2 

69.7 

61.2 

68.9 

63.8 

70.3 

67.0 

69.0 

64.8 

71.2 

68.5 

68.8 

63.7 

69.5 

66.5 

58.1 

50.0 

63.7 

59.7 

45.4 

44.6 

55.5 

52.1 

48.8 

47.8 

60.5 

56.8 

49.4 

48.4 

60.9 

58.5 

44.9 

44.4 

52.1 

5».5 

32.4 

32.8 

41.2 

42.3 

25.6 

28.8 

28.8 

29.8 

25.2 

37.7 

27.0 

28.0 

25.0 

27.4 

27.0 

28.0 

a 

6^ 

t  = 

• 

80.2 

82.5 

58.7 

60.0 

329 

33." 

29.8 

3I.I 

35.1 

33.4 

52.2 

53.7 

50.8 

58.3 

50.8 

55.9 

47.1 

52.1 

49.9 

59.0 

49.1 

62.2 

57.8 

67.2 

58.5 

57.4 

54.9 

48.9 

58.8 

52.3 

60.1 

54.3 

60.2 

53.9 

70.2 

64.0 

71.2 

69.8 

67.5 

66.1 

58.2 

57.7 

54.9 

50.9 

55.6 

52.6 

56.0 

55.2 

53.0 

52.1 

40.0 

38.0 

32.8 

32.6 

29.2 

29.0 

28.9 

29.8 

8 

a 

b 

• 

»^ 

78.5 

80.9 

60.0 

60.0 

38.7 

35.3 

35.6 

32.3 

41.7 

38.6 

47.8 

5>.7 

47.4 

54.2 

36.7 

49.1 

32.7 

451 

40.5 

52.3 

39.3 

51.9 

5>.5 

59.9 

59.4 

59.1 

56.8 

50.3 

60.5 

52.3 

61.6 

539 

62.1 

53.9 

67.5 

61. 1 

70.2 

65.3 

68.6 

65.1 

64.6 

57.1 

55.8 

50.4 

59.3 

54.1 

60.0 

55-0 

55.0 

53.6 

43-8 

41.8 

35.9 

33.2 

30.0 

29.4 

29.9 

29.1 

Über  den  Eir^ufs  farbigen  Lichts  auf  die  Färbung  Uhender  Osdllarien.    35 


Tabelle  VL 

Spectrophotometrische  Messungen  des  von  den  Lichtfiltern 

durchgelassenen  Lichts. 


720 — 700 
680—670 
630 — 620 
580—570 
570—560 
560—550 
550—540 
510—490 
450—430 


CannSn 

Braun- 

gelbea 

01m 

Kapfer- 
chlorid 

Blaaes 
61m 

Knpfer- 

ozydp 

ammoniik 

6c 

7c 

4C 

3C 

3d 

• 

l=r 

t  = 

1  = 

m 

lOO.O 

100.0 

0.0 

65.0 

31.0 

68.5 

97.0 

7.5 

50.0 

16.0 

53.5 

96.5 

lO.O 

21.0 

9.5 

7.0 

90.0 

31.0 

20.0 

lO.O 

7.5 

88.0 

37.5 

30.0 

"5 

11.0 

55.S 

67.0 

1       38.0 

1     14.0 

10.0 

19.0 

66.0 

70.0 

92.5 

10.0 

9.0 

35-0 

100.0 

lOO.O 

Anlli 


n* 


Tiolett  . 

67.5 
60.0 

23.5  ' 

lO.O 

".5 
20.0 

ai-5 

lOO.O 


Die  Zahlen  sind  Mittelwerthe  ans  je  5 — 20  Messungen. 


36  'S.QtKiJiVv.o-vi  Ek^ufafarUgenLiichb<xirfdieFa$lM»iglA^ 


Erklärung  der  Tabellen  und  Tafeht 


•  I,  Ift, 

•    I. 

•     I,  aa, 

.    I. 

.     I,  ib. 

»    I. 

"    I,  30, 

.    U, 

•     I.  3*. 

•  n. 

•     I.  4«. 

•  n. 

•     I.  4*. 

•  n, 

Tab.  I,  itfi  Taf.l,  Fig.  la.    Curve,   Farbe  und  Spectrum   der   normalen    violetten  Zellen 

der  OsciUaria  sancta. 
Ib  (Curve).      Mittel    von    Messungen    an    la   Fäden    der   normalen 
Oscälaria  aancta, 
I,     »     IIa.     Curve,    Farbe   und  Spectrum    der   normalen    braunvioletten 

Zellen. 
Hb  (Curve).     Curve  derselben  Zellen  in  Canada-Balsam. 
n»    »     nia.      Curve,    Farbe  und  Spectrum    der   braungelben  Zellen    aas 

den  Culturen  im  blauen  Lichte  (blaues  Glas). 
JUb  (Curve).     Mittel  von  Messungen    an  4  verschieden   gefärbten 

Fäden  aus  denselben  Culturen. 
IVa.     Curve,  Farbe  und  Spectrum  der  röthlichorangen  Fäden  aus 
den  Cu  eis -Licht -Culturen. 
n,    »     IV i  (Curve).     Mittel  von  Messungen  an  4  verschieden    gefärbten 

Fäden  aus  denselben  Culturen. 
Tab.  n,  5a,  Taf.  III,  Fig.  Va.    Curve,  Farbe  und  Spectrum  der  graubläulichen  Zellen  aus 

den  Anilin  violett  -  licht  -  Culturen. 
»     11,5^,      üin,     "     Vi  (Curve).     Mittel  von  Messungen  an  3  verschieden  gefärbten 

Fäden  aus  denselben  Culturen. 
IQ,     »     Via.     Curve,  Farbe  und  Spectrum  der  helbpangrünen  Zellen  aus 

den  Carminlicht- Culturen. 
»     V\b.     Mittel  von  Messungen  an  4  verschieden  gefärbten  Fäden 

AUS  denselben  Culturen. 
»     Vlla.     Curve,   Farbe  und  Spectrum  der  graugrünen  Zellen  aus 
den  Culturen  im  braungelben  Lichte  (braungelbes  Glas). 
IV,     »     VII  i.     Curve  und  Farbe  der  hellvioletten  Zellen  aus  denselben 

Culturen. 
»     Villa.     Curve,   Farbe  und  Spectrum  der  spangrunen  Zellen  aus 

denselben  Culturen. 
»     Villi  (Curve).     Mittel  von  Messungen  an  5  verschieden  gefärbten 
Fäden  aus  denselben  Culturen. 
Tab.  III,  6  c,  Taf.  III,  Fig.  VI c.     Curve  und  Farbe  der  Carmin  -  Losung. 
»     III,  7c,      »IV,     »     VII c.     Curve  und  Farbe  des  braungelben  Glases. 
»     III,  4c,      »     II,     »     IVc.     Curve  und  Farbe  der  CuCla -Losung. 

•  in,  3c,      •     II,     •     III c.     Curve  und  Farbe  des  blauen  Glases. 

•  m,  3c^.     Curve  des  Kupferoxydammoniaks. 

»     III,  5  c,  Taf.  m,  Fig.  Vc.     Curve  und  Farbe  der  Anilinviolett -Losung. 


.     U,  6a, 

.  m, 

.    n,  66, 

.  m. 

.   n,  7a, 

.    IV, 

•     U.  7*, 

•    IV, 

>     n,  8a, 

•    IV, 

>     II,  86, 

•    IV, 

fC.  I¥eu/i.  Akad,  (LWmenmsA.  —  AtJuKg  t.  d.  Abk.  1902.    Btys.-math.  CL 


%ü-riVi 


K.  B-eu/i.  Aiad.  d.Wu$mtoh.  —  Anhang  z.  d.  Abh.  1902.    TlM/s.-matk.  Cl. 


K.  Prmi/s.  Akad.  d.  WütmsoH.  —  Anhang  t.  d.  Ahh.  1902.    FfufB.-math.  CL  Tb^M. 


m 


PHÜ^OSOPHISCHE  UND  HISTORISCHE 

ABHANDLUNGEN. 


Ein  Bruchstück  altagyptischer  Annalen. 


Von 


Dr.  HEINRICH  SCHAFER. 


Mit  Beiträgen  von  Dr.  LUDWIG  BORCHARDT  und  Prof.  Dr.  KURT  SETHE. 


IM.-hist.  Mh.  nicht  zur  Akad.  gehär.  Gelehrter.   1902.    I.  1 


Vorgelegt  in  der  Gesammtsitzung  am  6.  März  1902 
[Sitzungsberichte  St.  XIII  S.  255]. 

Zum  Druck  eingereicht  am  29.  Mai,  ausgegeben  am  17.  Juli  1902. 


1. 

öeit  dem  Jahre  1877  befindet  sich  im  Museum  von  Palermo  ein  Bruch- 
stück einer  merkwürdigen  Inschrift^  die  von  Allem ,  was  sonst  aus  Aegypten 
bekannt  ist,  völlig  abweicht.  Da  auf  ihm  mehrere  Königsnamen  aus  der 
ersten  Zeit  der  ägyptischen  Geschichte  vorkonmien,  ist  die  Inschrift  seit 
ihrem  Bekanntwerden  mehrfach  erwähnt  worden.  Vor  Allem  in  den  letzten 
Jahren  ist  sie  in  den  Vordergrund  des  Interesses  gerückt,  seit  die  Gräber 
der  Könige  aus  den  ersten  Dynastien  in  Abydos  gefunden  worden  sind. 
Trotzdem  ist  noch  keine  befriedigende  Deutung  der  Inschrift  als  Ganzes 
gegeben  worden.  Die  bis  jetzt  allgemein  verbreitete  Ansicht  über  ihren 
Inhalt  ist  von  Hrn.  E.  Naville  so  formulirt  worden^:  »Le  document  est 
une  sorte  de  calendrier  contenant  le  catalogue  des  donations  faites  par  un 
certain  nombre  de  rois  de  l'Ancien- Empire  et  l'indication  de  fötes  ä  c^le- 
brer*.  Die  folgenden  AusftÜirungen  sollen  zeigen,  dafs  diese  Deutung  der 
Inschrift  keineswegs  gerecht  wird. 

2. 

Die  Inschrift  ist  zum  ersten  Male  von  Hm.  A.  Pellegrini  1896  in  einer 
in  Anbetracht  ihrer  Schwierigkeit  vortrefflichen  Weise  veröffentlicht  worden.* 
Der  neuen  Veröffentlichung  und  Bearbeitung,  die  hiermit  vorgelegt  wird, 
liegt  eine  CoUation  von  L.  Borchardt  zu  Grunde^,  während  es  der  Güte 
des  Hrn.  A.  Salin as   in  Palermo  zu  danken  ist,   daiä  wir  seine  schönen 

*  Rec.  de  trav.  XXI,  p.  112. 

'   Archivio  storico  Siciliano,  Palermo  1896,  p.  297  ff.  mit  zwei  Tafeln. 

•  Der  Abstecher  nach  Palermo  war  von  L.  Borchardt  eigens  zu  dem  Zweck  unter- 
nommen worden,  eine  gute  Copie  der  Inschrift  zu  erlangen. 

r 


4  H.   Schäfer: 

photographischen  Aufnahmen  der  Inschrift  im  Lichtdruck  hier  reprodu- 
ciren  können. 

Die  Inschrift  steht  auf  zwei  Seiten  einer  6T5  dicken  Platte  aus  »Diorite 
anfibolica«.  Das  erhaltene  Stück,  das  in  den  gröfsten  Maisen  43*^5  hoch 
und  25*^  breit  ist,  ist  auf  allen  Seiten  abgebrochen  und  nur  ein  Theil 
einer  gro&en  Platte,  deren  Gröfse  wir  auch  nicht  einmal  annähernd  be- 
stimmen können. 

Die  eine  Seite  des  Bruchstücks ,  die  wir  die  Vorderseite  nennen  wollen, 
betrifft  Könige  von  der  ältesten  Zeit  bis  zur  vierten  Dynastie ,  während  auf 
der  anderen  solche  der  fünften  Dynastie  genannt  werden.  Aus  der  letzt- 
genannten Zeit  dürfte  die  Inschrift  stammen.  Dazu  stimmt,  dass,  wie 
Borchardt  bemerkt  hat  imd  die  Photographie  bestätigt,  die  Schriftzeichen 
ausgesprochen  den  Charakter  des  a.  R.  tragen. 


3. 

Als  Sethe,  Borchardt  und  ich  die  von  Borchardt  mitgebrachten 
Photographien  und  Collationen  im  Herbst  1901  zusammen  betrachteten\ 
wurde  uns  klar,  dafs  eine  wichtige  Thatsache  bisher  nicht  richtig  ausge- 
nutzt worden  war^:  die  einzelnen  Rubriken,  in  die  die  Schriftstreifen  des 
Steines  getheilt  sind,  werden  nämlich  durch  das  Zeichen  für  »Jahr«  |  ge- 
trennt. Dafs  es  wirklich  dieses  Zeichen  ist,  zeigt  die  Photographie  völlig 
deutlich.^  Daraus  ergab  sich  uns  als  natürlicher  Schlufs,  daf&  Alles,  was 
nach  einem  solchen  f  bis  zum  nächstfolgenden  hin  steht,  sich  auf  ein  Jahr  be- 
zieht. Nun  ist  schon  von  Hm.  Naville  beobachtet  worden*,  dafs  immer  eine 
grölsere  Reihe  solcher  Rubriken  von  den  nächstfolgenden  durch  einen  Strich 

^  Die  folgende  Arbeit  bietet  im  Wesentlichen  nur  das  Resultat  dieser  gemeinsamen 
Besprechung.  Sie  will  die  damals  gewonnenen  Grundzöge  ftlr  eine  richtigere  Wßrdigung 
der  Inschrift  sichern ,  auf  Einzelheiten  aber  nur  eingehen ,  soweit  das  unmittelbar  zur  Hand 
liegende  Material  es  erlaubt. 

^  Hr.  Naville  erwähnt  sie  mit  den  Worten  (p.  115):  »Le  fait  que  ces  compartiments 
sont  separes  par  des  palmes  me  semble  indiquer  quHl  s'agit  d'anniversaires,  ou  de  f&tes, 
ou  de  jours  sp^ciaux  dans  lesquels  s'etait  passe  quelque  evenement;  ou  devaü  4tre  eSlShrSe 
quelque  ceremonie«. 

*  Auf  den  Tafeln  des  Hrn.  PellegrinJ  ist  der  charakteristische  kleine  Querstrich 
überall  vergessen. 

^    p>ii3  unten  »quand  le  roi  change«. 


Em  Bruchstück  aUägypHscher  Annalen.  5 

getrennt  ist,  der  aber  die  Zeile  hinausgeht.  Hier  sind  also  grOJGsere  Zeit- 
abschnitte markirt.  Dafs  ein  solcher  Iftngerer  Abschnitt  die  Regierung  eines 
Königs  darstellt»  wird  schon  wahrscheinlich  durch  die  Königsnamen,  die 
sich  über  den  Zeilen  befinden.  Beachtet  man  dazu  aber,  was  auch  Hr.  Naville  ^ 
gesehen  hat,  dafs  n&mlich  immer  gerade  auf  die  Markirung  eines  solchen 
gröJGseren  Abschnittes  unmittelbar  die  Notiz  j^   »Vereinigung  der  beiden 

Länder«  folgt,  die  sich  offenbar  auf  die  Krönung  des  Königs  bezieht,  so  wird 
man  die  Erklärung  dieser  Abschnitte  als  Regierungen  für  gesichert  ansehen. 

An  und  für  sich  wäre  es  nun  möglich,  dafs  in  einer  Inschrift,  wie 
die  unsere  es  ist,  nichts  weiter  vorläge  als  die  Notirung  einiger  durch 
bemerkenswerthe  Ereignisse  ausgezeichneter  Jahre,  ohne  dals  eine  lücken- 
lose Aufzählung  aller  Jahre  beabsichtigt  wäre. 

Ein  solcher  Gedanke  ist  aber  bei  unserer  Inschrift  ausgeschlossen 
durch  die  eigenthümliche  Angabe,  die  sich  am  Schlufs  imd  am  Anfang 
jedes  Regierungsabschnittes  findet.  An  beiden  Stellen  wird  nämlich  regel- 
mäJGsig  eine  Zahl  von  Monaten  und  Tagen  vermerkt. 

So  heifst  es  z.  B.  unter  dem  ersten  Jahre  der  Regierung  des  Königs  U. 
(Vs.  Z.  2  Nr.3):  ^O  ^  S^^^^O-  Käme  diese  Stelle  so  wie  hier 
geschrieben  in   einer  späteren  ägyptischen  Inschrift  vor,    so   würde  man 

niemals    darauf  kommen,   in  dem  ^:S^G   ''     ein  Datum  zu  suchen.     Wir 

>^^     I  I  I 

vermissen  ja  die  gewohnte  Angabe  der  Jahreszeit.  Dafs  es  aber  doch  als 
Datum  zu  erklären  ist,  hat  Hr.  Naville  durch  Heranziehen  der  genau 
entsprechenden  Inschrift  aus  Derelbahri  (Eg.  Expl.  F.  Der  elbahri  Taf.63) 

gezeigt,   bei   der  an   der  Stelle  des  ^^^Q    ^    ein  | TJtT     yV  steht.      Hr. 

Naville  bemerkt  zu  den  Daten  unseres  Steins  also  mit  Recht:  On  pourrait 
conclure  de  ces  dates  qu'ä  cette  epoque  reculee,  on  comptait  tous  les 
mois  a  la  file  sans  s'inquieter  de  la  division  en  saisons,  laquelle,  peut- 
ßtre,  n'avait  pas  encore  ete  adoptee.  Die  Inschrift  aus  Der  el  bahri  be- 
weist durch  die  Worte  ®{({  »Anfang  glücklicher  Jahre «^,  die  sie  dem 

Datum  beiftlgt,  klar,  was  sich  ja  eigentlich  von  selbst  versteht,  dafs  dieses 
Datum  den  ersten  Tag  der  Regierung  des  Königs  bezeichnet. 


^   p.  113   unten  bis  p.  114  oben.    Vor  Allem  ist  die  wichtige  Stelle  Eg.  Expl.  F.  Der 
el  bafeiri  Taf.  63  schon  von  ihm  angeführt. 

'    So  nach  S  e  t  h  e  's  richtiger  Übersetzung  ÄZ.  XXXVI  S.  66. 


6  H.  Schafeb: 

Nun  hat  Hr.  Nav  ille  aber  dieselbe  Erklärung  auch  auf  die  Monats-  und 
Tagesangaben  am  Ende  der  Regierungen  angewendet.    Wenn  es  z.  B.  in  dem 

letzten  Jahresabschnitt  unter  König  T.  (Vs.  Z.  2  Nr.  2)  heilst:  ^-»^  ^-^  ^        , 

so  übersetzt  er  auch  dies  als  Datum:  6**'  Monat,  7**'  Tag.  Doch  scheint  es  mir 
nicht  möglich,  diese  Endnotizen  ebenso  zu  behandeln  wie  die  Anfangs- 
notizen. Sie  sind  gewils  keine  Daten.  Was  für  ein  Datum  sollte  hier, 
am  Ende  jeder  Regierung,  genannt  sein?  Das  Einzige,  worauf  man  ver- 
fallen könnte,  wäre  der  Todestag  des  Königs.  Aber  dessen  regelmäfsige 
Notirung  wäre  ja  ohne  jeden  praktischen  Werth ,  vor  Allem  wenn,  wie 
wir  eben  gesehen  haben,  der  erste  Tag  des  neuen  Königs  mit  seinem 
Datum  angegeben  ist.  Im  Allgemeinen  müüsten  ja  auch  die  beiden  Daten 
sich  nicht  unterscheiden,  da  der  neue  König  seine  Regierung  unmittelbar 
vom  Tode  des  alten  rechnete. 

Sieht  man  genauer  zu,  so  bemerkt  man,  dafs  in  der  Inschrift  die 
Monatsangaben  am  Anfang  und  die  am  Ende  der  Regierungen  ganz  ver- 
schieden behandelt  sind.  Während  das  Datum  des  Regierungsantrittes, 
wie  es  sich  gehört,  mit  den  übrigen  Ereignissen  in  einen  Jahresabschnitt 
zusammengeschachtelt  wird,  ist  den  Monaten  und  Tagen,  die  am  Ende 
der  Regierungen  notirt  sind,  immer  ein  besonderer  Jahresabschnitt  mit  j 
gewidmet.  Das  pafst  absolut  nicht  zu  der  Annahme  eines  Datums.  Ich 
glaube  vielmehr,  es  ist  daraus  mit  völliger  Sicherheit  zu  folgern,  dafs 
diese  Schlufsangaben  wirklich  selbständige  Jahre  bedeuten  —  allerdings 
aber  nicht  vollständige.  Wo  sich  eine  solche  Angabe  findet,  und  das 
wird  eigentlich  immer  der  FaU  sein ,  hat  eben  der  König  sein  letztes  Jahr 
nicht  vollendet,  sondern  dieses  hat  nur  z.  B.  6  Monate  und  7  Tage  umfafst. 

Eine  solche  Angabe  der  Monate  und  Tage ,  die  die  unvollendeten  letzten 
Jahre  umfafst  haben,  wäre  zwecklos,  wenn  die  vorhergehenden  Rubriken 
nur  eine  Auswahl  der  Regierungsjahre  der  betreffenden  Könige  darstellten. 
Vielmehr  müssen  die  aufgezählten  Jahre  ohne  Lücken  auf  einander  folgen, 
so  dafs  aus  der  Liste,  wenn  sie  vollständig  erhalten  wäre,  ohne  Weiteres 
die  Zahl  der  Jahre,  Monate  und  Tage,  die  ein  jeder  der  genannten  Könige 
regiert  hat,  abgelesen  werden  könnte. 

Doch  wir  können,  denke  ich,  noch  weiter  gehen.  Was  hätte  die 
sorgfllltige  Notirung  jedes  einzelnen,  sogar  unvollständigen,  Jahres  der  Re- 
gierungen fiir  einen  Sinn,  wenn  nicht  der  Zweck  der  Inschrift  eine  solche 


Ein  Bruchstück  altägt/ptischer  Annalm.  7 

genaue  Zeitnotirung  verlangt  hatte?  Es  folgt  meiner  Ansicht  nach  aus 
dieser  peinlichen  Genauigkeit,  dafs  auch  die  Regierungen  unter  sich  wieder 
eine  ununterbrochene  Reihe  gebildet  haben.  Wäre  der  Stein  vollständig 
auf  uns  gekonunen,  so  f&nden  wir  auf  ihm  jedes  einzelne  Jahr  der  ägypti- 
schen Geschichte 9  von  der  ältesten  Zeit  bis  zur  fünften  Dynastie  hin,  ver- 
zeichnet. Das  heisst  also:  wir  haben  in  dem  Stein  von  Palermo  ein  Bruch- 
stück amtlicher  ägyptischer  Annalen  vor  uns. 

Dazu  stimmt  gut  eine  Beobachtung,  die  auch  Hr.  Naville  schon  ge- 
macht hat.  Wie  man  nämlich,  auch  ohne  den  Inhalt  genauer  zu  prüfen, 
sieht,  ändert  sich  der  Charakter  der  Notizen  innerhalb  der  Inschrift. 

Die  erste  Zeüe  der  Vorderseite  enthält  nur  die  Namen  von  Königen 
von  TJnterägypten  ohne  Angaben  der  Jahre.  Die  zweite  bis  fünfte  Zeile 
der  Vorderseite,  die  den  ersten  drei  Dynastien  entsprechen,  zählen  zwar 
die  einzelnen  Jahre  auf,  aber  nur  mit  bestimmten  Hauptereignissen.  In 
der  sechsten  Zeile,  die  die  Regierung  des  Snefru,  aus  dem  Anfang  der 
vierten  Dynastie,  betrifft,  fliefst  die  Kunde  schon  reichlicher:  die  Jahres- 
abtheilungen  sind  doppelt  bis  dreifach  so  breit  wie  auf  den  vorhergehenden 
Zeilen.  Auf  der  Rückseite,  die  die  f&nfte  Dynastie  behandelt,  sind  die 
Angaben  noch  ausfuhrlicher,  und  der  Umfang  der  Jahre  steigert  sich  bis 
auf  das  Zehnfache  derer  der  Vorderseite.  Je  näher  man  eben  der  eigenen 
Zeit  kam,  desto  mehr  konnte  und  wollte  man  berichten. 

Wer  die  eben  aufgezählten  Thatsaehen  überblickt,  wird  nicht  wohl 
daran  zweifeln  können ,  dafs  die  Erklärung  der  Inschrift  als  Annalenbruch- 
stück  unabweislich  ist.  Dafs  solche  Annalen  bestanden  haben,  ist  bei 
einem  Culturvolk,  das  noch  keine  Aera  besitzt,  und,  wie  wir  unten  sehen 
werden,  die  Regentei^jahre  noch  nicht  zählte,  immer  anzunehmen;  es  ist 
aber  das  erste  Mal,  dafs  sich  unter  den  uns  erhaltenen  ägyptischen  Denk- 
mälern ein  Bruchstück  derselben  nachweisen  läfst.  Der  bekannte  Turiner 
Königspapyrus,  der  bei  jedem  König  nur  die  Summe  der  Jahre,  wenn 
auch  ebenfalls  mit  Angabe  der  überschüssigen  Monate  und  Tage,  vermerkt, 
ist  nur  ein  Auszug  aus  solchen  Annalen.^  Die  sonst  in  den  Inschriften 
erhaltenen  Königslisten  sind  wieder  nur  Extracte  aus  Listen  wie  der 
Papyrus  in  Turin.  Sie  geben  nur  die  Namen  der  Könige  und  auch  diese 
nicht  einmal  vollständig. 

^  Auch  Manetbo  hat  in  seinem  Geschichtswerk,  wie  das  bei  Josephus  erhaltene 
Bruchstück  zeigt,  wenigstens  noch  die  überschüssigen  Monate  notirt. 


8  H.   Schäfeb: 


4. 

Wenn  es  uns  nun  auch  nicht  Wunder  nehmen  kann,  dals  man  in 
der  fönften  Dynastie  noch  über  die  vierte  Bescheid  wusste,  die  ja  durch 
ihre  groisen  Bauten  dem  Volke  immer  im  Gred&chtnils  bleiben  mu&te, 
so  könnte  man  sich  doch  wundem,  wie  sich  eine  Tradition  erhalten  konnte, 
die  noch  aus  den  Zeiten  der  ersten  Dynastien  bei  jedem  Jahre  eines 
Königs  ein  bestimmtes  Ereigniis  anzugeben  wu&te. 

Hier  setzt  nun  eine  Beobachtung  Sethe's  ein,  die  dieses  Wunder  sehr 
natürlich  erklärt  und  nicht  nur  meiner  Deutung  des  Palermo-Steines  völlige 
Sicherheit  giebt,  sondern  auch  sonst  för  die  Greschichte  des  ägyptischen 
a.  R.  von  weittragender  Bedeutung  ist. 

Sethe  macht  nämlich  darauf  aufinerksam,  dafs  uns  in  anderen  In- 
schriften eine  ganze  Reihe  von  Datirungen  erhalten  ist,  bei  denen  die 
Jahre  nicht  mit  Zahlen,  sondern  nach  bestimmten  Ereignissen  benannt 
sind.  Die  Ausführung  seiner  Entdeckung  wird  Sethe  selbst  wohl  anderswo 
geben.  Ich  möchte  von  den  Beispielen,  die  er  uns  genannt  hat,  nur 
einige  anföhren,  die  am  meisten  zur  Erklärung  unserer  Inschrift  beitragen. 

1.  j  [y>  8  9%    »Jahr  des  Kampfs  und  des  Schiagens  der  Nordvölker« 

auf  dem  in  Hierakonpolis  gefundenen  Geßlfse  des  Königs     ^     (3.  Dynastie). 

2.  jfl^.ifl^  U.S.W.  »Jahr  der  Verehrung  des  Horus«  auf  einem 
Täfelchen  aus  dem  Grabe  des  Königs  »  in  Abydos:  Petrie,  Royal  tombsl, 

Taf.  12  Nr.  i;   H,  Taf  8,  5.      Ähnlich    unter   dem  Könige  ^  Petrie  I, 
Taf.  17  Nr.  29,  unter  ^^  Petrie  II,  Taf.  39  Nr.  54. 

3.  [®^.=i=i=i5g^_i,[^^^'cr7<|>^  .Jahr  der  zweiten  Zählung 

alles  Grofs-  und  Kleinviehs   des   Nord-  und  Südlandes«,   LD.  II,  n6a  in 
einer  Inschrift  Phiops'  II  im  Wadi  Marära.    Eine  andere  ähnliche  Inschrift 
aus  dem  Wadi  Marära,  aber  aus  der  Zeit  des'Issi  ÄZ.  1869  S.  26  (fehlerhaft). 
Ich  selbst  möchte  dem  noch  hinzufügen: 


^•fi 


I  I  lÄXÄXXO—  in  der  sehr  alten  Inschrift  der  Berliner  Samm- 

lung  Nr.  14467 ^-    »Jahr  der  Vereinigung  der  beiden  Länder,  Monat  4  der 
Emtejahreszeit,  Tag  4«. 


Aegypt.  Inschr.  S.  7 1 . 


Ein  Bruchstück  aMgyptischer  Annalen.  9 

Diese  Datirungen  geschehen,  wie  Set  he  bemerkt,  nach  Angaben,  die 
genau  denen  auf  dem  Palermo -Stein   entsprechen.     Man  vergleiche  z.  B.: 

mit  1:  f  P  \^|c^  Jjcf)  »^»s  J*hr  des  Schiagens  der  Inw«  in  Vs.  Z.  3, 

sowie  den  Negerfeldzug  unter  Snefru  in  Z.  6; 

mit  2:  j  n  v^  ^nJ  »das  Jahr  der  Verehrimg  des  Gottes  Horus«.    Diese 

Angabe  findet  sich  bei  den  Königen  der  zweiten,  vierten  und  fanften 
Reihe  der  Vorderseite.  Nach  einer  gewife  richtigen  Vermuthung  Sethe's 
bezeichnet  sie  eine  Fahrt  nach  Hierakonpolis  in  Oberägypten,  um  dort 
eine  Culthandlung  zu  verrichten,  wie  es  die  alten  Könige  von  Oberägypten 

vor  Menes,  nach  Sethe  die  sogenannten  fl  \^^,.  »die  Verehrer  des  Horus«, 

thaten.     Die  Fahrt  findet  alle  zwei  Jahre  statt; 

mit  3:   {  Lir^     \  5^  »Jahr  der  zweiten  Zählung  des  Rindviehs«  steht 

in  der  zweiten  Zeile  der  Rückseite  imserer  Inschrift,  während  auf  Z.  5 
der  Vorderseite   zweimal   gesagt  wird,   dals    »das   Gold  und  der  Acker« 

gezählt  wurde  ©  x  •,      i  (isr\  ()J)J] ,  während  das  Vieh  nicht  erwähnt  wird. 

Sehr  viel  häufiger  aber  sind  die  Angaben  der  Form:  »Jahr  des  zweiten 
(dritten  u.  s.w.)  Males  der  Zählung«  ohne  Angabe  dessen,  was  gezählt 
wurde.  Solche  Notiz  findet  sich  bei  den  Königen  der  vierten  und  fünften 
Reihe  der  Vorderseite  regelmäfsig  alle  zwei  Jahre,  während  bei  Snefru 
einmal  auch  in  zwei  Jahren  hinter  einander  gezählt  wird.  Es  handelt 
sich*  entweder  um  Zählungen  des  fi scalischen  Vermögens  oder  um  Zäh- 
lungen des  Privatvermögens  zu  Steuerzwecken,  die  meist  das  Ganze 
umfassen,  manchmal  aber  sich  nur  auf  das  Vieh  oder  auf  den  Landbesitz 


^    Vergl.  Inschrift  des  Wnl  Z.  36  (1    ^      (     _    /wyw  ^J^    ^     und  viele  andere 

Anspielungen  darauf  in  anderen  Texten.  Wie  Wnl  angiebt,  erstreckte  sich  diese  Zählung 
manchmal  auch  auf  die  zu  leistende  Fronarbeit.  Allerdings  scheinen,  wie  Borchardt  be- 
merkt, die  Abstände  der  Z&hlungen  für  Zählungen  des  gesammten  Volksvermogens 
etwas  klein,  doch  ist  das  kein  ernstlicher  Hinderungsgrund.  Borchardt  macht  übrigens 
darauf  aufmerksam,  dals  man  aus  den  »Zählkarten«  Griff ith  Kahun  Pap.  9  und  10  (Haus- 
haltungszählkarten), 21  (Landzählkarte)  und  16/17  (Viehzählkarte?)  für  das  m.  R.  wirklich 
solche  allgemeinen  Zählungen  nachweisen  kann,  und  dafs  sich  f&r  diese  Zeit  ein  Abstand 
von  14  Jahren  zu  ergeben  scheint,  der  noch  in  der  griechischen  und  römischen  Zeit  fest- 
gehalten wurde  (s.  Wilcken,  Ostraka,  S.  438),  bis  die  Indictionen  mit  ihren  fünfzehn- 
jährigen Intervallen  eingeführt  wurden. 

Phil.'hist.  Abh.  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter,    1902.    L  2 


10  H.   Schäfeb: 

oder  das  Baarvermögen   erstrecken.     Im  Ende   der  Rückseite  findet  sich 

eine  noch  weitere  Verkürzung.    Es  steht  da  nur  j©  »Jahr  des  fönften 

Males«.     Gewifs  ist  auch  das  auf  die  Zählungen  zu  beziehen; 

mit  4:   die  Notiz  ^Ki  sini  Üwi,  die  sich,  wie  oben  erwähnt,  auf  unserem 

Stein  immer  im  ersten  Jahre  eines  jeden  Königs  findet. 

Somit  hat  Sethe  unzweifelhaft  Recht,  wenn  er  behauptet,  dafs  die  auf 
unserem  Stein  hinter  den  | -Zeichen  genannten  Ereignisse  solche  sind,  die 

man  zur  Bezeichnung  der  einzelnen  Regierungsjahre  benutzte.^ 

Einem  Jeden,  der  ims  bis  hierher  gefolgt  ist,  wird  einfallen,  dafe 
genau  dieselbe  Sitte  der  Datirung  nach  Ereignissen  sich  in  derselben  alten 
Zeit  auch  in  Babylonien  findet.  Zum  Vergleich  sei  ein  Stück  aus  den  alt- 
babylonischen  Annalen  hier  hergesetzt,  dessen  Übersetzung  ich  der  Güte  des 
Hrn.  Messerschmidt  verdanke.  Es  ist  der  Anfang  der  Regierung  des 
Königs  Bur-Sin: 

Jahr,  in  welchem  Bur-Sin  König  (wurde). 

Jahr,  in  welchem  der  König  Bur-Sin  ürbillum  zerstörte. 

Jahr,  in  welchem  er  den  Thron  des  Gottes  Bei  anfertigte. 

Jahr,  in  welchem  er  den  erhabenen ,  grossen  Herrn  (d.  i.  ein  Priester) 
des  Gottes  Anu  (und)   den  Herrn  (Priester)   des  Gottes  Nannar   einsetzte. 

Jahr,  in  welchem  er  den  Herrn  (Priester)  des  grofsen  Wohnsitzes  der 
Göttin  Nana  einsetzte. 

Jahr,  in  welchem  er  die  Stadt  Schaschru  zerstörte. 

u.  s.  w.     u.  s.  w. 


^  Eine  solche  Datirung  nach  Ereignissen  ist  im  gewöhnlichen  Leben  bei  allen  Völkern 
sehr  häufig.  Hr.  Spiegelberg  weist  mich  auf  ein  derartiges  Beispiel  aus  einem  ägyptischen 
Text  hin,  den  er  in  seinen  »Studien  und  Materialien«  S.  Syff.  veröffentlicht  hat:  Bei  einem 
Verhör  wird  eine  Frau  nach  dem  Verbleib  einer  Geldsumme  gefragt.  Sie  antwortet:  -Ich 
habe  es  gebraucht ,  um  Getreide  zu  kaufen  in  dem  Jahre  der  . . .  Thiere  (irgend  welche 
Nagethiere),  als  man  hungerte«.  So  erklärt  es  sich,  dafs  es  unfruchtbar  blieb,  wenn 
Hr.  Na  vi  11  e  in  seinem  neuesten  Aufsatz  (Rec.  XXIV,  ii8  nach  Maspero)  die  Aufschi*ift 
des  B§-Gefalses  richtig  aufgefafst  hat,  wenn  Sethe  schon  lange  einige  der  oben  besprochenen 
Inschriften,  z.  B.  die  B§- Inschrift  und  die  Nennung  der  Viehzählungen  in  den  Felsinschriften 
des  Wadi  Marlra  als  Datirungen  erkannt  hat,  und  wenn  auch  ich  die  Inschrift  Berlin  14467 
rnpt  iffU  tffüt  gelesen  und  auf  das  erste  Jahr  eines  Königs  bezogen  habe;  erst  durch  Sethe 
bei  unserer  Beschäftigung  mit  dem  Palermostein  ist  das  Alles  in  das  richtige  Licht  gerückt 
worden.  Denn  gerade  um  die  Erkenntnifs  der  amtlichen  und  fortlau/mden  Anwendung 
dieser  Datirungsart  auch  im  alten  Aegypten  handelt  es  sich  hier. 


Ein  Bruchstück  aüägyptischer  Annaien.  11 

Die  Ähnlichkeit  unserer  Sgyptischen  Inschrift  mit  diesen  babylonischen 
Annaien  ist  schlagend. 

5. 

Für  das  Verständnifs  des  praktischen  Gebrauchs  einer  solchen  Datirungs- 
art  möchte  ich  noch  auf  Folgendes  aufinerksam  machen: 

Erstens  durften  natürlich  innerhalb  derselben  Regierung  nie  zwei 
Jahre  dieselbe  Bezeichnung  tragen,  da  eine  solche  Wiederholung  grofse 
Verwirrung  anrichten  würde.  In  der  That  ist  es  auch  auf  unserem  Stein 
nie  der  Fall.  So  viele  Jahrnotizen  auch  z.  B.  mit  SmS  1}r  oder  ^^  itni  Jh^ 
hitt  anfangen,  sie  sind  doch  alle  durch  weitere  Zusätze  unterschieden. 

Zweitens  konnte  ein  jedes  Jahr  nicht  schon  von  seinem  ersten  Tage 
an  eine  Bezeichnung  nach  einem  Ereignifs  tragen.  Erst  wenn  ein  cha- 
rakteristisches Ereignifs  eingetreten  war,  oder  gar  erst  nach  dem  Ablauf 
des  Jahres  konnte  ein  amtlicher  Erlafs  erfolgen,  der  die  Benennung  des 
Jahres  verordnete.  Inzwischen  half  man  sich  auf  eine  sehr  naheliegende 
Weise.  So  wird  z.  B.  in  den  babylonischen  Annaien  das  zweite  Jahr  des 
Königs  Bur-Sin  bezeichnet  als  »das  Jahr,  in  dem  der  König  Bur-Sin  die 
Stadt  Ur-billum  zerstörte«.  In  den  Urkunden  aus  diesem  Jahre  dagegen 
findet  sich  auch  die  Benennung:  »Jahr  nach  dem,  in  welchem  Bur-Sin 
König  wurde«.  Dem  Schreiber  der  Urkunde  war  offenbar  die  officielle 
Benennung  des  Jahres  noch  nicht  bekannt  geworden. 

Dafs  die  Aegypter  genau  so  verfahren  sind ,  zeigen  z.  B.  die  Datirungen 
von  Felsinschriften  des  a.  R.  im  Wadi  Marära.     So  datirt  eine  Inschrift  aus 

der  Zeit  König  Phiops'  I.':  f  ^  r^©  0  ! !  | !  ^"^  ^  oEE  »im  Jahre  nach 

dem   i8.  Mal   (der  Zählung)  im  dritten  Monat  der  Erntezeit  am  S.Tage«. 

In  Babylonien    sowohl  wie  in  Aegypten   ist   es   vorgekommen,   dafs 

manche  Jahre  nie  einen  eigenen  Namen  bekommen  haben ,   sondern  auch 

in  den  Annaien  in  der  Form   »Jahr  nach  dem,  in  welchem  .  .  .«   geföhrt 

^  LD.  II  ii6a  mit  Verbesserung  des  ersten  Q  in  ®.  —  Die  fast  gleichzeitige  Inschrift 
LD.  U  I  iS9  zeigt  die  Form  |  0  011111111  O,  .Vi  1 1  r  -  ^«''  Schreiber 

von  LD.  II  ii5Är  giebt  gar  nur  i  ,  also  nur  »Jahr  nach«,  und  vergifst  das  Wichtigste, 

I  ®o 
nämlich    »dem  achtzehnten  Mal  (der  Zählung)«,  LD.  II  115  Ar  und  115^  sind  Qbrigens  beide 

aus  demselben  Jahre. 

2* 


12  H.   Schafer: 

wurden.      In  den  babylonischen  Annalen  sind  solche   Falle  häufig»   aber 
auch  auf  unserem  ägyptischen  Bruchstück  finden  sie  sich ,  wenn  die  Ver* 

muthung  richtig  ist,  dals  in  Z.  3  Nr.  i   der  Rückseite  \         .  .    »Jahr  nach 
dem  zweiten  Male  (der  Zählung)«   zu  lesen  ist.^ 

Selbst  wenn  ein  Jahr  erst  gegen  Ende  wirklich  einen  eigenen  offi- 
ciellen  Namen  nach  einem  Ereignifs  bekam,  konnte  durch  solche  Aushülfe- 
bezeichnungen doch  nie  eine  Verwirrung  eintreten. 

6. 

Für  das  allgemeine  Verständnifs  des  Steins  haben  wir  zum  Schlufs 
noch  einen  merkwürdigen  Theil  seiner  Inschriften  zu  besprechen.  Unter 
den  einzelnen  Jahresabschnitten  finden  sich  regelmäfsig  Notizen,  die  ein 
Mafs  in  Ellen  angeben,  ohne  dafs  sich  ersehen  liefse,  worauf  sie  gehen. 
In  der  zweiten  Zeile  der  Vorderseite,  die  auf  eine  uralte  Zeit  geht,  fehlt 
die  Angabe  bei  zwei  Jahren  noch  ganz;  von  da  ab  fehlt  sie  bei  keinem 
Jahre  mehr.  Des  Weiteren  läfst  sich,  wie  uns  Hr.  Er  man  bemerkte,  be- 
obachten, dafs  die  Angaben  der  verschiedenen  Zeilen  und  Zeiten  nicht  mit 
der  gleichen  Genauigkeit  angegeben  werden.  Die  ersten  vier  Zeilen  der 
Vorderseite  geben  diese  Mafse  nur  in  Ellen  /*— fl,  Spannen  <K  ^,  Hand- 
breiten ^£,  und  Fingern  ^,  während  die  fiinfte  und  sechste  Zeile  der 
Vorderseite  und  die  Rückseite  sogar  noch  Bruchtheile  der  Finger  benutzen.* 
Diese  späteren  Theile  haben  also  ein  genaueres  Mefsverfahren  als  die 
älteren. 

Was  bedeuten  nun  diese  EUenangaben?  Sie  müssen  sicher  etwas 
Wichtiges  sein,  da  man  sie  sonst  nicht  officiell  bewahrt  hätte.  Darum 
erscheint  die  von  Borchardt  vorgeschlagene  Deutung,    dafs  es  Nilhöhen 

^   Ahnlich  in  Z.  4  Nr.  i. 

'  Hr.  Er  man  weist  auf  den  auffälligen  Umstand  hin,  dafs  dieses  Mafs  in  unserer  In- 
schrift nur  auf  die  Zeile  2  und  3  der  Vorderseite  beschränkt  und  nie  von  Handbreiten  und 
Fingern  begleitet  ist.  —  Das  Zeichen  selbst  zeigt  deutlich  die  gespannt  aufgesetzte  Hand, 
wobei  der  einzelne  Strich  den  Daumen,  der  doppelte  die  übrigen  Finger  andeutet.  In  spä- 
terer Zeit  wird  dieses  Zeichen,  dessen  Lautwerth  wir  nicht  kennen,  mit  der  Vogelklaue  0  , 
die  wohl  s^  t  zu  lesen  ist,  zusammengeworfen. 

ist  i,  rf        gewifs  -f ;  was  aber  y[\       ist,  weifs  ich  nicht;   es  ist  wohl   nicht 

gleich  0  d.  h.  J,  denn  ^  wird  (Rs.  Z.  3)  "^"^^  geschrieben;  ist  es  etwa  ^? 

I    I    I  1 1 1 1 


Em  BnuAslikA  aUägyptiseher  Ännalen.  13 

seien,  sehr  einleuchtend.  Die  KenntniTs  der  Höhe  des  Nils  in  den  ein- 
zelnen Jahren  hatte  ja  wegen  der  Steuern  auch  nach  Jahren  noch  für  den 
Staat  ein  Interesse.  Gewifs  wird  diese  Deutung  das  Richtige  treffen,  aber 
so  glatt,  wie  sie  auf  den  ersten  Blick  erscheinen  kann,  ist  sie  nicht. 

Die  Zahlen  bewegen  sich  nämlich  nicht  in  einer  Höhe,  wie  wir  sie 
sonst  bei  Nilhöhenangaben  zu  finden  gewöhnt  sind,  sondern  liegen  nur 
zwischen  i  und  8  Ellen.  Die  Ma&e  des  Steins  müssen  also  von  einem  weit 
höheren  Punkte  gemessen  sein,  als  über  dem  tiefsten  sommerlichen  Tief- 
stand, der  sonst  als  Nullpunkt  angesehen  wird.  Es  wäre  also  eigentlich 
zu  allen  auf  unserem  Stein  genannten  Ellenzahlen  eine  bestimmte,  uns  un- 
bekannte Zahl  hinzuzurechnen.  Obgleich  uns  sonst  ein  derartiges  Verfahren 
bei  der  Nilhöhenmessung  nicht  bekannt  ist,  hat  diese  Annahme  doch 
wohl  kaum  ernsthafte  Schwierigkeiten.* 


Ich  gebe  im  Folgenden  den  Text  der  Inschrift  unter  Berücksichtigung 
der  Photographien  des  Hm.  Salinas  und  Borchardt's  Collation,  und  zwar 
in  die  einzelnen  Jahre  zerlegt.  Die  beigefugte  Ubersetzimg  ist  natürlich 
nur  ein  Versuch,  imd  auch  die  gelegentlich  gegebenen  Bemerkungen  können 
keinen  Anspruch  darauf  machen,  einen  so  schwierigen  Text  zu  erschöpfen. 
Dafs  sehr  Vieles  von  dem  Gesagten  recht  fraglich  ist,  auch  wo  es  nicht 
ausdrücklich  gesagt  ist,  bleibt  immer  zu  beachten.  Aber  doch  ist  ein 
solcher  Ubersetzimgsversuch  das  beste  Mittel,  das  Verständnifs  der  In- 
schrift als  Ganzes  zu  ermöglichen,  und  nur  darauf  kommt  es  uns  ja  vor- 
läufig an. 

^  Ein  kleines  Bedenken  äufsert  Borchardt  selbst,  das  ist  die  für  Wasserstands- 
messungen  fast  übergrofse  Genauigkeit,  die  ja  sogar  noch  zwischen  -f  und  ^  Finger  unter- 
scheidet. Hr.  Er  man  hat  endlich  beobachtet,  dafs,  wenn  man  für  jede  Zeile  den  Durch- 
schnitt dieser  Höhenangaben  berechnet,  diese  Durchschnittszahlen  von  Zeile  zu  Zeile  sinken. 
Ich  möchte  diese  Beobachtung  hier  nur  anführen,  ohne  eine  Erklärung  der  Thatsache  zu 
versuchen. 


14 


H.  Schäfer: 


Ton  Unterägypten 
aus  der  Zeit  ror  der  Vereinigiuig 
der  beiden  LSnder. 


Vorderseite. 
Zeile  1. 

Sr.  1—13. 


,fHtinffuinitnmtfff^ 


^.y.ftyn^.^  I  \i^ 


Die  Namen  könnte  man   etwa  umschreiben: 

1.  ---pw,       4.  Tiw,  7.  W5d-^nd, 

2.  sk?,,  5.  T§,  8.  Mh, 

3.  gj-iw,        6.  N-hb(?),       9.  ----^ 

10. — 13.  zerstört. 

OflTenbar  haben  wir  hier  nur  Könige  von  Unter- 
ägypten, aus  der  Zeit,  wo  die  beiden  Reiche  noch 
getrennt  waren ,  vor  uns.  Ob  die  Könige  von  Ober- 
ägypten auch  noch  auf  imserem  Stein  gestanden 
haben ,  läfet  sich  nicht  sagen.  Wenn  der  Denkstein 
aus  einem  unterägyptischen  Tempel  kommt,  so 
ist  es  möglich,  dafs  die  Könige  von  Oberägypten 
gar  nicht  aufgeführt  waren.  Jedenfalls  ist  es  un- 
möglich, dafs  sich  unter  diesen  Namen  solche  von 
Königen  aus  Abydos  finden,  wie  Spiegelberg 
(ÄZ.  35  S.  lo)  hoffte. 

Die  Reihe  hat,  wie  der  über  den  Namen  lie- 
gende freie  Streifen  zeigt,  wohl  eine  zusammen- 
fassende  Überschrift  gehabt. 

Der  unbeschriebene  Streifen  im  obersten  Eck- 
chen des  Steins  gehört  wohl  dem  Rande  an. 


Ein  Bruchstück  aüägypüscher  Annalen. 


15 


König  T. 
Jahr 


Name  nicht  erhalten. 

Verehrung  des  Horus.* 
Geburt  des  Anubis.* 

^  Siehe  dazu  Einleitung  §  4.  Das  Fest 
ist  nur  in  Z.  2 — 5  der  Vs.  genannt 

^  Findet  sich  auch  auf  den  Täfelchen 
der  I.  Dynastie,  z.  B.  Petrie,  roy.  I.  II 
Taf.  XI,  I. 

Noch  keine  Nilhöhe. 


[Vorderseite.] 
ZeUe2. 

Nr.  1. 


Jahr       6  Monate,  7  Tage. 
x-h2.      Unvollständiges  Jahr. 


Nr.  2, 


König  U. 
Jahr  1. 


Jahr  2. 


Name  nicht  erhalten. 

Vierter  Monat,  Tag  13.^ 
Vereinigung  der  beiden  Länder.^ 
Umzug  um  die  Mauer. 

^  Siehe  Einleitung  §  3. 
'  Siehe  Einleitung  §  4. 

Nilhöhe:  6  Ellen. 


Verehrung  des  Horus.^ 
Fest  des  dir.^ 

^  Das  Fest  wird  nun  alle  zwei  Jahre 
gefeiert. 

'  Das  Schiff  ist  wohl  nur  Determinativ, 
8.  zu  Z.  2  Nr.  II. 

Nilhöhe:  Nicht  angegeben. 


Nr.  3. 


Nr.  4. 


16 


H.  Schäfer: 


[König  U.] 

Jahr  3.     Geburt    der    beiden    Kinder    des 

Königs  von  ünterägypten/ 

^  Diese  Gottheiten  kommen  z.  B.  Fjt. 

T.  79  =  M.  109  =  N.  23  vor. 

Nilhohe:  4  Ellen,   i  Hand. 


Jahr  5. 


Jahr  6. 


[Vorderseite.] 

2.] 
Nr.  5. 


Jahr  4.     Verehrung  des  Horus. 


^  Dieser  zweite  Theil  ist  mir  ganz  un- 
verständlich.    Sethe  bemerkt  dazu:   Das 
erste  Zeichen  sieht  wie  die  spätere  Form  von 
kfp  »räuchern«  aus;  das  zweite,  das  einen 
Vogel,  von  einem  Messer  durchschnitten, 
darzustellen  scheint,  erinnert  an  das  be- 
kannte Determinativ  von  ^Ar 
»köpfen«  in  den  Pyramideninschriften;  das 
dritte  Zeichen  endlich   scheint  eine  Frau, 
verwundet  oder  geschlagen,  darzustellen. 

Nilhöhe:  5  Ellen,  5  Hände,   i  Finger. 


Planen  (?)  des  Hauses  Qif-ntrw^ 
Fest  des  Sokaris  (?). 

^  Das  ^jF  mufs  eine  Handlung  be- 
zeichnen, die  dem  »Strickspannen«  vor- 
hergeht. Vergl.  Zeile  3  Nr.  6.  Das  Gebäude 
selbst  wird  der  Palast  oder  das  Grab  des 
Königs  sein.  .Die  Festungszinnen  sind 
nicht  ganz  sicher. 

Nilhöhe:  5  Ellen,  5  Hände,   i  Finger. 

Verehrung  des  Horus. 
Geburt  der  Göttin  I^mt} 

^  Eine  im  a.  R.  oft  genannte  Gottin, 
z.  B.  Pyr.  T.  76  =  M.  230  =  W.  197  = 
N.  608  Mar.  Mast.  A.  i  =  R.  I.  H.  98. 

Nilhöhe:   5  Ellen,   i  Hand. 


Nr.  6, 


Nr.  7. 


Nr.  a 


Em  Bruchstück  aüäpyptischer  Anndien. 


17 


[KSnig  U.] 

Jahr  7.     Erscheinen  des  Königs  von  Ober- 

igypten. 
Geburt  des  Min. 

Nilhöhe:  5  Ellen. 


Jahr  8.     Verehrung  des  Horus. 
Geburt  des  Anubis. 

Nilhöhe:  6  Ellen,   i  Hand. 


Jahr  9. 


I.  Mal  der  Feier  des  D^-Festes. 

•  ^^ 

Das  Schiff  ist  nur   Determinativ,  so 
wohl  auch  schon  in  Zeile  a  Nr.  4. 

Nilhöhe:  4  Ellen,   i  Spanne. 


Jahr  10.    Zerstört. 


[Vorderseite.] 
[Zefle  2.] 

Nr.  9. 


Nr.  10. 


Nr.  11. 


Nr.  12. 


Da  gewlTs  anzunehmen  ist,  dafs  der  Name 
des  Königs  über  der  Mitte  seines  Regierungsab- 
schnittes stand,  so  fehlen  hier  von  der  Regierung 
des  Königs  U  mindestens  10  (die  Zahl  der  erhal- 

Phil.-hüt  Abh  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter.    1902.    I.  3 


18 


H.  Schäfer: 


[Vorderseite.] 
[König  U.]  [Zefle  2.] 

tenen  Jahre)  +  6  (der  Raum,  den  der  Name  er- 
fordert) =  i6  Jahre.  Dafs  die  Eönigsnamen  nicht 
am  Anfang  der  Abschnitte  gestanden  haben,  zeigt 
Zeile  4,  und  dafs  sie  nicht  am  Ende  gestanden 
haben,  Zeile  3. 

Dieser  König  hat  also  zum  mindesten  26  Jahre 
regiert. 


König  V. 


Jahr 


1. 


Jahr 


2. 


Name  nicht  erhalten.   Nur  der  Schlufs  vom  Namen 
seiner  Mutter*: 

""     ^*    rt 


^  Anders  läfst  sich  der  Frauenname  an  dieser  Stelle 
wohl  kaum  erklären. 

Nach  ähnlicher  Überlegung  wie  die  am  Schlufs 
von  Zeile  2  angestellte  fehlen  hier  am  Anfang  min- 
destens 1 3  (die  Zahl  der  erhaltenen  Jahre  hinter  dem 
Namen)  +  5  (Raum  für  den  Namen)  =  18  Jahre. 


Aufenthalt  in  Hk^  —  und  im  Tem- 
pel von  S^w} 

^  Die  Übersetzung,  besonders  »Auf- 
enthalt«, ist  nur  gerathen.  Präpositionen 
fehlen  in  diesen  alten  Texten  oft.  Wo 
die  beiden  Städte  liegen ,  wissen  wir  nicht. 

Ähnlicher  Gebrauch  von  v  *^^  ^^^  ^*' 
tirungstäfelchen ,  z.  B.  Petrie,  roy.  i.  II 
Taf.  X,  2  (Sethe). 

Nilhöhe:  3  Ellen,   i  Hand,  2  Finger. 
Schlagen   der  ''Inw} 

^  Also  ein  Feldzug  gegen  die  Stamme 
zwischen  Aegypten  und  dem  Rothen  Meer. 

Nilhöhe:    4  Ellen,   i  Spanne. 


Zeile  3. 


Nr.  1. 


Np.  2. 


Em  Bruchstück  altägyptischer  Annalen. 


19 


[König  V.] 

Jahr  Erscheinen  des  Königs  von  Ober« 
X  -h  3.         ftgypten. 

Erscheinen  des  Königs  von  Unter- 
ägypten. 

i^rf-Fest. 

Nilhöhe:  8  Ellen,  3  Finger. 


[Vorderseite.] 
[Zefle  8.] 

Nr.  3. 


Jahr 

x-h4. 


.  . .  .  der  Gaue  (Seen?)  des  Westens, 

Nordens,  Ostens. 
Alle  Menschen. 

Die    Übersetzung    ist    ganz    fraglich. 
Es    fehlt   ein   Verbum,    oder    steckt    das 

in<|>? 

Nilhöhe:    3  Ellen,   i  Spanne. 


Nr.  4. 


Jahr       2.  Mal  des  J^^-Festes. 

C  -f-  6.  Das  Fest  wird  also  in  gröiseren,  uns 

nicht  bekannten  Abständen,  wiederholt. 

Nilhöhe:    5  Ellen,   2  Hände. 


Nr.  5, 


Jahr 
x  +  6. 


Planen  (?)   des  Hauses   »Sitze  der 

Götter«. 
Fest  des  Sokaris. 

Im  folgenden  Jahre  wird  der  Grund 
zu  diesem  Gebftude  gelegt. 

Nilhöhe:  5  Ellen,  i  Hand,  2  Finger. 


Nr.  6. 


II      I         Ml 


20 


H.  Schäfer: 


[König  V.] 

Jahr       Spannen  des  Stricks  für  das  Haus 
x-f-7.  »Sitze   der   Götter«    durch   den 

Priester'  der  l^iit 
Grofses  Thor.* 

*  -T^y   nach    dem    alten     Sprachge- 
brauch statt   ^Ti!   (Sethe). 

'  Dieses  §'^9  findet  sich  auch  auf 


Jahr 

x  +  8. 


Jahr 
x  +  9. 


Jahr 
x+10. 


[Vorderseite.] 
[Zefle  3.] 

Nr.  7. 


der   Schiefertafel    von    Hierakonpolis   ÄZ.  36,    Taf.  12 
(Naville). 

Nilhöhe:   4  Ellen,  2  Hände. 


Offnen  (?)  des  Sees  vom  Hause  » Sitz 

der  Götter«.' 
Schiefsen  des  Nilpferdes. 

^  Wohl  der  heilige  See  des  Tempels. 

Nilhöhe:   2  Ellen. 


Aufenthalt  in  Herakleopolis  und 
auf  dem  See  des  Tempels  des 
Gottes  Hri'ifi?). 

Zu  »Aufenthalt«  s.  die  Bemerkung  zu 
Zeile  3  Nr.  i.  Diese  Form  des  Tempels 
ist  in  den  ältesten  Inschriften  allgemein 
üblich  (vergl.ÄZ.  34  8. 160;  Petrie,  Royal 
tombs  II  Taf.  X  und  öfter). 

Nilhöhe:  5  Ellen. 

Fahrt  nach  ^c^(^)^tni  und  Wr-k^- 

.  •  •  • 

•  Fahrt  nach«  ist  sehr  fraglich.  Man 
denkt  an  jd    Die  Präposition  wäre,  wie 

bei  Y  und  sonst,  nicht  geschrieben. 

Nilhöhe:  4  Ellen,   i  Spanne. 


Nn8. 


Nr.  9, 


Nr.  10. 


Em  Bruchstück  aüägjfptischer  Annalen. 


21 


[KSüig  V.] 

Jahr       Geburt  des  Gottes  J^d.^ 

X  -f-  1  !•  *  Der  Name  dieses  Gottes   I 


kommt  vor  Mar.  Mast.  D  19  (p.  339)  und 


in  dem  Namen 


(Sethe). 


Nilhöhe:  6  Ellen,  i  Hand,  2  Finger. 


Jahr 
x  +  12. 


Erscheinen  des  Königs  von  Unter- 
ägypten. 

Erstes  Mal  des  Herumlaufens  (?) 
des  Apis.* 

^  Was  f&r  eine  Ceremonie  das  ist, 
wissen  wir,  wie  bei  den  meisten  in  unse- 
rer Insclirift  genannten,  nicht.  Da  nach 
Manetho  der  Apiscult  unter  Kaiechos  ein- 
geführt ist,  befinden  wir  uns  hier  gewifs 
in  der  zweiten  Dynastie. 

Nilhöhe:  2  Ellen,   i  Spanne. 
Geburt  der  jSs^t  und  der  M^fdt. 

Die  Katze  (?)  auf  dem  n  ist  auch  sonst 

häufig  das  Determinativ  dieses  Oöttinnen- 
namens  (vergl.  z.  B.  P e t r i  e,  Royal  tombs  II 
Taf.  VII). 

Nilhöhe:  3  Ellen,  5  Hände,  2  Finger. 


Jahr       [Erscheinen  des]  Königs  von  Ober- 
x-i-14.         ägypten. 

Geburt  d[ ]. 


Jahr 
X  +  13. 


[Vorderseite.] 
[Zeile  3.] 

Nr.  11. 


I: 


•i 


I 


J 


Dieser  König  hat  zum  mindesten  3  2  Jahre  regiert. 
_j 


Nr.  12. 


Nr.  13. 


Nr.  14. 


22 


H.  Schafes: 


KSaig  Ntrn.         König  N§rn,  der  Sohn  der  iV» 


[Vorderseite.] 
Zeile  4. 


Jahr 
n-l. 


Jahr 


2. 


Jahr 
x-h3. 


C5  P 


f 


nni 


So  nach  Sethe  zu  deuten,  der  in  X  ein 
Wort  m  »Kind«  erkennt,  über  das  er  bei  Garstang 
Bet  Khalläf  (zu  E.  1,3a)  gehandelt  hat. 

Schon  oben  zu  Z.  3  hatten  wirvermuthet,  dals  bei 
den  Königen  die  Namen  der  Hfttter  angegeben  waren. 

Ntm  ist  der  König,  dessen  Name  unter  an- 
deren auf  der  Schulter  der  Statue  Kairo  Nr.  i 
steht  und  der  in  Abydos  vorkommt. 

Da  in  dieser  Regierung  die  Zählungen  regel- 
mäfsig  alle  zwei  Jahre  stattfinden,   so  wird  das 
Jahr  X  +  I   das  5.  oder  6.  des  Königs  sein. 
Verehrung  des  Horus.^ 
[3.  Mal  der  Zählung.]^ 

^  Die  hier  wieder  auftretenden  •Ver- 
ehrungen des  Horus«  fehlten  in  der  vorigen 
Zeile  ganz. 

*  Mit  dieser  Zeile  i)eginnen  die  Da« 
tirungen  nach  Zählungen. 

Nilhöhe:  Zerstört. 


Erscheinen  des  Königs  von  Ober- 
ägypten. 

Spannen  des  Stricks  über  dem 
Hause  des  ^or-Rn. 

Nilhöhe:  3  Ellen,  4  Hände,  2  Fin- 
ger. 

Verehrung  des  Horus. 
4.  Mal  der  Zählung. 

Nilhöhe:  4  Ellen,   2  Finger. 


>c 


Nr-  1. 


Nr.  2. 


Nr.  3, 


Ein  Bruchstück  altägyptischer  Annalen. 


2a 


[Kftnig 
Nim.] 

Jahr 

x  +  4. 


Erscheinen  des  Königs  von  Ober- 
ägypten. 

Erscheinen  des  Königs  von  Unter- 
ägypten. 

Herumlaufen  des  Apis. 

Nilhöhe:  4  Ellen,  i  Hand,  2  Finger. 


[Vordersdte.] 
[ZeUe  4.] 

Nr.  4. 


Jahr       Verehrung  des  Horus. 
x-t-5.      5.  Mal  der  Zählung. 

Nilhöhe:  4  Ellen,  4  Hände. 


Nr.  5, 


Jahr       Erscheinen  des  Königs  von  Unter- 
c-f-6.  ägypten. 

2.  Mal  des  Sokarisfestes.^ 

^  Aach  dieses  Fest  wird  also  in  ge- 
wissen gröfseren  Abstanden  wiederholt. 
Bis  zum  nächsten  Mal  in  Zeile  4  Nr.  1 2  sind 
es  6  Jahre. 

Nilhöhe:  3  Ellen,  4 Hände,  2 Finger. 


Nr.  6. 


Jahr       Verehrung  des  Horus. 
E  +  7.      6.  Mal  der  Zählung. 

Nilhöhe:  4  Ellen,  3  Finger. 


Nr.  7. 


24 


H.  Schäfer: 


[König 
Ntrn.] 

Jahr 

x  +  8. 


I.  Mal  des  Festes  Dwi-^r-pt? 
Besiedelung  der  Städte   ^Sm-R^^ 
und  »Nordhaus«. 

Das  Fest  und  die  Städte  sind  sonst 
unbekannt 

^  So  nach  Sethe:  •Verehrung  des 
Horus  vom  Himmel.« 

Nilhöhe:.  4  Ellen,  3  Finger. 


[Vordendte.] 
[Zeüe  4.] 

Nr.  8. 


Jahr 
x  +  9. 


Verehrung  des  Horus. 
7.  Mal  der  Zählung. 

Nilhöhe:   i  Elle. 


OÖUH 
«  ft  11  MI 


Nr.  9. 


Jahr 
x  +  10. 


Erscheinen  des  Königs  von  Unter- 
ägypten. 
2.  Mal  des  Herumlaufens  des  Apis. 

Nilhöhe:  3  Ellen,  4  Hände,  3  Finger. 


Nr.  10. 


Jahr       Verehrung  des  Horus. 
X  +  11.     8.  Mal  der  Zählung. 


Nilhöhe:  3  Ellen,  5  Hände,  2  Finger. 


Nr.  11 


i 


Em  Brvxhatück  aUägyptiBcAer  Armalen. 


[KSnig 

Ntrn.] 

Jalir 

x+12. 


Erscheinen  des  Königs  von  Unter- 

ftgypten. 
3.  Mal  des  Sokarisfestes.' 
'   Vergl.  EU  Zeile  4  Nr.  6. 

Nilhöhe:  2  Ellen,  2  Finger. 


25 

[Vordeneite.] 
[ZeUe  4.] 

Nr.  12. 


MI  © 


11 V 


ihr        Verehrung  des  Horus. 
- 13.     9.  Mal  der  Zahlung. 

NilhShe:  2  Ellen,  2  Finger. 


QÖ'ill 


IIV 


Nr.  13. 


Jahr        Erscheinen  des  Königs  von  Unter- 
1  +  14.        ftgypten. 

Opfer  (?) . . .  Göttin  N^bl . . .  ß(-Fest.' 
*   Die  UbersetEUDg  ist  gUE  unsicher. 

Nilhöhe;  3  Ellen. 


4< 


Nr.  14. 


Jahr       Verehrung  des  Horus. 
x+15.     10.  Mal  der  Zählung. 

Nilhohe:  Zerstört. 


Nr.  15. 


Fha.-Utt.  Abh.  nicht  sar  Aiad.  gehör.  GehArter.    1902.    I. 


26 


H.  Schafes: 


Pöhüg 
Jahr 


Zerstört. 
Nilhöhe:  Zerstört. 


[Vorderseite.] 
[ZeQe  4.] 

Nr.  16. 


Es  fehlen  noch  mindestens  1 5  Jahre  des  Königs, 
so  dafs  dieser  mindestens  35  Jahre  regiert  hat. 


König  W.  Name  nicht  erhalten. 

Nach  den   »Zählungen«  zu  urtheilen,  fehlen 
am  Anfang  i  o  oder  1 1  Jahre. 

Verehrung  des  Horus. 
6.  Mal  der  Zählung. 


Jahr 
x+1. 


Nilhöhe:   2  Ellen,  4  Hände,  i^  Fin- 
ger. 


Jahr 

x  +  2. 


Jahr 


3. 


Erscheinen  des  Königs  von  Ober- 
ägypten. 

Erscheinen  des  Königs  von  Unter- 
ägypten. 

Das  Gebäude  Mn-Nirt  wird  aus 
Steinen  erbaut. 

Nilhöhe:  2  Ellen,  3  Hände,  i  Finger. 

Verehrung  des  Horus. 
7.  Mal  der  Zählung  (und  zwar)  des 
Goldes  und  der  Äcker.* 

^  Siehe  Einleitung  §  4. 

Nilhöhe:    3^  Ellen. 


Zeile  5. 


Nr.  1. 


Nr.  2. 


Nr.  3. 


Em  Bruchstück  altäffi/ptisdier  Annalen. 


27 


[König  W.] 

Jahr       Geburt  des  ff<^'i^fnwi^ 

X  +  4.  ^  So  richtig  Naville.    Es  ist  der  aus 

Abydos  bekannte  König. 

Nilhöhe:   2  Ellen,  6  Hände,  2iFin- 
ger. 


Jahr 

x-t-  5, 


Jahr 


Verehrung  des  Horus. 
8.  Mal  der  Zählung  (und  zwar)  des 
Goldes  und  der  Acker. 

Nilhöhe:   4  Ellen,  2  Hände,  2f  Fin- 
ger. 


4.  Mal  des  Bringens  der  Mauer  von 

Dwi  Dp} 
Schiffbau  (?).' 

'  Was  das  bedeutet,  ist  mir  unklar. 
*  Siehe  die  Bemerkung  zu  Zeile  6  Nr.2. 

Nilhöhe:    4  Ellen,    2  Hände. 


[Vorderseite.] 
[Zeile  5.] 

Nr.  4. 


tf*ll    Uli 


Nr.  5, 


Nr.  6, 


Jahr 

x  +  7. 


2  Moüate,    23  Tage. 

Dieses  unvollständige  Jahr  ist  mit 
dem  ersten  des  neuen  Königs  in  eine 
Rubrik  zusammengedrängt.  Offenbar  liegt 
hier  ein  erst  später  bemerktes  Versehen 
vor. 


0 
n 
n 
III 

xt: 

Nr.  7 


Dieser  König   hat   also  im  Ganzen   i6  oder 
17  Jahre,  2  Monate,  23  Tage  regiert. 


28 


H.  Schafeb: 


König  X. 
Jahr  1. 


^^ 


>^— X 


..V 


Name  nieht  erhalten. 

Erscheinen  des  Königs  von  Ober- 
ägypten. 

Erscheinen  des  Königs  vonXJnter- 
ägypten. 

Vereinigung  der  beiden  Länder.* 

Umzug  um  die  Mauer. 

*   Siehe  Einleitung. 

Das  Datum  (s.  Zeile  2  Nr.  3)  fehlt  hier. 
£s  ist  f&r  die  Benutzung  der  Annalen  auch  nicht  ab* 
solut  unentbehrlich. 

Nilhöhe:    4  Ellen,   2  Hände,   2f  Finger. 


M 


)\" 


IMI 


[Vordoveite.] 
[ZeQe  5.] 

Nr.  8. 


•  •  s 

•  •    ! 


Jahr  2. 


Erscheinen  des  Königs  von  Ober- 
ägypten. 

Erscheinen  des  Königs  von  Unter- 
ägypten. 

Einführung*  des  Königs  in  die 
beiden  Snw^-Häuser.* 

^   So  Naville.      Statt   des   Fisches 
scheint  ein  Messer  dazustehen. 

^   So  Sethe.   Sind  die  Determinative  zwei  Stelen? 

Nilhöhe:    4  Ellen,  i-^  Hände. 


Nr.  9. 


Jahr  3.     Verehrung  des  Horus. 
Geburt  des  Min. 

Nilhöhe:   2  Ellen,  3  Hände,  2^  Fin 
ger. 


Nr.  10- 


Em  Bruchstuch  aUägyptiseher  Annalen. 


29 


[König  X.] 

Jahr  4.  Erscheinen  des  Königs  von  Ober- 
ägypten. 

Erscheinen  des  Königs  von  Unter- 
ägypten. 

Spannen  des  Stricks  für  das  Ge- 
bäude ^hjj^-ntrw. 

Nilhöhe:  3 Ellen,  3 Hände,  2  Finger. 
Jahr  5.     Verehrung  des  Horus. 


Nilhöhe:    3  Ellen  -  - -. 


[Vorderseite.] 
[Zefle  6.] 

Nr.  11. 


Hier  fehlen  noch  mindestens  5+6  Jahre,  so 
dafs  dieser  König  zum  wenigsten  1 6  Jahre  regiert  hat. 


Nr.  12. 


König  Snefm.    Die  Überschrift  nicht  erhalten ,  aber  der  Name 

aus  den  Jahresangaben  ersichtlich.  Es  fehlen  am 
Anfang,  wie  sich  aus  den  »Zählungen«  (wenn 
diese  in  jedem  zweiten  Jahre  stattfanden,  vergl. 
Zeile  6  Nr.  4)  ergiebt,   10  oder  11  Jahre. 


Jahr 


1. 


Geburt  der]  beiden  Kinder  des  Kö 

nigs  von  Unterägypten.^ 
[6.  Mal  der  Zählung?] 

»  Vergl.  Zeile  2  Nr.  5. 

Nilhöhe:  Zerstört. 


Zeile  6. 


Nr.  1. 


30 


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Snefrn.3 

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Jahr 
x  +  3. 


Bau  von hun- 

dertelligeni)«!/- 

^w^  Schiffen 
aus     Jfr'-Holz 
und    60    Sech- 
zehner-Königs- 
barken.* 

Zerhacken  desNe- 
gerlandes. 
Bringen  von 
7000  Gefange- 
nen,  Minnern  und  Weibern,    sowie    von 
2tX)000  Stück  Rindern  und  Kleinvieh. 

Erbauen    der    Mauer    des    Sfld-    und    Nord- 
landes mit  Namen  (?):    HlLuser  des  ^nfrw. 

Bringen  von  40  Schiffen  aus  (?)Cedernholz. 

'  Die  BesiehuDg  von  id  dir  auf  den  Schiffbau  geht 
z.  B.  aus  der  BeUchrift  zu  einer  Darstellung  des  Schiff- 
baues bei  Petrle,  Medum  Taf.  XI,  hervor. 

Schiffe  aus  diesem  Holz,  das  noch  im  o.  R.  vielfach, 
und  zwar  zu  denselben  Zwecken  wie  das  Cedernholz, 
verarbeitet  wird,  kommen  auch  auf  den  Ttfelchen  aus 
Abydos  vor  (Petrie,  roy.  t  II,  Taf.  X.). 

*   Vergl.  das  8er  Schiff  des  ünl  (Zeile  41). 
Nilhöhe:    2  Ellen,   2  Finger. 
Machen    von    35----    122 

Rindern. 
Bau  eines  hundertelligen 
iJw^-^/w^- Schiffes    aus 
Cedernholz  sowie  zweier 
hundertelliger  aus  itfr- 
Holz. 
7.  Mal  der  Zählung. 
Nilhöhe:    5  Ellen,    l  Hand, 
I  Finger. 


[Vorderseite.] 

[Zeile  6.] 

Nr.  2. 


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Em  Bruchstück  aUägyptiaeher  Annalen. 


[König 


1  +  4. 


Jahr 

x  +  5. 


Errichten  [der  Gebfiude] 

■  Hoch    ist   die  Krone 

des    Snefru     auf    dem 

Södthor« 
und  ■Hoch  ifitdieKrone 

des    Snefru    auf   dem 

Nordthor«. 
Anfertigung  derXhQren 

zum  KOnigspalast  aus' 

Cedernholz. 
8.  Mal  der  Zählung. 

Hier  kommt  Eum  ersten  Mal  die  Zihlung  i 
auf  eiauider  folgenden  Jahren  vor. 
KilhÖhe:   2  Ellen,   2  H&nde,   2^ Finger. 

Zerstört. 

Nilhöhe:  Zerstört. 


31 

[Vorderseite.] 

[ZeUe  6.] 

Nr.  4. 


König  Y.   Von  seiner  Regierung  ist  nur  ein  kleines  Stock     Zeile  7. 
der  Überschrift  mit  dem  Schlufs  des  Namens 
seiner  Mutter  erhalten: 


\K.H.,mill^ 


Ob  Zeile'7  die  letzte  Zeile  der  Vorderseite  bil- 
dete, oder  noch  andere  folgten,  I&Tst  sich  nicht 
ausmachen. 


32 


H.  Schafer: 


König  Z.  (Mykerinos?). 
Jahr  X. 


Der  Name  nicht  erhalten. 


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Rftckseite. 
ZeUel. 

Nr.  1. 


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[ —  Monate]  24  Tage. 

Es  ist  natürlich  wieder  das  letzte  unvollständige  Jahr  des  Königs. 
Warum  der  Raum  vor  der  Zahl  unbeschrieben  ist,  scheint  mir 
nicht  erklSrlich. 

König  Schepseskaf.     Die  Überschrift  nicht  erhalten,  aber  der  Name  aus 
Jahr  1.         der  Jahresnotiz  zu  er- 


schlieisen. 


Der  Rest  weggebrochen. 


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a)  4  +  xterMonat,  ii.Tag. 


Nr.  2. 


Ein  Bruchstück  aUägypHscher  Anndien. 


33 


[König 
Sehepseskaf.] 


[Rfiekseite.] 
[Zeile  1.] 


b)  Erscheinen  des  Königs  von  Oberägypten,  Er- 
scheinen des  Königs  von  Unterägypten.  Vereini- 
gung der  beiden  Länder.  Umzug  um  die  Mauern 
/^irf-Fest.  Geburt  der  beiden  Wjp-toy«7<.  Der  König 
verehrt  die  Götter,  die  die  beiden  Länder  ver- 
einigt haben.^ 

c) Wahl  des  Platzes  zur  Pyramide 

d) Norden  und  Süden.     20 alle 

Tage, 
e) 1624 600  — 

^  Sind  damit  die  Götter  bezeichnet,  deren  Standarten  so  oft  vor 
dem  Könige  hergetragen  werden? 

^  Der  König  beginnt  also  wirklich  gleich  in  seinem  ersten  Jahr 
mit  der  Erbauung  seines  Grabes. 

Nilhöhe:  4  Ellen,  3  Hände,  2-J- Finger. 

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König  Weserkaf.     Die  Überschrift  nicht  erhalten,  aber  der  Name  aus  der 

Jahresnotiz  zu  erschließen. 

Wenn  die  Zählungen  alle  zwei  Jahre  stattfanden ,  fehlen  am 
Anfang  vier  oder  fönf  Jahre. 


Jahr       3.  Mal  des  Findens  (?) 
^  ^  Nilhöhe:  Zerstört. 


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PhU.-Mst.  Abh.  nicht  sur  Akad.  gehör.  Gelehrter.   1902.   I. 


Zefle  2. 


Nr.  1 


34 


H.  Scbäfek: 


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38  H.  SchAfeb: 

[Kfinig  [RBckseite.] 

Sahnrec.]  Zeile  4. 

Da  hier  ebenso  wie   in   der  vorigen  Zeile  noch  Jahre  des  SaJjfurffC 
stehen,    hat   die   Zeile   keinen   besonderen  Streifen   fflr   die  Über- 
schrift. 
Jiilirl2(?).  Nr.  1. 


a)    [König  von  Ober-  und  Unter&gypten  Sahure'^  stiftete  als] 
sein  Denkmal  fQr: 

denRs^ —  an  Ackerland  im  Nord-u.  Südland Morgen 

dieHathor  "  "  ....        • 


alle  Dinge. 

Was  gebracht  wurde 

aus  dem  Jtf/Ay/-Lande: (Product) (Zahl) 

aus  Pwnt:    Myrrhen    Soooo; (Product) (Zahl); 

(Product,  und  zwar  Hölzer)  2900; (Product) 

---  (Zahl) 
b)    6.  (?)Mal  der  Zählung. 

Die  Zahl  ist  nicht  sicher.    Sa^an"  hat  nach  Manetho  13,  nach  dem  Turioer 
Papyrus  ii  Jahre  regiert.    Dazu  wQrde  die  Lesung  6.  Mal  gut  passen,  wenn 
die  Zählungen  alle  zwei  Jahre  stattfanden  (Sethe). 
Nilhöhe:  Zerstört. 


Ein  Bruchstück  aüägyptkcher  Annalen. 


39 


[König 
Sahure^.] 

Jahr  13(?)«  9  Monate,  6  Tage. 

Das  letzte  unvollständige  Jahr  des  Königs, 
'  Die  Zahl  der  Monate  und  der  Tage  ist  ganz  unsicher. 

Dieses  unvollständige  Jahr  ist  in  den  Raum  des  vorigen  Jahres  hinein- 
gedrängt. Also  auch  hier,  wie  in  Vs.  Zeile  5  Nr.  7,  liegt  ein  später  bemerktes 
Versehen  vor. 


[Rückseite.] 
[Zeile  4.] 

Nr.  2. 


Ncfer-er-ke-  ref. 


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Da  der  besondere  Streifen  für  die  Überschrift  fehlt,  ist  diese  in 
den  Raum  für  die  Jahresnotizen  mit  hinuntergerückt. 


Jahr  1. 


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a)  2.  Monat,  7»  Tag. 
Geburt  der  Götter. 
Vereinigung  der  beiden  Länder. 
Umzug  um   die  Mauer. 


40 


H.  Schäfer: 


[König  Nefer- 
er-kc-re<.] 

[Jahr  1.]      b)  König  von  Ober-  und  Unterägypten  Nefer-er-ke-rF^  stiftete 

als  sein  Denkmal  für: 
die  Götterneunheit:  —  Morgen  Ackerland  in  — ,  im 
Gebiet  der  Stadt  »Nefer-er-ke-re^  von  der  Götter- 
neunheit  geliebt«,   im   Memphisgau   

die  Geister  von  Heliopolis  und  die  Götter  von  Babylon 

Morgen  Acker  im  Gebiet  der  Stadt  »Nefererkere 

von   den    Geistern   von   Heliopolis   geliebt«    im 
Ostland 
—  Morgen  Acker  im  Gau  von  Tanis  —  die  beiden 

Oberpriester  von  Heliopolis 

den  R^^  und  die  Hathor  je  einen  Opfertisch Opfer- 
rationen.   Ein  Speicher  gebaut  (?),  mit  Leib- 
eignen ausgestattet  (?) 
Bilden  —  Elektron  7^/  (der  Sohn  der  Hathor),  eine 
Statue,  die  gezogen  wurde  zum  Hause  der  Hathor, 
der  Herrin  der  Sykomore  in  Mrt-Snefrw^ 
den  Re<^  von  Tp-f^t 

^    Diese  Übersetzung  von  «Bilden«  an  nach  Sethe. 

Nilhöhe:    3  Ellen.    Rest  zerstört. 

Jahrx+1.     a)  [König    von    Ober-    und    ^ 

Unterägypten  Nefer- 
er-ke-re^  stiftete  als 
sein  Denkmal  für:] 


[Rfickseite.] 
[Zeile  4.] 

[Nr.  3.] 


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den  Re^  im  Sonnenhei- 
ligthum  »Sitz  des 
Herzens  des  Re^^ 

den  König  ^iny  an 
Ackerland Mor- 
gen. 

b)  Jahr  des  5.  Mals  der  Zählung. 

^   Also  eine  Stiftung  Hir  einen  alten  Konig,  vielleicht  denselben,  dem 
das  Haus  gehört,  dessen  Beamter  Meten  ist  (LD.  11,3  oben  links). 


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Zeile  5. 
Nr,  !• 


Ein  Bruchstück  aUägyptischer  Annalen. 


41 


[König  Nefer- 
er-ke-re«.] 

Jahr  X  +  2. 


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[Rückseite.] 
[Zeile  5.] 

Nr.  2. 


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a)  Erscheinen  des  Königs  von  Oberägypten. 
Erscheinen   des  Königs  von  Unterägypten. 

b)  Aufmauern  (?)    der  Sonnenbarke    an    der   Südecke^   [des 
Sonnenheiligthums  Sitz  des  Herzens  des  Re^\ 

c)  König    von    Ober-    und    Unterägypten    Nefer-er-ke-r^^ 

stiftete  als   sein  Denkmal  für 
den    Re^   im    Sonnenheiligthum    »Sitz    des    Herzens« 

des  Re^ .•  Brote 

für  die  Abendsonnenbarke 

»       »     Morgensonnenbarke* 

die  Geister  von  Heliopolis 

den  Ptah   südlich   von   seiner  Mauer:   Acker 

die  Buto,  die  Herrin  des  Südens  (?) 


^  Das  Schiff  liegt  also  so  wie  das  im  Re-Heiligthum  isp-ib^r'  bei 
den  Ausgrabungen  der  Königl.  Museen  gefundene. 

'  Also  ein  sicherer  Beweis,  dafs  es  zwei  Sonnenbarken  bei  jedem 
Sonnenheiligthum  gab,  wie  ja  auch  zu  erwarten  war.  In  dem  einzigen 
bis  jetzt  bekannten  Sonnenheiligthum,  dem  des  Ne-woser-Ref^  ist  nur  die 
eine  bis  jetzt  aufgefunden. 

Ob  unter  dieser  Reihe  noch  andere  gestan^len  haben,  und  wie- 
viel, läfst  sich  nicht  sagen. 


I^a.-hist  Abk.  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter.   1902.    L 


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IWiiß.Akad.  d.  Wh«o«cA.  ■  Än/utru/  :.  d.Abk.  1002. 


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Prmß.  Akad.  d.  Witsmsch,  An/ianff  z.  d.  Ahh.  J902. 


Über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter. 


Von 

Prof.  Dr.  WILHELM  STIEDA 

in  Leipzig. 


Phä.-hist.  Äbh.  nicki  zur  Alead.  gehör.  Oelehrier.    1902.    IL  1 


Vorgelegt  in  der  Sitzung  der  phil.-hist.  Classe  am  30.  October  1902 

[Sitzungsberichte  St.  XLIV.  S.  1023]. 

Zum  Druck  eingereicht  am  6.  November,  ausgegeben  am  6.  Februar  1903. 


In  dem  heutigen  Stadium  des  Wirthschaftslebens  spielt  die  Handelsstatistik 
eine  grofse  Rolle.  Wenn  die  Frage  Schutzzoll  oder  Freihandel  auch  nie- 
mals eine  absolute  Antwort  finden  kann,  immer  werden  die  Ergebnisse  der 
Statistik  dazu  beitragen,  die  Theorie  zu  klären,  zu  erweisen,  welches  der 
beiden  Systeme  den  augenblicklichen  Verhältnissen  des  betreffenden  Landes 
am  meisten  zusagte,  der  Verwaltung  einige  Anhaltspunkte  für  eine  Reihe 
wichtiger  Mafsregeln  bieten  können.  Es  ist  bekannt,  dafe  die  jährliche 
Aufstellung  dieser  Statistiken  eine  heikle  und  schwierige  Aufgabe  ist.  Trotz 
gröfster  Sorgfalt  und  vorsorglichster  Regelung  lassen  sich  Lücken  nicht  ver- 
meiden, sind  Fehler  und  Ungenauigkeiten  nicht  selten.  Und  vor  allen 
Dingen  trotz  hervorragender  Leistungen  einzelner  lünder  sind  wir  von  einer 
befriedigenden  internationalen  Vergleichung  noch  recht  weit  entfernt.  Die 
Verschiedenheit  der  Classification  der  Waaren,  das  abweichende  Vorgehen 
bei  der  Schätzung  des  Werthes  der  Aus-  und  Einfuhr,  die  Nichtüberein- 
stimmung in  der  Bezeichnung  der  Ursprungs-  und  Bestimmungsländer  — 
sie  lassen  es  nicht  zu ,  einen  Boden  zu  gewinnen ,  auf  dem  man  festen  Fufs 
fassen  imd  sich  an  einem  sicheren  Überblick  über  die  Bewegung  des  Handels 
in  den  Culturstaaten  erfreuen  könnte. 

Ist  nun  die  moderne  Handelsstatistik  von  Vollkommenheit  noch  weit 
entfernt,  so  sieht  es  erst  recht  betrübend  mit  der  Vergangenheit  aus.  Zwar 
fQr  das  1 8.  Jahrhundert  liegen  manche  geordnete  Thatsachen  und  Nach- 
richten vor.  Als  in  England  im  Jahre  1696  ein  permanentes  Handelsamt 
geschaffen  wurde,  begann  in  Verbindung  damit  eine  amtliche  Handels- 
statistik. Schon  vorher  hatte  man  sich  an  eine  directe  Ermittelung  der  Ein- 
fuhr- und  Ausfuhrwerthe  gemacht,  indem  man  die  Summe  der  Zollerträge 
mit  20  multiplicirte.    Fast  alle  aus-  und  eingehenden  Waaren  waren  nämlich 


4  W.  Stiei)  A  : 

durchschnittlich  mit  einem  Zoll  von  5  Procent  ihres  Werthes  belegt.'  Aufser- 
dem  liefse  sich  aus  Registraturen  und  Handelsacten ,  wenn  auch  nur  mit 
grofeer  Mühe,  eine  Handelsstatistik  för  einzelne  Länder,  Gebiete,  Perioden 
oder  Jahre  nachträglich  beschaflfen.  So  bieten  sich  für  Frankreich,  wo  seit 
Colbert  das  Interesse  für  eine  ziflFermäfsige  Erfassung  der  Bewegung  des 
Handels  erwachte,  mit  der  Errichtung  des  Bureau  de  la  balance  du  com- 
merce im  Jahre  17 16  wenigstens  die  Werthziffern  des  Einfiihr-  und  Aus- 
fuhrhandels.    Die  MengenziflFern  fehlen  leider  hier  wie  in  England. 

Können  nun  auch  solche  Daten  nicht  auf  volle  Zuverlässigkeit  An- 
spruch erheben,  einen  nicht  zu  gering  zu  schätzenden  Werth  für  die  Be- 
urtheilung  damaliger  commercieller  Zustände  haben  sie  zweifellos.  Wenn 
wir  aber  400 — 500  Jahre  zurückgreifen,  so  scheinen  uns  alle  Hülfsmittel 
im  Stiche  zu  lassen.  Und  doch  wäre  es  gewifs  von  dem  gröfsten  Inter- 
esse, sich  ziffermäfsig  vergegenwärtigen  zu  können,  was  die  Venetianer 
etwa  noch  im  14.  Jahrhundert  den  Engländern  zugeführt  haben,  welche 
Ausdehnung  der  Activhandel  der  Hanseaten  nach  dem  britischen  Insel- 
reiche  gewonnen  hatte  zur  Zeit,  als  Richard  II.  anfieng,  von  der  Volks- 
stimmung getragen,  die  Privilegien  der  fremden  Kaufleute  zu  beschneiden, 
welchen  Umfang  der  Handel  einer  einzelnen  deutschen  Stadt,  etwa  von 
Rostock  nach  Oslo  und  Tönsberg,  der  noch  im  15.  Jahrhundert  so  blühend 
war,  dafs  eine  eigene  Compagnie  der  Wykfahrer  sich  bildete,  gewöhnlich 
erreichte?  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dafs  wir  uns  den  Inhalt  trockener 
Urkunden  jener  Zeiten,  die  Kämpfe  um  Freiheiten  und  Zugeständnisse  in 
handelspolitischer  Beziehung  besser  zu  eigen  machen  und  beurtheilen  könnten, 
wenn  wir  thatsächlich  wüfsten,  was  für  die  eine  oder  andere  Partei  auf 
dem  Spiele  stand.  Anschaulicher  würde  das  Bild  der  hinter  uns  liegenden 
Vergangenheit  werden ,  wenn  wir  in  Zahlen  anzugeben  vermöchten ,  warum 
die  Kaufleute  so  grofses  Gewicht  darauf  legten,  aufserhalb  der  Heimath 
sichere  Absatzquellen  sich  erschlossen  zu  sehen  und  die  landbautreibende 
oder  industrielle  Bevölkerung  des  betreffenden  Staates  sich  gegen  die  über- 
grofse  Zufuhr  auswärts  erzeugter  Producte  wehrte. 

Aber  alle  Klagen  darüber,  was  einst  versäumt  worden  ist,  bringen 
uns  in  der  Erkenntnifs  nicht  weiter.    Es  kann  nur  darauf  ankommen ,  die 


'    Friedrich   Lohmann,    Die  amtliche   Handelsstatistik   Englands   und  Frankreichs 
im  18.  Jahrhundert  in  den  Sitzungsber.  d.  Berl.  Akad,  d.Wiss,    Jahrgang  1898,  8.864,  ^7^* 


Über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  5 

Frage  aufzu werfen ,  ob  es  nicht  möglich  ist,  auf  Umwegen  dem  vorschwe- 
benden Ziele  sich  zu  nähern.  Dafs  man  nicht  in  modernem  Sinne  eine 
Ausfuhr-  und  Einfuhrstatistik  für  ein  ganzes  Land  oder  für  eine  längere 
Periode  reconstruiren  kann,  scheint  auf  den  ersten  Blick  klar,  wenn  man 
überlegt,  dafs  es  eine  Zeit  gilt,  wo  an  eine  systematische  Massenbeobach- 
tung noch  nicht  gedacht  wurde.  Vielleicht .  aber  wurde  eine  instinctive 
Statistik  aufgezeichnet,  ergaben  sich  aus  dem  Gange  des  Erwerbslebens 
oder  aus  fiscalischen  Rucksichten  Niederschriften,  die  sich  statistisch  ver- 
werthen  liefsen.  Unter  einander  in  Zusammenhang  gebracht,  aus  den  Er- 
gebnissen der  Aufzeichnung  einer  Stadt  auf  ähnliche  Verhältnisse  in  einem 
anderen  Hafen  oder  Bezirke  schliefsend,  von  dem  Umsatz  eiiies  Geschäfts 
auf  den  gcsammten  Umsatz  aller  in  einer  Stadt  urtheilend  —  so  kann 
man  sich  in  tastendem  und  behutsamem  Vorgehen  denken  zu  Zusammen- 
stellungen zu  gelangen,  die  einen  annähernden  Ersatz  für  die  Leistungen 
einer  modernen  Handelsstatistik  abgeben  könnten. 

I.  Hier  stehen  nun  obenan  Zollaufzeichnungen.  Die  Zölle  bilde- 
ten das  ganze  Mittelalter  hindurch  die  Haupteinnahmequelle  der  Landes- 
herren und  Städte.  Eine  gewisse  Ordnung  des  Zollwesens  ergab  sich  mit- 
hin als  selbstverständliche  Nothwendigkeit.'  Es  mufsteu  Quittungen  aus- 
gestellt, die  Einnahmen  in  Register  eingetragen  werden.  Diesem  Umstände 
verdankt  man  werth volle  Angaben.  Kam  es  bei  diesen  Aufzeichnungen 
in  erster  Linie  auf  den  Nachweis  des  Geldwerthes  der  Eingänge  an ,  so  er- 
fährt man  doch  aus  ihnen  oft  die  Waare  selbst,  ihr  Gewicht,  die  Herkunft 
wenigstens  der  Kaufleute,  bei  Ausfuhrzöllen  auch  das  Bestimmungsland. 

Sehr  vollständig  haben  sich  solche  Niederschriften  in  England  erhalten. 
Auf  Anregung  des  Schatzamtes  sind  die  von  den  Zollbeamten  geführten 
Rechnungen  abgeschrieben  und  die  Abschriften  gesammelt  und  geordnet 
worden.  Als  sogenannte  »Enrolled  Account^  of  Customs«  werden  sie  in 
dem  Public  Record  Office  in  London  aufbewahrt.  Sie  gehen  zurück  bis 
in  die  Zeit  des  ersten  Eduard."  Wiederholt  hat  deutscher  Gelehrtenfleifs  aus 
ihnen  geschöpft  und  höchst  schätzenswerthe  Aufschlüsse  über  die  englisch- 
deutschen Handelsbeziehungen  gewährt.  So  Georg  Schanz  in  seinem  be- 
deutenden  zweibändigen  Werke   über  die   englische  Handelspolitik  gegen 


'    G.  Schanz,  Englische  Handelspolitik.    1881.    Bd.  II,  S.  i. 
'   Schanz,  a.a.O.  Bd. II,  S.i. 


6  W.  Stieda: 

Ende  des  Mittelalters  \  so  Karl  Kunze  in  seinen  werth  vollen  Hanse -Acten 
aus  England.^ 

Wir  wissen  nun ,  dafs  an  der  englischen  Wollausfiihr  des  Jahres  1277 
Italien  mit  30,  Frankreich  mit  22,  Holland  mit  21,  Deutschland  mit  11, 
Brabant  mit  10  Procent  betheiligt  waren.'  Auch  in  der  WoU-  und  Häute- 
ausfiihr  eines  einzelnen  Hafens,  Newcastle  on  Tyne,  sind  in  den  Jahren 
1294 — 1298  Kaufleute  aus  Italien  meist  betheiligt.*  Gegen  das  Jahr  13 10 
aber  hat  sich  das  Bild  so  weit  geändert ,  dafs  an  der  aus  Boston  ausgeführten 
Wolle  —  im  ganzen  2545  Sack  —  mehr  als  der  dritte  Theil  auf  deutsche 
Kaufleute,  der  Rest  auf  alle  anderen  fremden  Kaufleute  entf&Ut.^  So  sehr 
waren  noch  während  der  Regierung  Richard's  II.  die  deutschen  Kaufleute 
den  einheimischen  an  Unternehmungsgeist  überlegen,  dafs  in  22  Jaliren 
(^377  —  ^399)  die  ersteren  aus  Boston  41772  Stück  Tuch,  die  letzteren 
nur  12614,  sonstige  Fremde  gar  nur  1105  Stück  ausfiihrten.*  In  Kingston 
upon  Hüll  freilich  hatten  zu  gleicher  Zeit  die  Engländer  die  Oberhand.' 

Und  gehen  wir  ein  Jahrhundert  weiter,  so  ist  es  an  der  Hand  von 
Auszügen  aus  den  »enroUed  accounts«  möglicli,  sich  den  commerciellen 
Aufschwung  Grofsbritanniens  unter  den  beiden  ersten  Tudors  sehr  deutlich 
klar  zu  machen.  Hob  mit  ihnen  eine  neue  Zeit  an,  die  das  ökonomische 
und  geistige  Leben  rascher  pulsiren  liefs,  auf  allen  Gebieten  die  überkom- 
menen Anschauungen  und  Zustände  zerbröckelte,  so  können  wir  nun  auch 
beurtheilen,  inwieweit  sich  ihre  Handels-  und  Wirthschaftspolitik  bewährte. 
Schon  vor  ihnen  war  man  auf  das  eine  Ziel  losgesteuert,  den  englischen 
Artikeln  und  Manufacten  den  Eingang  in  andere  Länder  freizuhalten,  neue 
Verkehrswege  ihnen  zu  eröffnen,  überhaupt  den  englischen  Unterthanen 
mögliclist  günstige  Bedingungen  des  Absatzes  ihrer  Erzeugnisse  zu  sichern. 
Ihnen  gelang  es  jetzt,  diesen  Gedanken  mit  mehr  Energie  und  Nachdruck 
zu  vertreten,  in  der  Schiffahrtspolitik,  im  Industrieschutz,  im  Fremden- 
recht eine  ftir  England   besonders  günstige  Wendung  herbeizuÄhren.     In 


^  Leipzig  i88t. 

*  Halle  a.  S.  1891. 

•  Kunze,  a.a.O.  S. 332. 

*  Kunze,  a.  a.  O.  S.  333. 
'  Kunze,  a.a.O.  S.  345. 

•  Kunze,  a.  a.  0.  S.  360. 
^  Kunze,  a.a.O.  S.  363, 


Über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  7 

den  neun  exfiten  ßegierungsjahren  Heinrich's  VH.«  in  der  die  chaotischen  Zu- 
stände,  wie  sie  die  langen  Bürgerkriege  erzeugt  hatten,  beseitigt  werden 
mulsten,  warf  der  WaarenzoU  noch  nicht  mehr  als  20000  PAind  Sterling 
j&hrlidi  durchschnittlich  ab.  In  den  leti^ten  fünfzehn  Jahr^i  seiner  R^e- 
rung  aber  offenbarte  sich  ein  Aufschwung,  der  weit  in  die  Regierungszeit 
des  Sohnes  hineinreichte.  Die  ZoUeinnahmen  stiegen  auf  26000  und  27000 
Pfimd  Sterling  j&hrUch.  Dann  machte  sich  in  der  Zeit  von  1521  bis  1530 
die  Verderblichkeit  des  Wolsey'schen  Regiment«  kund.  Schlechte  Ernten 
schwächten  die  Zahlungsfähigkeit  der  Bevölkerung  und  liJunten  die  Indu- 
strie. Der  Handel  gieng  zurück.  Dafür  aber  zeigt  die  letzte  Lebenszeit 
Heinrich 's  VIII.  eine  entsdiiedene  Blfithe.  Die  von  Thomas  CrcMnwell  kurz 
vor  seanem  Sturze  durchgesetzte  Gleichstellung  der  Fremden  mit  den  Ein- 
heimischen steigerte  den  Waarenhandel  zu  einer  vorher  nicht  gekannten 
Höhe.  In  den  Jahren  1538 — 1547  wurden  durchschnittlich  30100  Pfund 
Sterling  vereinnahmt.^ 

Der  Wollexport  gieng  in  dieser  Zeit  zurück ;  aber  der  Tuchexport  blühte 
auf  und  die  Einheimischen  lagen  ihm  stfti*ker  ob  als  die  Fremden,  mit  Ein- 
schlufs  der  Hanseaten.  Sie  fahrten  unter  Heinrich  VIII.  55080  Stüdc,  die 
letztesten  43000  äus.^  Im  Häuteexport  stehen  sidi  Fremde  und  Einheimische 
fast  gleich,  mit  leisem  Übergewicht  der  ersteren.  Den  Zinn-  und  Wachs- 
handel beherrschen  die  Fremden,  den  Weinhandel  die  Engländer.^ 

Was  die  Gunst  der  Verhältnisse  in  England  erhalten  bat,  wird  anderswo 
nicht  angetroffen.  Wenigstens  ist  nicht  bekannt,  da&  in  den  Archiven  noch 
derartige  Schatze  vorhande«  wären,  die  verdienten  gehoben  zu  werden. 

Die  Erhebung  des  Zolls  scheint  auf  deutschem  Boden,  obwohl  gewi& 
nicht  minder  häufig  als  anderswo,  in  höchst  einfacher  Weise  sich  vollzogen 
zu  haben.  Die  Thätigkeit  des  Zollschreibers  bestand  fast  ausschliefslich 
in  der  Aufzeichnung  der  Summen ,  die  einkamen  und  über  die  in  bestimmten 
Zeiträumen  Rechenschaft  abgelegt  werden  mufste.  Der  Erlös  jedes  Tages 
—  so  beschreibt  Lamprecht*  den  Vorgang  —  wurde  in  die  verschlossene 
Zollkiste  geworfen,  deren  Öffnung  nur  mit  mehreren  Schlüsseln  möglich 
war.    Vierteljährlich  oder  monatlich  —  das  letztere  seltener  —  wurde  die 


»  G.  Schanz,  a.  a.  O.  Bd.  1,  S.  674  u.  ff.;  Bd.  II,  S.  13. 

«  G.  Schanz,  a.  a.  O.  Bd.  II,  S.  r8. 

*  G.  Schanz,  a.  a.  O.  Bd.  II,  S.  148,  126,  155. 

*  Deuteches  Wirthschaftsleben  im  Mittelalter,   1885.  Bd.  Jl,  S.  239. 


8  W.  Stieda: 

eingegangene  Einnahme  gezählt,  ihre  Gröfse  protokollarisch  festgestellt  und 
die  Summe  vom  Zollvorstand  in  Verwahrung  genommen.  Eine  weitere 
Buchung  der  Tages-  und  Wochenerträge  etwa  oder  gar  der  einzelnen  Ein- 
nahmen unter  Aufzählung  der  Waaren ,  von  denen  der  Zoll  entrichtet  wurde, 
scheint  nicht  üblich  gewesen  zu  sein. 

Demgemäfs  ist  an  Zollordnungen  kein  Mangel,  von  Zollregistem  in 
dem  letzterwähnten  Sinne  wird  nichts  gemeldet.  Wenn  einmal  gerade  dieser 
Ausdruck  in  einer  officiellen  Auslassung  gebraucht  wird,  wie  z.  B.  in  dem 
Privileg  des  Königs  Christian  von  Dänemark  fBLr  die  Kaufleute  aus  Am- 
sterdam vom  Jahre  1461,  so  ist  darunter  der  Tarif  verstanden.*  Auch 
die  dankenswerthen  Verzeichnisse  archivalischer  Schätze^  haben  sie  ebenso 
wenig  nachzuweisen  vermocht  wie  die  jüngsten  Geschichtsschreiber  unserer 
wichtigsten  ZöUe.^  Es  läfst  sich  den  vorhandenen  Quellen  wohl  manche 
bemerkenswerthe  Einzelheit  der  Zolltechnik  oder  Zollpolitik,  über  die  Waa- 
ren ,  den  Verzollungsmodus ,  die  Transportmittel  u.  s.  w.  entnehmen.  Zu  einer 
Aufstellung  der  Zollerträge  reichen  die  Angaben  auch  noch  aus.  Aber  zu  einer 
Berechnung  des  Handelsumsatzes  auf  Grund  derselben  scheinen  die  Daten 
doch  zu  unsicher. 

Lamp recht  hat  versucht,  aus  den  Zolleinnahmen  bei  Oberlahnstein 
in  der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  den  Werth  des  auf  dem  Rhein 
an  dieser  Stelle  sich  abspielenden  Waaren  Verkehrs  zu  berechnen,  indem  er 
den  Zolltarif  in  der  Höhe  von  2,25  Procent  des  Waaren werthes  zu  Grunde 
legt.*  Auch  hat  er  nach  dem  Koblenzer  Zoll,  wo  ein  Tarif  von  8.8  Pro- 
cent des  Werthes  in  Kraft  stand ,  den  jährlichen  Umsatz  des  auf  dem  Biiein 
sich  bewegenden  Verkelirs  für  mehrere  Jahrhunderte  ermittelt.'  Er  findet 
eine  sehr  bedeutende  Entwickelung  des  Verkehrs  von   1310 — 1464/65. 

Sind  diese  Aufstellungen,  obwohl  an  sich  durchaus  glaublich,  doch 
mit  Vorsicht  aufzunehmen,  so  haben  die  aus  einzelnen  Hafenstädten  an  der 
Ostsee  auf  uns  gekommenen  Angaben  gröfsere  Glaubwürdigkeit.    Die  ZoU- 


I 


^  Hansisches  Urkundenbuch ,  Bd.  VIII ,  Nr.  1093 :  doch  also  dat  se  uns  van  allen  gu- 
deren  unnsen  geborliken  tollen ,  nacbdeme  unse  registere ,  dar  wii  dat  eyne  äff  hebben  unde 
de  genante  stad  van  Amstelredam  dat  ander.    Nr.  1094. 

*  Armin  Tille,  Übersicht  über  den  Inhalt  der  kleineren  Archive  der  Rheinprovinz,  1899. 

*  Theo  Sommerlad,  Die  RheinzoUe  im  Mittelalter,  1894.  —  Bernhard  Weifsen- 
born,  Die  Eibzolle  und  Elbstapelplätze  im  Mittelalter,   1900. 

*  A.  a.  O.  Bd.  II,  344. 
A.  a.  O.  Bd.  11,  S.  349. 


Über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  9 

bücher  und  Zollquittungen,  die  in  Folge  des  von  dem  Hansebunde  ein- 
geführten Pfundzolls  angeordnet  und  ausgestellt  wurden ,  bieten  eine  brauch- 
bare Grundlage. 

Die  genannte  Abgabe  wurde  von  Ausfuhr  und  Einfuhr  genommen, 
über  ihre  Erträge  auf  den  Städtetagen  abgerechnet,  um  dem  Bunde  seinen 
Antheil  zukommen  zu  lassen.  Die  Waaren  sind  meistentheils  nicht  nam- 
haft gemacht.  Einige  Male  werden  sie  angegeben  neben  der  Bezeichnung 
des  Werthes  oder  statt  derselben.  Ungefllhr  läfst  sich,  da  der  Zoll  in  einem 
bestimmten  Verhältnifs  vom  Werth  des  Umsatzes  genommen  wurde,  aus 
den  Erträgen  auf  die  Höhe  des  Außenhandels  schliefsen.  Ich  habe  ver- 
sucht, derartige  höchst  mühselige  Berechnungen  anzustellen  und  glaube  zu 
einigen  beachtenswerthen  Ergebnissen  gekommen  zu  sein.  Lübeck  spielt  in 
der  zweiten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  die  erste  Rolle.  Der  Werth  seines 
Aufsenhandels  beläuft  sich  auf  bald  5  Millionen  Mark  heutiger  deutscher 
Reichs wälirung ,  zehn  Jahre  später  doch  immer  noch  auf  4  Millionen  Mark. 
In  Stralsund  schwankt  der  Werth  zwischen  2  und  3  Millionen  und  in  Rostock, 
das  offenbar  erst  im  1 5 .  Jahrhundert  einen  grOfseren  Aufschwung  entfaltet, 
bleibt  er  regelmäisig  unter  einer  Million.^ 

2.  Nicht  minder  gut  können  Schiffahrtsregister  zur  Herstellung 
einer  Handelsstatistik  benutzt  werden.  Darunter  sind  die  in  den  einzelnen 
Hafenstädten  geführten  Verzeichnisse  zu  verstehen,  welche  die  ein-  und  aus- 
gehenden Schiffe,  getrennt  nach  Bestimmungsplätzen  oder  Herkunftsorten 
und  in  der  Regel  mit  Angabe  der  Ladung  nachweisen.  Auch  ihre  Nieder- 
schrift ist  kaum  von  dem  Wunsche  angeregt  worden,  sich  über  die  Stärke 
des  Verkehrs  mit  bestimmten  Gegenden  unterrichten  zu  wollen.  Vielmehr 
sind  diese  Listen  lediglich  einem  praktischen  Bedürfnisse  entsprungen ,  der 
Noth wendigkeit  nämlich,  sich  zum  Zwecke  der  Versteuerung  über  die 
Zahl  der  ein-  und  ausgelaufenen  Fahrzeuge  zu  vergewissern.  Die  Erhebung 
eines  Zolls  ist  es  gewesen,  die  die  Anlage  derartiger  Register  zu  einer 
unerläfslichen  Maferegel  gemacht  haben  mufs.  Man  mufste  darüber  klar 
sehen,  wieviel  Schiffe  im  Hafen  vor  Anker  giengen,  wie  grofs  ihr  eigener 
Werth  und  der  ihrer  Ladung  war.  Vielleicht  empfand  man  es  auch  als 
zweckmäfsig,    sich    über    den    in   den    einzelneu   Theilen   des   Jahres   ver- 

*    Willi.  Stieda,    Revaler  ZoUhücher   und   -Quittungen    des    14.  Jahrhunderts,   1887 
S.  LVII. 

Phil.-hi8t.  Mh.  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter.    1902.    IL  2 


10  W.  Stieda: 

schieden  starken  Besuch  des  Hafens  zu  belehren ,  um  darnach  die  wahr- 
scheinlichen Einnahmen  eines  bestimmten  Z^tabschnitts  ungefähr  berech- 
nen  zu  können. 

Freilich  konnte  dieser  fisealisebe  Zweck  schon  in  yerh&ltnÜkmafsig 
einfacher  Weise  erreicht  werden.  Man  brauchte  nur  fortlaufend  auf  einem 
Blatt  Papier  oder  in  einem  Buch  den  Moment  der  Ankunft  oder  des  Ab- 
gangs eines  Schiffs  nebst  Art  und  Werth  der  Ladung ,  welche  verzollt 
werden  sollte,  sowie  den  Zollbetrag  festzuhalten.  Es  ist  daher  sehr  fraglich, 
ob  vollständige  Schiffahrtsregister  überall  vorhanden  gewesen  sind  und  bei 
Anordnung  eines  Zolls  gleich  eingerichtet  wurden.  An  vielen  Orten  wird 
man  sich  mit  einer  Aufzeichnung,  die  weniger  mühselig  und  umständlich 
war,  den  hauptsächlichen  Zweck  jedoch  erföUte,  begnügt  haben.  That- 
sächlich  scheinen  sich  derartige  Register  nur  vereinzelt  erhalten  zu  haben. 
Ich  kann  sie  nur  in  den  Archiven  von  Lübeck,  Danzig  und  Reval  nadi- 
weisen,  und  es  ist  mir  nicht  bekannt,  wo  und  ob  sie  in  aufiserdeutschen 
Archiven  sich  vorfinden.  Ein  Bruchstück  eines  Registers  aus  Greifswald 
vom  Jahre  1388  ist  einmal  veröffentlicht  worden.^ 

In  Lübeck  beginnen  diese  Register  im  Jahre  1368  und  ersteecken  sich, 
wenn  auch  in  leider  ofl  unterbrochener  Folge  bis  in  die  erste  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts.  Nicht  inuner  ist  jedem  Jahre  ein  besonderer  Band  ge- 
widmet, sondern  bezieht  der  eine  oder  andere  dieser  in  pergamentnen  Um- 
schlag gehüllten  Folianten  sich  auf  zwei  oder  mehrere  Jahre.  Die  Einträge 
scheiden  sich  in  die  über  die  auslaufenden  und  die  über  die  eingehenden 
Schiffe.  Die  Schiffsladungen  und  die  Namen  der  Eaufleute,  denen  die  ein- 
zelnen Gegenstände  gehören,  der  Werth  der  Waaren  und  der  Zoll,  der  ent^ 
richtet  werden  mulste,  sind  in  der  Regel  vermerkt.  Bisweilen  sind  nicht 
alle  Bestandtheile  einer  Ladung  angegeben,  sondern  wird  Verschiedenes 
declarirt.  Kurz,  es  treten  zweifellos  die  Momente  entgegen,  die  zur  Auf- 
stellung einer  Handels-  und  Schiffahrtsstatistik  in  modernem  Sinne  nöthig 
sind.  Gewifs  vräre  es  wünschens werth ,  dals  eine  jüngere  Kraft  einmal 
diesen  Reichthum  an  Daten  im  Zuisammenhange  verarbeitete. 

Beispielsweise  sei  hervorgehoben,  dafis  im  Jalire  1368  in  Lübeck  423 
Schiffe  eingiengen  und  871  ausliefen.  Es  fehlt  die  Möglichkeit  des  Ver- 
gleichs mit  anderen  Häfen,  und  man  weifs  daher  nicht,  ob  diese  Zahlen 


Pyl,  Pommersche  Geschichtsdenkmäler  II,  S.  113 — 115. 


Über  die  Quellen  der  HandelsstatisHk  im  Mittelalter,  11 

eine   grofse  oder  geringe  Frequenz  andeuten.     Bemerkens werth   aber   ist, 
dafs  gerade  Scandinaviens  HSfen  ein  erhebliches  Contingent  stellen. 

Es  kamen  aus     und     waren  bestimmt  nach^ 

2  2  Schiffe 
14       . 
18       » 


(Jothland 

271 

Schiffe 

Kalmar 

15 

Stockholm 

43 

Suderköping 

12 

Westerwik 

2 

Kopenhagen 

I 

Bergen 

10 

Norrköping 

I 

Nyköping 

6 

Schonen 

47 

Ellebogen 

21 

160      » 

9       - 

In  seinem  vortrefflichen  Buche  über  die  Lübecker  Bergenfahrer  hat 
Friedrich  Bruns  diese  Register  zu  einer  Darstellung  des  Waarenverkehrs 
zwischen  Lübeck  und  Bergen  im  letzten  Drittel  des  14.  Jahrhunderts  be- 
nutzt.^ Er  kommt  zu  dem  bemerkens werth en  Ergebnils,  dafs  der  durch- 
schnittliche Werth  der  Schiffsladung  sich  bei  der  Ausfuhr  erheblich  niedri- 
ger als  bei  der  Einfuhr  herausstellt. 

Hundert  Jahre  später  erscheint  Danzigs  Schiffsverkehr  auf  Grundlage 
der  erhaltenen  Register  noch  nicht  einmal  sehr  viel  bedeutender.  Es  kom- 
men in  den  Jahren  1474 — 1476  zwischen  4(X) — 634  Schiffe  ein,  in  den 
Jahren  1490 — 1492  aber  verlassen  zwischen  562 — 720  Schiffe  jährlich  den 
Hafen.  Von  den  letzteren  ist  nur  selten  ihr  Bestimmungsort  angegeben. 
Aus  der  Liste  der  eingegangenen  Schiffe  erhellt,  dafs  Danzig  nur  geringen 
Verkehr  mit  Norwegen  pflegte ,  dafs  es  im  dänischen  Handel  hinter  den  wen- 
dischen Städten  zurückbleibt,  jedoch  sehr  lebhafte  Beziehungen  zu  Schwe- 
den unterhielt.  Nicht  weniger  als  15  schwedische  Hafenplätze  werden  ge- 
nannt.    In   der  Einfuhr  spielen  Laken,   Salz,   Heringe,   Osemund  (Eisen), 

^  Wilhelm  Stieda,  SchifTahrtsregister  in  •  Haasische  Geschichtsbl&tter« ,  Jahrgang 
1884,  8.  St. 

^  Berlin,  1900,  8.  XXXff.  Bruns  nennt  die  Bucher  •  Zollregister«  und  mag  damit 
den  Zweck,  dem  sie  zu  dienen  bestimmt  waren,  wohl  zutreffend  bezeichnet  haben.  In  der 
Thai  aber  dienen  sie  auch  dem  Nacliweis  der  Schiffahrtsbewegung,  und  so  mag  es  erlaubt 
sein  die  obige  Bezeichnuitg  «ofrecht  zu  halten. 


12  W.  Stieda: 

Pferde,   in   der  Ausfuhr  Getreide   und   Holz,  Pech,  Theer,  Asche,  Flachs, 
Garn,  Hanf  die  wesentlichste  Rolle.* 

In  Verbindung  mit  solchen  Schiffahrtsregistem  stehen  die  jüngst  ver- 
öflFentlichten  Revaler  Frachtverzeichnisse.*  Sie  sind  zwar  undatirt,  vom 
Herausgeber  Dr.  Koppmann  in  die  Zeit  um  etwa  1430  verlegt,  und  be- 
ziehen sich  nur  auf  eine  kleine  Zahl  von  Schiffen,  die  damals  in  den  Re- 
valer Hafen  eingelaufen  sein  mögen.  Es  ist  nicht  recht  ersichtlich,  welchem 
Zwecke  jene  Aufzeichnung  hat  dienen  sollen.  Dafs  man  sie  dort  oder  in 
anderen  Hansestädten  regelmäfsig  zu  machen  pflegte,  läfst  sich  kaum  an- 
nehmen. Fest  jedoch  steht  soviel,  dafs  es  sich  um  einen  Theil  der  Schiffe 
handelte,  die  zur  lübischen  Handelsflotte  gehörten.  Jedenfalls  erhält  man 
durch  sie  eine  Bestätigung  der  Kenntnifs  von  den  Waaren ,  die  Lübeck  dem 
Osten  zukommen  zu  lassen  doch  wohl  die  Gewohnheit  hatte.  An  Nahrungs- 
und Genufsmitteln  gelangten  Hering,  Salz,  Honig  und  ein  nicht  näher  er- 
klärtes Getränk  »wiinetekes«  zur  Ausfuhr.^  Der  Honig,  der  hiernach  an- 
geblich in  grofsen  Massen  von  Lübeck  nach  Reval  gekommen  sein  sollte 
es  sind  ganze  Insten  nachgewiesen  —  dürfte  richtiger  als  Honigseim  ge- 
deutet werden,  d.  h.  Meth.  Es  gab  in  Lübeck  ein  besonderes  Gewerbe  der 
Honigseimer,  d.  h.  der  Rath  hatte  verschiedenen  Häusern  die  Befugnifs  zur 
Bereitung  dieses  Getränks  verliehen,  die  an  denselben  als  Gerechtsame  haf- 
tete.^ Meth  ging  viel  nach  Nowgorod,  und  so  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  dafs 
in  den  abgedruckten  Frachtverzeichnissen  nicht  Honig,  sondern  Honigseim 
gelesen  werden  mufs.  Bedeutsam  ist,  dafs  in  diesen  Verzeichnissen  viele  Fabri- 
kate genannt  sind,  von  denen  man  freilich  nicht  weifs,  ob  sie  nicht  auch  theil- 
weise  Durchfuhrgut  waren.  Als  gewerbliche  Erzeugnisse  sind  aufzufassen :  Tuch, 
Leinwand,  Blech,  Kessel,  Schwerter,  Sättel,  Filzhüte,  Nägel,  Äxte,  Kleider, 
Bilder,  Oblaten.  Was  in  den  »bereven«  oder  »drogen«  Tonnen,  in  den  »packen« 
und   »packeel«  enthalten  gewesen  sein  mag,  mufs  dahingestellt  bleiben.^ 


^  Victor  Lauf f er,  Danzigs  Schiffs-  und  Waarenverkehr  am  Ende  des  15.  Jahrhun- 
derts.    1893,  S.  7,  9,  II,  23,  29,  39. 

*  Uanserecesse,  1.  Abtheilung,  Bd.  8,  Nr.  769,  770,  771. 
'    •14  iechgeien  wiinetekes«  a.a.O.  Nr.  769  §76. 

*  Wehrin  an  n,  Die  älteren  Lübeckischen  Zollrollen.     2.  Aufl.     1872,  S.  285. 

^  Die  Schifferbucher,  von  denen  uns  R.  Ehrenberg  in  den  Mittheilungen  des  Vereins 
für  Hamburgbche  Geschichte,  Bd.  4,  S.  374f.  berichtet,  beziehen  sich  gröfstentheils  auf  das 
17.  Jahrhundert.  Ernst  Baasch  hat  aus  ihnen  (Zeitschrift  des  Vereins  für  Hamburgische 
Geschichte  Bd.  9,  8.  245  f.)  eingehende  höchst  lehrreiche  Zusanuneostelluiigen  veröffentlicht. 


Über  die  Quellen  der  Handehstatv^tik  im  Mittelalter.  13 

3.  Haben  wir  in  dem  Vorstehenden  Quellen  von  allgemeiner  Bedeu- 
tung kennen  gelernt,  so  kommen  wir  bei  den  Schadensverzeichnissen 
einzelner  Kaufleute  oder  Gruppen  von  Kaufleuten  zu  solchen  von  mehr 
individueller  Wichtigkeit.  Wenn  Schiffe  untergegangen  oder  geraubt  sind, 
so  pflegten  die  Betroffenen,  die  Waaren  auf  den  verlorenen  Fahrzeugen 
gehabt  hatten,  Verzeichnisse  derselben  zu  entwerfen,  um  im  Falle  der  Ber- 
gung ihre  Rechte  geltend  machen  oder  sie  von  der  feindlichen  Macht  re- 
clamiren  zu  können.  Auf  diese  Weise  gewinnen  wir  alsdann  von  den  Waaren, 
die  auf  gewissen  Strecken  befördert  zu  werden  pflegten,  von  den  Mengen 
und  ihren  Werthen  eine  annähernde  Vorstellung.  Natürlich  kann  nicht  von 
dem  einzelnen  Vorkommnifs  auf  die  Regelmäfsigkeit  geschlossen ,  nicht  ohne 
weiteres  von  dem  grofeen  oder  geringen  Waarenquantum  im  speciellen  Falle 
auf  die  Bedeutung  des  Artikels  in  dem  betreffenden  Verkehr  überhaupt  ge- 
folgert werden.  Aber  wenn  man  nun  verschiedene  Schadensnachweise  aus 
verschiedenen  Handelsrichtungen  oder  auf  derselben  Strecke  aus  verschie- 
denen Jahrhunderten  zur  Verfugung  hat,  so  gewinnt  man  doch  Anhalts- 
punkte genug,  um  von  einer  systematischen  Massenbeobachtung  der  Handels- 
bewegung reden  zu  können. 

Derartige  Aufzeichnungen  sind  in  den  Urkundenbüchem  der  zum  Ge- 
biete der  Ost-  und  Nordsee  gehörenden  Städte  sowie  in  den  Recessen  der 
Hansetage  mehrfach  veröffentlicht,  und  aufserdem  besitzen  von  dieser  Sorte 
die  Archive  noch  viele  Schätze.  Es  wäre  fiir  die  Kenntnifs  des  Waaren- 
verkehrs  sicher  nicht  unverdienstlich ,  sie ,  soviel  man  ihrer  habhaft  werden 
kann,  an's  Tageslicht  zu  ziehen  und  vergleichend  zu  bearbeiten. 

Da  verunglückte  z.  B.  im  Jahre  1345  ein  Hamburgisches  Schiff  vor  der 
Maas.  Ein  Theil  der  Mannschaft  wurde  dabei  erschlagen.  Es  werden  uns 
gegen  30  Befrachter  genannt,  die  Pelzwerk,  schwedisches  Kupfer  und  Kupfer 
aus  Goslar,  Thran,  Schinken  und  Leinwand  für  Flandern  bestimmt  hatten. 
Auch  gemünztes  Gold  und  Barrensilber,  mit  denen  man  vermuthlich  Einkäufe 
im  fremden  Lande  hatte  machen  sollen,  waren  untergegangen.* 

Ein  volles  Jahrzehnt  später  haben  Thorner  Kaufleute  es  erleben  müssen, 
dafs  ein  von  ihnen  befrachtetes  Schiff  an  der  schwedischen  Küste  wegge- 
nommen wurde.^  Da  König  Magnus  bereit  war,  den  Schaden  zu  ersetzen,  er- 


*    Hansisches  Urkundenbuch ,  Bd.  III,  Nr.  63. 
'*    Hansisches  Urkundenbuch,  Bd.  III,  Nr.  360. 


14  W.  Stieda: 

schienen  zwei  Thorner  Bürger  als  Bevollmächtigte  der  betroffenen  25  Schicksals- 
genossen y  um  die  Entschädigung  in  Empfang  zu  nehmen  oder  wenn  möglich, 
die  geraubten  Güter  selbst  zurückzuerhalten.  Kupfer,  Wachs ,  Pelzwerk ,  aber 
auch  Grewürznelken  und  nicht  weniger  als  zwei  Tonnen  und  zwei  Fa&  Wurm- 
kraut, desgleichen  Goldmünzen  und  Barrensilber  bildeten  die  Gregenstände 
des  Verkehrs. 

Im  Verkehr  Livlands  mit  der  Hanse  —  es  ist  nicht  gesagt,  wohin 
speciell  die  Schiffe  bestimmt  waren  —  wurden  in  den  neunziger  Jahren  des 
14.  Jahrhunderts  drei  Schiffe  von  den  Mecklenburgern  gekapert,  in  denen 
für  15000  Mark  Lübecker  Waaren  sich  befanden.  Pelzwerk,  Talg,  Butter, 
Fett,  Salz  waren  auf  diesem  Wege  zum  Austausche  ausersehen,  wobei  nur 
aufOlllt,  dafs  Salz  nach  Westen  verschifft  werden  sollte/  In  dem  wenige 
Jahre  später  niedergeschriebenen  Schadensverzeichniis  Dorpater  Eaufleute 
von  1406  findet  sich  eine  Bestätigung  der  geschilderten  Waarenbewegung, 
indem  Pelzwerk  in  allen  nur  gangbaren  Sorten  und  Wachs  die  Ausfuhr- 
gegenstände von  Dorpat  sind.^ 

Die  für  gewöhnlich  aus  Danzig,  d.  h.  also  aus  den  preußischen  Städten 
exportirten  Waaren  erföhrt  man  durch  eine  Au&tellung,  die  .bei  Gelegen- 
heit der  Aufbringung  von  G^ld  zur  Ausrüstung  der  Admiralschiffe  gemacht 
würde.*  Es  sind  ausschliefslich  Rohstoffe,  wie  Weizen-  und  Roggenmehl, 
Butter,  Flachs,  Wachs,  Pech,  Theer,  Eisen,  Kupfer,  Pelze,  Asche  und  vor 
allen  Dingen  Holz  in  vielen  verschiedenen  Sorten ,  als  Wagenschofs ,  Bogen-, 
Knarr-,  Klapper-,  Riemenholz  und  Dielen.*  Die  Schadensverzeichnisse  Danziger 
Kaufleute  über  die  ihnen  in  den  Jahren  1396  — 1434  im  Bereich  der  scandi- 
navischen  Staaten  zugefögten  Vergewaltigungen ,  die  ernste  Verluste  erkennen 
lassen^,  bringen  zwar  hierför  keine  Bestätigung.  Denn  in  diesen  Fällen 
drehte  es  sich  um  Importgüter.  Da  fiel  z.  B.  ein  mit  Baie-Salz  geladenes 
Schiff,  das  auf  Rechnung  eines  Danziger  Hauses  nach  Pemau  bestimmt 
war,  einem  Seeräuber  in  die  Hände,  der  es  aufbrachte  und  dem  Bischöfe 
Peter  von  Roeskilde  überliefs.    Ladung  und  Schiff  wurden  auf  1 200  Nobeln 


^    Hanserecesse,  I.  Abtheiluog,  Bd.  IV,  Nr.  640. 

'  Hansereoesse,  I.  Abtfaeüuog,  Bd.  V,  Nr.  442.  Über  die  damals  im  Handel  gangbaren 
Sorten  vergl.  das  Verzeichnifs  in  Stieda,  Revaler  ZollbQcber  und -Quittungen.  1887.  S.  127. 

'  Hanserecesse,  I.  Abtheiluog,  Bd.  VIII,  Nr.  216.  Ober  das  Hok  als  Gegenstand  des 
Handels  vergl.  Hirsch,  Handels-  und  Gewerbegeschichte  Danzigs.     1858.     8.  253. 

^    Hanserecesse,  II,  Abtheilung,  Bd.I,  Nr«  381, 


TJber  die  Quellen  der  Handels^tatistik  rni  Mittelalter.  15 

bewerthet.  Im  flbrigen  hatten  Einfuhr-  und  Ausfiihrgfiter  den  Beifall  der 
Scandinavier  gefiinden  und  war  den  Fahrzeugen  der  Hanseaten  ohne  Ge» 
genwerth  entnommen  worden:  Heringe  und  andere  Fische,  Wachs,  Pelz* 
werk,  Butter,  Tuchgewand  (englisches  und  schottisches),  Pfeffer,  Confect 
und  sonstiges  GrewQrz,  englisches  Zinngeschirr,  HOizer  aller  Art,  Leinwand 
und  Seilerartikel,  Armbrüste,  Wein  und  öl,  Mützen  und  Hosen,  Papier 
und  rohe  Baumwolle,  Hopfen  und  Salz.  Einen  besonders  guten  Fang  machte 
der  KOnig  von  Dfaiemark,  als  er  gegen  den  25.  Juli  1427  eine  Flotte  von 
16  Fahrzeugen,  die,  mit  Salz  aus  der  Baie  beladen,  den  Sund  nach  PreuTsen 
und  Livland  passiren  wollte,  aufbringen  liefs. 

Dagegen  zeigen  die  Aufzeichnungen  der  Danziger  über  die  ihnen  von 
den  Engländern  im  Jahre  1487  zugefügten  Schäden  augenscheinlich  ihre 
Ausfuhr  oder  Durchfuhr  an.^  An  Nahrungsmitteln  werden  Roggen  und  Fisch 
genannt.  GrOfser  ist  die  Zahl  der  Rohstoffe,  als  Pelzwerk,  Holz,  Theer, 
Thran,  Pech,  Flachs,  Eisen,  Wachs  aus  Reval.  Auch  Industrieproducte 
kommen  zur  Ausfuhr,  nämlich  Schreibpulte,  Bemsteinpaternoster,  Leinwand, 
Garn,  Canevas.  Interessant  ist  die  Ausfuhr  von  Färbemitteln,  wie  Lack* 
mus  (litmosz),  Lasur  und  Waid  (wede).^ 

Was  von  PreuJ&en  aus  ostwärts  nach  Reval ,  vermuthlich  auch  welter 
nach  Nowgorod  gieng,  ergibt  sich  aus  den  Ladungen,  die  durch  die  Aus- 
lieger  der  im  Jahi*e  1430  kriegführenden  Städte  weggenommen  wurden.* 
Da  kommen  unter  den  Nahrungs-  und  Genufsmitteln  vor:  Bier,  Hopfen, 
Heringe,  Störrogeu,  Salz  und  rother  Russcher  Wein  (wyn).  Bei  letzterem 
dürfte  aber  kamn  an  Wein  russischer  Herkunft  zu  denken  sein ,  zu  welcher 
Annahme  der  Wortlaut  die  Hand  bieten  könnte ,  sondern  wenn  überhaupt 
die  Handschrift  richtig  gelesen  worden  ist,  wäre  auf  Wein  aus  Roussillon 
zu  schliefen.*  Sehr  zahbeich  sind  in  diesem  Falle  die  Industrie -Artikel, 
nämlich:  Kannen,  Schüsseln,  Teller,  Brotmesser,  Lattennägel,  Steigbügel 
(stegerepen) ,  Eisendraht,  Kleiderkisten,  Schreibpulte,  Spielbretter  (voelde- 
taffel),  englische  Laken,  Leinwand,  Stockbret,  Hosen,  Gürtel  und  Kürschner- 
arbeiten. 


'    Hanserocesse ,  III.  Abtiieilung,  Bd.  II,  Nr.  163,  510. 

*  Lackmus   wird  aus  Flechten  und  Moosen   der  Kilsten  Schwedens   und  Norwegens 
gewonnen. 

'    Hanserecesse ,  I.  Abtheilung,  Bd.Vill,  Nr.  780. 

*  AI.  Henderson,  Geschichte  der  Weine.    1833.    S.  193. 


16  W.  Stieda: 

Doch  nicht  nur  der  Handel  aus  den  östlichen  Hansestädten  erfalirt 
durch  die  Schadensverzeichnisse  Beleuchtung.  Der  Verkehr  im  Westen  selbst 
oder  dahin  wird  ebenfalls  aufgeklärt.  Zwischen  Holland  und  England  geht 
auf  Rechnung  eines  Duisburger  Hauses  ein  Handel  mit  rheinischem  Wein 
vor  sich ,  den  der  deutsche  Kaufinann  wohl  zuvor  nach  holländischen  Häfen 
hatte  verbringen  lassen.^  Hamburg  wiederum  verschifft  in  der  zweiten 
Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  nach  England:  Lackmus  (vom  Herausgeber 
als  Litmos  bezeichnet),  Waid,  Leinwand  und  Stockfisch.*  Von  Bremen 
endlich  wurde  im  Jahre  1402,  wie  aus  ihren  Klagen  über  die  ihnen  von 
den  Engländern  widerrechtlich  weggenommenen  Gütern  erhellt,  nach  England 
bestimmt  oder  von  dort  bezogen :  Weizen  und  Gerste ,  Roggen  -  und  Weizen- 
mehl, Felle  und  gesalzene  Häute,  Leinwand  und  Waid,  Wachs  und  Holz 
sowie  die  nicht  näher  zu  erklärenden  sechs  Last   «mortinsen«.* 

Ein  schweres  Unglück  traf  die  Lübecker,  die  im  Jahre  1468  ein  statt- 
liches Schiff  nach  Reval  ausgerüstet  hatten,  das  leider  an  der  schwedischen 
Küste  von  den  Fluthen  des  Meeres  in  den  Abgi'und  gerissen  wurde.  Nicht 
weniger  als  62  Kaufleute  haben  Schaden  erlitten  und  geben  die  Marken, 
mit  denen  die  Güter  gezeichnet  waren,  zu  Protokoll,  wahrscheinlich  in  der 
stillen  Hoffnung,  dafs,  wenn  die  gierige  See  wieder  etwas  herausgeben  sollte, 
ihre  Ansprüche  sofort  klargestellt  seien.  Aus  dem  im  Anhange  i  zum 
ersten  Male  veröffentlichten  Document  hört  man  einmal  genauer,  was  die 
reiche  Handelsstadt  Lübeck  den  zahlungsfähigen  Abnehmern  im  Osten  zu 
schicken  pflegte.  Da  sind  Metalle  wie  Kupfer  und  Quecksilber,  Halb- 
fabricate  wie  Weifsblech  und  Eisendraht  genannt.  Femer  sollten  dem 
Absätze  entgegengefiihrt  werden:  Tücher  aller  Art  aus  Ulm  und  Erfurt, 
Flandern  und  England,  Leinwand  aus  Perleberg  in  der  Mark  Brandenburg, 
Lübeck,  Münster  und  Holland,  Hopfen  und  Honigseim,  letzteres  nicht  we- 
niger als  52  Last,  d.  h.  bald  700  Tonnen.  Dazu  kommen  viele  kleinere  in- 
dustrielle Erzeugnisse  als  Papier,  Kämme,  Riemen,  Nadeln,  Messer,  Schlösser, 
Spiegel,  Gürtel,  Beutel,  Kessel,  Pfannen,  Rosenkränze  aus  Korallen,  nicht  zu 
vergessen  Gewürze  aller  Art.  Einen  Werth  haben  die  Kaufleute  nicht  ange- 
geben. Sicher  kämen  aber  grofse  Beträge  zusammen,  wenn  man  an  eine  Bewer- 
thung  der  auf  dieser  unglücklichen  Fahrt  vernichteten  Waaren  denken  wollte. 


^  Hanserecesse ,  111.  Abtheilung,  Bd.  II,  Nr.  117. 
*  Hanserecesse,  ITT.  Abtheilung,  Bd.  II,  Nr.  124. 
'    Hanserecesse,  111.  Abtheilung,  Bd.V,  Nr.  445. 


V* 

über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  17 

Umgekehrt  zeigen  die  Nachweise  der  in  den  gestrandeten  Schiffen  des 
Hans  Schacke  befindlichen  Waaren  uns,  was  aus  Rufsland  und  Livland 
nach  Deutschland  geschickt  zu  werden  pflegte.  Die  Verzeichnisse,  die  im 
Anhang  2  abgedruckt  sind,  beziehen  sich  auf  ein  VorkommniXs  im  Jahre  1493 
und  ergänzen  auf  diese  Weise  ganz  gut  die  auf  ein  Jahrhundert  früher  sich 
erstreckenden  Nachrichten.  Wieviel  Falu^euge  unter  der  Fuhrung  des 
Schiffers  Schacke  bei  Gotland  veininglückten ,  ist  uns  nicht  mitgetheilt,  so 
dafs  Betrachtungen  über  die  Zahl  der  Beiader  und  den  Gesammtwerth  der 
genannten  Waaren  unterbleiben  müssen.  Es  sind  noch  immer  vorzugsweise 
Rohstoffe,  die  der  Osten  spendet  und  die  einer  Verwerthung  im  Westen 
entgegengefiihrt  werden.  Dahin  gehören  Flachs,  Wachs,  Asche,  Talg, 
Thran,  Zeelspeck,  Eisen  (osemund).  Als  Halbfabricate  erscheinen  Kabel- 
garn, Flachsgarn,  Leder,  Häute,  von  denen  Elendshäute,  russische  und 
gesalzene  Häute  namhaft  gemacht  werden,  und  vor  allen  Dingen  Pelzwerk, 
Marder,  Eichhörnchen  (grau werk),  Lammfelle  (smaschen),  Hermelin,  Wiesel 
(lasten),  Otter  (menk),  d.  h.  kostbare  und  geringere  Sorten  kommen  auf 
den  westeuropäischen  Markt.  Nicht  unbedeutend  sind  auch  die  Nahrungs- 
mittel,  die  die  im  Uberflufs  schwelgende  osteuropäische  Bevölkerung  her- 
zugeben vermag:  Roggen  und  Buchweizen,  Fische  von  allen  Sorten,  als 
Flachfisch,  Flunder  (butte),  Hecht,  Lachs,  aufserdem  Butter  und  nun  sogar 
Meth.  Fabricate,  wenn  man  nicht  die  Chorkappe  von  Grauwerk  als  solche 
ansehen  will,  fehlen  ganz.  Denn  was  Kord  Monterd  aufser  dem  Pelz- 
werk in  seinem  Fasse  hat,  wie  braunes  Tuch  oder  ein  silberner  Löffel, 
war  wohl  die  Habe  eines  von  längerem  Aufenthalte  in  der  Fremde  heim- 
kehrenden Hanseaten.  Auch  die  Bibliothek ,  deren  Verlust  Peter  Possyck 
zu  beklagen  hatte  (eyne  kiste  mit  gepeented  boken),  trat  wohl  nur  eine 
Rückreise  an. 

Endlich  eine  Erinnerung  an  ein  im  Jahre  1546  an  der  finnischen  Küste 
gestrandetes  Schiff,  das  von  4 2  Kaufleuten ,  gröfstentheils  Lübeckern  und 
neun  Hamburgern,  beladen,  entweder  för  Rufsland  oder  für  Schweden  be- 
stimmt war.  Das  Reichsarchiv  in  Stockholm  hat  uns  die  Kunde  von  diesem 
Verlust  aufbewahrt.  Das  darüber  aufgezeichnete  Actenstück  ist  im  An- 
hang 3  zum  ersten  Male  abgedruckt.  Aufifallenderweise  hatte  das  Schiff 
viel  Geld  an  Bord.  Nicht  weniger  als  3650  Thaler,  aufserdem  drei  Beutel 
Geld,  deren  Inhalt  nicht  angegeben  ist  und  8  Pfund  Gold,  werden  an- 
gefiihrt.      Im    übrigen    sind  Tuche,    deutschen    und    englischen    Ursprungs, 

PÄt/.-Ä«/.  Abh.  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter.    1902.    II.  3 


18  W.  Stieda: 

von  letzteren  zähle  ich  270  Stücke,  in  den  glänzendsten  Farben:  lichtblau, 
papageiengrün,  leibfarben,  feinroth,  goldgelb  u.  s.  w.  Sammet,  Damast, 
Seidengewand,  Hosen,  Wämmser  und  andere  Kleider  der  Hauptbestand- 
theil  der  Ladung.  Gewürze  spielen  bei  dieser  Gelegenheit  nur  eine  be- 
scheidene Rolle.  An  Metallen  hatte  das  Schiff  Zinn  und  Blei  sowie  die 
Halbfabricate  Weifsblech  und  Messingdraht.  Von  Industrie -Erzeugnissen 
waren  nur   »etlich  schuhe  und  pantoffeln«    und  Papier  an  Bord  gewesen. 

Ein  Mangel  aller  dieser  Nachrichten  bleibt,  dafs  wir  nicht  wissen, 
wieviel  Schiffe  in  jedem  Jahre  die  Fahrt  über  die  Ostsee  oder  nach  Westen 
zu  machen  pflegten.  Ferner  dafs  von  den  angegebenen  Mengen  nicht  auf 
den  ganzen  Verkehr  geschlossen  werden  kann.  So  haben  mithin  die  er- 
wähnten Verzeichnisse  nur  die  Bedeutung,  dafs  man  die  Art  der  Waaren- 
gattungen  feststellen  kann. 

4.  Die  gleiche  Beschränkung  gilt  fiir  die  Handelsbücher,  deren  Inhalt 
handelsgeschichtlich  und  statistisch  aufserordentlich  wichtig,  uns  doch  ver- 
hältnilämäisig  selten  seither  zugänglich  gemacht  worden  ist. 

Lange  bevor  ein  Luca  Pacioli  die  Theorie  der  Doppelbuchhaltung  sy- 
stematisch flxirte,  sind  natürlich  von  Kaufleuten  Bücher  geführt  worden. 
Zuerst  scheinen  sie  bei  den  Geldwechslern  üblich  gewesen  zu  sein,  die 
Leihgeschäfte  vermittelten  und  das  darauf  bezügliche  Schuldverhältnifs  in 
ihre  Bücher  eintrugen.  Für  Italien  wenigstens  haben  wir  sichere  Anzeichen, 
dafs  man  dort  bereits  im  14.  Jahrhundert  ganz  allgemein  Handelsbücher 
kannte.*  Doch  haben  sich  wenige  dieser  kostbaren,  von  ihnen  oder  von 
Waarenhändlern  gewährten  Documente  erhalten. 

Das  älteste  ist  das  Fragment  eines  Florentiner  Handlungsbuches  schon 
aus  dem  Jahre  1 2 1 1 .  Es  zeigt  nach  Sieveking^  eine  ausgebildetere  Technik 
der  Buchfthrung  als  spätere  deutsche  Bücher  und  wurde  von  einer  nicht 
näher  bezeichneten  Bankiergesellschaft  gefuhrt.  Dieselbe  trieb  wesentlich 
Darlehnsgeschäfte.  Sieveking  berichtet  uns  auch  von  Florentiner  Hand- 
lungsbüchern des  13.  und  14.  Jahrhunderts,  unter  denen  er  die  von  der 
Gesellschaft  der  Peruzzi  um  1339  namhaft  macht.*  Erhalten  haben  sich 
ferner  venetianische  Handelsbücher  aus  den  Jahren  1410 — 14 16  und  1406 


*  Lettere  di  Mercanti  Toschani,  scritte  nel  secolo  XI V'.    Venedig  1869. 

*  Aus  venetianischeD  Handlungshüchern  in  »Jahrbuch  f&r  Gesetzgebung,  Verwaltung 
und  Volkswirthschafl«,  herausgegeben  von  Schmoller,  Bd. 25,  S.  1494. 

*  A.  a.  O.  S.  1498. 


1 

■ 

J 


Über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  19 

bis  1434  (Donado  Soranzo),  1436 — 1439  (Jacob  Badoer),  1430 — 1449  (An- 
drea Barbarigo)  und  1456 — 1482  (Nicolo  Barbarigo).  Eine  Edition  dieser 
zweifellos  hochbedeutsamen  Documente  ist  angeregt.  Aus  den  Büchern  des 
Soranzo  hat  Sieveking  dankenswerthe  Auszöge  geliefert/ 

Für  Frankreich  sind  die  ältesten  bis  jetzt  bekannten  die  auf  die  Ge- 
schäfte einer  Vereinigung  von  Juden  in  Vesoul  in  der  Franche  -  Comte  sich 
beziehenden  Rechnungsbücher.^  Das  eine,  von  Heliot  (Elias)  de  Vesoul 
gefuhrt,  erstreckt  sich  auf  die  Jahre  1300 — 1306,  das  andere,  wahrschein- 
lich von  seinem  Sohne  Vivant  geschrieben,  umfafst  die  Jahre  1300 — 13 18. 
Sie  wurden  vermuthlich  confiscirt,  als  König  Philipp  V.  von  Frankreich  im 
Jahre  1321  die  Juden  verjagte.  In  hebräischer  Sprache  abgefafst,  sind  sie 
nicht  wörtlich  veröffentlicht  worden,  was  ja  auch  ihre  Benutzung  keines- 
wegs erleichtert  haben  würde.  Vielmehr  hat  dankenswertherweise  der  Her- 
ausgeber Auszüge,  ausfuhrlich  und  systematisch,  geboten,  die  vollständig 
ausreichen,  um  sich  von  der  Bedeutung  dieser  Handelscompagnie  ein  deut- 
liches Bild  zu  machen.  Die  Geschäfte  derselben  giengen  vorzugsweise  vor 
sich  im  Gebiet  des  heutigen  Departements  der  Haute -Saöne  sowie  theil- 
weise  der  benachbarten  Doubs,  Jura,  C6te  d'or  und  Haute -Marne  bis  in 
das  Departement  des  Vosges  nach  Norden  und  das  Departement  Saöne  et 
Loire  nach  Südwesten.  Sie  bestanden  im  Ausleihen  von  Geld  in  erster 
Linie,  woran  sich  ein  Handel  mit  Stoffen  und  Kleidern,  mit  Wein  und 
anderen  landwirthschaftlichen  Erzeugnissen  schlofs.  Auch  gegen  Pfänder 
Geld  zu  leihen,  verschmähten  sie  nicht,  wobei  lebendes  Vieh,  selbst  Schweine 
nicht  zurückgewiesen  wurden. 

Die  Kundschaft  unserer  Kaufleute  war  eine  umfangreiche  und  ver- 
schiedenartige. Grafen,  Barone,  Geistliche,  höhere  Würdenträger  so  gut 
wie  einfache  Bürger  und  arme  Leute  gehörten  zu  ihren  Klienten,  selbst 
Frauen  nahmen,  mit  zum  Theil  winzigen  Beträgen,  ihre  Zuflucht  zu  den 
bewährten  Geldmännern.  Wenn  aber  diesen  es  nicht  mehr  möglich  wurde, 
allen  an  sie  gestellten  Ansprüchen  zu  genügen,  so  wandten  sie  sich  an 
eine  Gesellschaft  von  Lombarden,  die  stets  bereit  waren,  mit  ihren  gröfseren 
Geldmitteln  einzuspringen. 


^    A.a.O.  Bd.  25,  S.1490;  Bd.  26,  8.189fr. 

*  Herausgegeben  von  Isidore  Loeb  in  der  Revue  des  etudes  juives  vol.  8  (1884), 
p.  160 — 196;  vol. 9,  p.  21 — 50,  187 — 213:  Deux  livres  de  commerce  du  commencement  du 
XIV«-  si^cle. 


20  W.  Stieda: 

Die  auf  uns  gekommenen  Bücher  waren  nicht  die  einzigen  der  Handels- 
gesellschaft. Sie  führte  offenbar  noch  andere ,  aus  denen  sie  zeitweilig  in 
die  erhaltenen  zu  übertragen  pflegte  oder  die  sie  neben  den  erwähnten  hielt. 
Das  ältere  von  den  geretteten  ist  ein  Tagebuch,  in  das  täglich  Eintragungen 
vorgenommen  zu  werden  pflegten,  doch  schon  mit  den  Anfängen  einer  nicht 
zu  verkennenden  Ordnung.  Denn  dasselbe  ist  nach  den  Orten,  wo  die 
Kunden  safsen,  auseinandergehalten  und  überdiefs  ist  bei  den  einzelnen 
Personen  ein  Zwischenraum  freigelassen,  offenbar  in  der  Absicht,  spätere 
Geschäfte  mit  derselben  Person  an.  der  gleichen  Stelle  nachtragen  zu  können. 
Die  Eintragung  erstreckt  sich  jedesmal  auf  den  geliehenen  Betrag,  den 
Namen  des  Schuldners,  dessen  Wohnsitz,  etwaige  Zeugen  oder  Bürgen  und 
den  Termin,    an   dem   das  Darlehen  gewährt  oder  zurückerstattet  wurde. 

Das  jüngere,  das  den  Zeitraum  von  13CK) — 13 18  umfalst,  erscheint 
dann  nach  dem  Herausgeber  als  eine  Art  Hauptbuch.  Ohne  nämlich  sich 
an  eine  chronologische  Reihenfolge  zu  halten,  sind  die  auf  eine  Person 
bezüglichen  Operationen  zusammengestellt.  Dabei  ist  gleichzeitig,  soweit 
die  Kaufleute  es  erfahren  mochten,  der  Zweck  der  Anleihe  angegeben. 

Ins  südliche  Frankreich  ftüirt  das  Zweitälteste  Handelsbuch,  von  dem 
sich  in  dem  Einbände  eines  alten,  den  Archiven  von  Forcalquier  (Departe- 
ment Basses -Alpes)  angehörenden  Registers  ein  Bruchstück  gefunden  hat.* 
Es  erstreckt  sich  nur  auf  einen  kurzen  Zeitraum,  die  Jahre  1330 — 1332, 
und  ist  von  dem  Tuchhändler  Hugo  Teralh  geführt.  Mit  Ausnahme  ein- 
zelner kleinerer  lateinisch  oder  hebräisch  geschriebener  Posten  sind  die  Ein- 
tragungen in  provencalischer  Sprache  erfolgt.  Sie  beziehen  sich  auf  die  Nam- 
haftmachung  des  Käufers,  des  Gegenstandes,  des  Datums,  an  dem  die  Zah- 
lung erfolgen  soll  und  desjenigen,  an  dem  sie  wirklich  eintrat.  Das  Sonder- 
bare ist  hierbei ,  dafs  die  Käufer  zum  Theil  selbst  in  das  Buch  des  Meisters 
Teralh  eintragen  mufsten,  also  gleichsam  über  ihre  eingegangene  Verpflich- 
tung ein  Zeugnifs  abgaben.  Die  wenigen  Blätter,  die  vollständig  zum  Ab- 
drucke gelangt  sind,  sind  höchst  lehrreich  für  das  ältere  Tuchgeschäft, 
namentlich  fiir  den  Handel  mit  Tuchen  aus  Languedoc,  über  den  wir  ebenso 
mangelhaft  wie  über  den  von  Artois  und  Flandern  unterrichtet  sind.    Von 

^  Herausgegeben  durch  Paul  Meyer  in:  Notices  et  Extraits  des  Manuscrits  de  la 
biblioth^que  nationale  vol. 36,  p.  129  u.  f.  Le  livre «Journal  du  maitre  Ugo  Teralh,  notaire 
et  drapier  a  Forcalquier;  vergl.  auch  C.  Peter  Kheil,  V^alentin  Mennher  und  Antich  Rocha, 
Prag  1898,  8.  47  und  Hoitzmann  in  der  Deutschen  Litteratur- Zeitung  1899,  Bd.  20,  $.989, 


Über  die  Quellen  der  HandehstaÜstik  üu  Mittelalter,  21 

« 

einer  Buchführung  im  kaufmSnnischen  Sinne  ist  bei  diesem  Buche ,  im  Gegen* 
säte  zu  dem  vorhergehenden,  nicht  die  Rede. 

Ebenfalls  aus  dem  südlichen  Frankreich  stammt  das  Handelsbuch  der 
Gebrüder  Bonis  in  Montauban  in  der  Gascogne.  Genauer  mü&te  es  heifsen : 
das  Buch  des  Barthelemy  Bonis,  denn  der  andere  Bruder,  Geraud,  der  an 
dem  Geschäfte  bethe\ligt  war,  hatte  schon  einige  Jahre,  nachdem  das  vor- 
liegende Buch  begonnen  wurde,  das  Zeitliche  gesegnet.  Die  Bonis  trieben 
Gommissions-  und  Geldhandel  und  sind  am  besten  als  lombardische  Händler 
charakterisirt.  Das  von  ihnen  erhaltene  Buch  war  sicher  nicht  ihr  einziges. 
Es  beginnt  mit  Eintragungen  im  Jahre  1345,  weist  aber  UbertrSge  aus 
einem  älteren  sub  B.  angeföhrten  Buche  aus  dem  Jahre  1339  auf.  Wenn  es 
aber  ein  Buch  B.  gab,  so  mufs  natürlich  auch  noch  eins  sub  A.  dagewesen 
sein.  Neben  dem  abgedruckten,  das  der  Herausgeber  als  C.  bezeichnet, 
war  aber  noch  ein  Livre  des  Depots  vorhanden.  Dieses  geht  im  Jahre  1347 
an,  hört  im  Jahre  1368  auf  und  weist  die  Depositengeschäfte  von  Klöstern 
oder  Privatpersonen  nach,  die  in  besonderen  Fällen,  etwa  bei  Erbtheilungen, 
baares  Geld  niederlegten  und  die  Bonis  mit  der  Verwaltung  desselben  betrauten. 

Forestie'  nennt  das  von  ihm  vollständig  veröffentlichte  Buch,  das  1345 
beginnt  und  1369  aufhört,  ein  Hauptbuch:  »un  veritable  grand- livre  de 
marchand«.  Man  findet  bei  jedem  Kunden,  obwohl  nicht  einem  jeden  ein 
besonderes  Blatt  eingeräumt  wird,  alle  die  Operationen,  die  er  mit  den 
Bonis  gemacht  hat,  vereinigt  nachgewiesen,  übertragen  augenscheinlich  aus 
Hülfsbüchern  (manuels),  die  daneben  gefuhrt  wurden.  Unter  einander  steht, 
was  der  Kunde  schuldet,  mit  den  Worten:  »Item  deu«,  eingeleitet  und 
was  er  zu  fordern  hat,  durch  die  Worte:  »E  nos  a  lu«  angezeigt.  Eine 
umfangreiche  Einleitung  aus  der  Feder  des  Herausgebers  hat  geschickt  ver- 
standen, den  grofsen  Reich thum  an  Nachrichten  aller  Art,  die  die  Hand- 
schrift birgt,  in  ihrer  Bedeutung  zu  beleuchten. 

Ein  viertes  französisches  Handelsbuch  erscheint  in  denjenigen ,  das  der 
Kaufmann  Jacme  Olivier  in  Narbonne  am  Ende  des  vierzehnten  Jahrhun- 
derts hinterlassen  hat.*    In  derselben  Weise,  wie  bei  dem  vorhergehenden 


r 

'  Edouard  Forestie,  Les  livres  de  compte  des  fr^res  Bonis,  marchands  Montalbanais 
du  XIV'*"*  si^cle,  1890 — 1894,  2  vols.  in:  Archives  Historiques  de  la  Gascogne,  Fascicules 
20,  23,  26  abgedruckt. 

'  Alphonse  Blanc,  le  livre  de  comptes  de  Jacme  Olivier,  inarchand  narbonnais  du 
XIV**"*  siede.    Paris  1899.  Tome  2. 


22  W.  Stieda: 

Buche  geschildert,  werden  die  mit  einem  jeden  Kunden  abgeschlossenen 
Geschäfte  im  Soll  und  Haben  unter  einander  mitgetheilt.  Demnach  setzt 
auch  dieses  Handelsbuch  die  Führung  von  anderen  Hülfsbüchern  voraus ,  aus 
denen  gelegentlich  Übertragungen  in  das  Hauptbuch  vorgenommen  werden 
konnten.  Von  der  auf  drei  Bände  berechneten  Publication  ist  bis  jetzt  ein 
Band  erschienen,  der  den  Text  nebst  einer  Anzahl  kaufmännischer  Docu- 
mente  aus  dem  Archiv  zu  Narbonne  enthält. 

Die  Einleitung,  die  es  ermöglichen  wird,  mit  den  Besonderheiten  der 
Handschrift  vertraut  zu  machen,  steht  noch  aus.  Klar  erkenntlich  ist  in- 
defs  so  viel,  dafs  Ober  den  Tuchhandel  von  Languedoc  ungeahnte  Aufschlüsse 
gewährt  werden,  <lie  zugleich  erlauben,  von  dem  Handel  in  Narbonne  selbst 
eine  andere  Vorstellung  zu  gewinnen,  als  es  nach  dem  nicht  unverdienst- 
lichen Buche  von  Celestin  Port  möglich  ist.* 

Die  deutsche  Litteratur  hat  bis  jetzt  nicht  so  umfangreiche  und  so  be- 
merkenswertlie  Handlungsbücher  an  die  Öffentlichkeit  gebracht.  Auch  lassen 
die  bis  jetzt  bekannten  keine  so  entwickelte  Buchftihrung  erkennen  wie 
bei  den  französischen. 

Die  beiden  ältesten  Bücher  sind  die  der  Wittenborg's  in  Lübeck,  Vater 
und  Sohn,  von  welchem  der  erste  Theil  in  die  Zeit  vor  1338  fallt,  der 
zweite  sich  auf  die  Jahre  1346 — 1360  bezieht  und  das  des  Johann  Tölner 
in  Rostock,  das  den  Zeitraum  von  1345 — 1350  umfafst. 

Das  von  Hermann  Wittenborg  herrührende  Buch^  ist  undatirt,  weist 
aber  einige  datirte  Einträge  aus  den  Jahren  1329,  1331,  1332  und  1336 
auf  und  da  er  selbst  zwischen  dem  14.  Juni  1337  und  dem  29.  März  1338 
starb,  so  mufs  dasselbe  aus  den  ersten  Jahrzehnten  des  14.  Jahrhunderts 
stammen.  Mollwo  meint  von  ihm^,  dafs  es  im  Anfange  der  Entwickelung 
regelmäfsiger  Buchführung  im  Hansegebiet  zu  stehen  scheine  und  knüpft 
daran  einige  Bemerkungen  über  die  wahrscheinliche  Entwickelung  der  Buch- 
führung. —  Allein  ich  furchte,  dafs  diese  Behauptungen  sich  nicht  aufrecht 
halten  lassen  werden.  Denn  die  Niederschrift  Hermann  Wittenborg's  ist  über- 
haupt kein  eigentliches  Handelsbuch,  sondern  lediglich  ein  Nachweis  seiner 
ausstehenden  Forderungen ,  indem  gleichzeitig  seine  Betheiligungen  an  ver- 
schiedenen Handelsgesellschaften  unter  einander  aufgeführt  sind.    Zu  irgend 


^    Essai  sur  l'histoire  du  commerce  maritime  de  Narbonne.    Paris  1854. 

'   Carl  Mollwo,  Das  Handlungsbuch  von  Hermann  und  Johann  Wittenberg.    1901. 

»   A.  a,  O.  S.  XXX VHl. 


Über  die  Queüen  der  Handehstaiistik  im  Mittelalter.  23 

einer  Zeit  ereehien  es  ihm  wünschenswerth,  sich  über  den  Stand  seiner  Activa 
klar  zu  sein,  und  zu  diesem  Zwecke  fertigte  er  dieses  Register  an.  In  der 
umständlichen  Form  seiner  Zeit  hat  er  sich  nicht  damit  begnügt,  einfach 
den  Betrag,  den  man  ihm  noch  schuldete,  einzutragen,  sondern  in  vielen 
Fällen  das  Geschäft,  aus  dem  die  Verbindlichkeit  herrührt,  notirt.  Er  hatte 
z.B.  dem  Kopekin  Hoykendorpe  lo  Mark  geliehen,  dafür  nach  einiger  Zeit 
för  8  Mark  Wolle  und  Schafe  erhalten,  so  dafs  ihm  sein  Schuldner  2  Mark 
schuldig  geblieben  ist.  Nun  schreibt  er  nicht  diesen  Betrag  hin,  sondern 
die  Operation,  aus  der  die  Schuld  von  2  Mark  resultirt.^ 

Dafs  auf  diese  Weise ,  wenn  man  alle  seine  Activa  addiren  wollte ,  ein 
artiges  Sümmchen  erscheinen  würde,  macht  mich  nicht  an  der  Richtigkeit 
meiner  Auffassung  irre.  Denn  Hermann  Wittenborg  war,  wie  MoUwo  selbst 
bemerkt*,  ein  vermögender  Mann.  Nur  ein  solcher,  der  überdiefs  sein  Geld 
in  vielen  kleinen  Beträgen  ausstehen  hat,  kommt  auf  den  Gedanken,  sich 
über  den  Stand  seines  Vermögens  orientiren  zu  wollen. 

In  diesem  Sinne  scheinen  mir  auch  die  Eintragungen  der  Wittwe  Witten- 
borg verstanden  werden  zu  müssen ,  und  erst  mit  dem  Sohne  Johann  Witten- 
borg beginnt  seit  1346  eine  Buchführung,  die  sich  über  alle  Geschäfte  aus- 
läfst,  die  nicht  Zug  um  Zug  abgeschlossen  wurden,  sondern  bei  denen  ein 
Rest  zu  Gunsten  Wittenbergs  bleibt.  Selbst  hierbei  sind  aber  die  ersten 
Einträge  noch  im  Sinne  der  Aufzeichnung  des  Vaters  eine  Übersicht  über 
seine  Zinseinnahmen  und  Renten  aus  Häusern.^ 

Moll  wo  macht  uns  nun  darauf  aufmerksam,  dafs  das  Buch  sicli  nur 
mit  den  Geschäften  befasse ,  bei  denen  Wittenborg  keine  volle  Baarzalilung 
gegeben  oder  erhalten  hat.*  Ich  glaube,  dafs  man  hierin  eine  der  Wurzehi 
der  Buchfuhnmg  zu  erblicken  hat.  Geschäfte,  die  Zug  um  Zug  g^g^n  baar 
oder  im  Austausch  erledigt  wurden,  hielt  man  zu  notiren  ursprünglich  nicht 
für  erforderlich.  Wo  dagegen  ein  Guthaben  ausstand,  wurde  es  zweckmäfsig, 
um  es  nicht  in  Vergessenheit  gerathen  zu  lassen  oder  auch  um  ein  Aner- 
kenntnifs  der  Verbindlichkeit  zu  besitzen,  es  aufzuschreiben.  Der  Proven<?ale 
Hugo  Teralh  liefs  sogar  seine  Schuldner  sich  selbst  in  sein  Buch  eintragen 
und  mehr  als  100  Jahre  später  ist  bei  Ott  Ruland  diese  Art  der  Bescheini- 


*  Moll  wo,  a.  a.  O.  S.  3.  Nr.  17  und  18. 
«  A.  a.  O.  S.  IV. 

'  Moiiwo,  a.  a.  O.  8.  12  und  13.  Nr.  i — 6. 

♦  A.  a.  O.  S.  XLl. 


24  W.  Stieda: 

guug  noch  nicht  ganz  aus  der  Mode  gekommen.  Erst  ein  weiteres  Stadium, 
wie  man  es  bei  dem  freilich  gleichzeitigen  Tölner  wahrnehmen  kann,  giebt 
dann  über  alle  Geschäfte  und  ihre  Abwicklung  Auskunft. 

Ferner  liegt  eine  andere  Ursache  in  der  Aufzeichnung  von  Inventaren. 
Wenn  es  als  noth wendig  erachtet  wurde ,  sich  oder  Anderen  über  den  Stand 
einer  Wirthschaft  oder  eines  Vermögens  Belehrung  zu  schaffen ,  so  war  es 
nur  ein  Schritt  weiter,  auch  das  Bewegliche  oder  sich  Bewegende  regelmäfsig 
aufzuzeichnen.^  Übersichten,  wie  sie  z.B.  in  den  Rechnungen  des  Deutschen 
Ordens  sich  erhalten  haben,  dürften  einer  Buchfiihrung  vorausgegangen  sein. 
Die  Niederschrift  von  Inventaren  und  ähnlichen  Aufzeichnungen  geht  in  sehr 
alte  Zeiten  zurück. 

Moll  wo  weist  dann  daraufhin,  dafs  in  dem  ältesten,  noch  ungedruck- 
ten lübeckischen  Rechnungsbuche  die  hauswirthschaftlichen  Eintragungen 
überwiegen ,  auch  bei  Wittenborg  anfangs  häufiger  sind  und  später  sich  ver- 
lieren.^ Er  hat  es  nicht  ausgesprochen^,  aber  wenn  damit  hat  angedeutet 
werden  sollen,  dafs  aus  der  privaten  Buchftihrung  die  geschäftliche  und 
kaufmännische  hervorgegangen  wäre,  so  möchte  ich  dem  widersprechen. 
Die  officielle  Rechnungslegung,  sei  es  eine  Rechnungsführung  über  fremdes 
Gut  oder  zum  Zwecke ,  sich  mit  anderen  auseinanderzusetzen ,  wie  es  bei  den 
Handelsgesellschaflien  nöthig  wurde,  ist  die  ältere.  So  wie  heute  Millionen 
Familien  gar  kein  Bedürfnifs  verspüren ,  sich  über  ihre  Einnahmen  und  Aus- 
gaben ziffermäfsig  zu  vergewissern,  so  war  es  in  jenen  Zeiten  gewifs  noch 
mehr  der  Fall.  Vom  Beamten  oder  Kaufinann,  der  gezwungen  oder  frei- 
willig eine  Buchführung  beginnt,  geht  die  Gewohnheit  auf  die  Privatwirth- 
schaften  über.  Das  älteste  bekamite  Ausgabenbuch  eines  deutschen  Privat- 
mannes stammt  aus  den  Jahren  1391 — 93*  und  die  eingehenderen,  die  eine 
gewisse  Übung  in  der  Führung  derartiger  Bücher  erkennen  lassen,  aus  dem 
Ende  des  15.  Jahrhunderts.  Die  Eintragung  von  hauswirthschaftlichen  Aus- 
gaben in  Handelsbucher  ist  nicht  so  sehr  eine  Unvollkommenheit  der  Buch- 
fllhrung,  als  dem  begreiflichen  Wunsch  des  Kaufinanns  entsprungen,  sich 
über  den  Verbleib  des  Erworbenen  zu  orientiren.    Sie  ist  auch  noch  in  spä- 

^    Äimlich  Sieveking,  a.  a.  O.  S.  1491  und  1492. 
»   A.  a.  O.  S.  XXXIX. 

"  Sieveking,  a.  a. O.  S.  1491  sapjt,  dafs  Aufzeichnungen,  die  sich  der  WirthschaiVnde 
zu  seinem  Privatgebrauch  machte,  den  Anfang  der  Buchführung  bildeten. 

*    Lamprecht,  Deutsches  Wirthschaftsieben  im  Mittelalter.    Bd.  2.  S.  542. 


Über  die  Quellen  der  Hcmdehstatistik  im  Mittelalter.  25 

teren  Büchern  des  1 5 .  Jahrhunderts  wahrzunehmen.  Nach  Mafsgabe  dessen, 
wie  der  Kaufmann  mehrere  Bücher  neben  einander  zu  führen  lernt ,  trennt 
er  dann  sein  Privatconto  von  dem  Geschäftsconto. 

Noch  eins  ist  bei  Wittenborg's  Buch  bemerkenswerth.  Es  fuhrt  uns 
die  Geschäfte  eines  wirklichen  Grofshändlers  vor,  der  mit  einer  verhältnifs- 
mäXsig  geringen  Zahl  von  Kunden  es  zu  thun  hat  und  für  seine  Zeit  ganz 
bedeutende  Abschlüsse  macht.*  Auf  ihn  pafst  jenes  von  den  Frankfurter 
Handelsherren  gesagte  Wort  nicht,  dafs  man  nicht  wisse,  ob  man  sie  unter 
die  Rentner,  Landwirthe  oder  Kaufleute  rechnen  solle.^  Er  war  sicher 
ein  Grofshändler,  und  es  ist  überhaupt  fraglich,  inwieweit  bei  ihm  oder 
anderen  Kaufleuten  vorkommende  Land-  oder  Immobilienkäufe  sie  ihres 
Charakters  als  Kaufleute  entkleideten.  So  wenig  wie  heute  Hamburger 
Grofskauf leute ,  die  sich  etwa  in  Mecklenburg  ankaufen,  deshalb  aufhören 
Kaufleute  zu  sein,  so  wenig  durfte  darin  im  14.  Jahrhundert  ein  Grund 
gegen  die   selbständige   Berufsstellung  des  Kaufmanns   zu   erblicken   sein. 

Ein  unverkennbarer  Fortschritt  zeigt  sich  schliefslich  in  dem  Witten- 
borg'schen  Buche  darin,  dafs  das  Deutsche  als  Geschäftssprache  überwiegt. 
Daraus  ergibt  sich  doch  wohl ,  dafs  die  Reclmungsfuhrung  aus  den  Händen 
der  gelehrten  Kleriker,  die  sich  des  Lateinischen  bedienten  —  man  kennt 
noch  heute  den  Ausdruck  »clerk«  für  den  kaufmännischen  Gehülfen  — , 
in  die  Hände  des  Kaufinanns  selbst  übergeht. 

Das  Tölner 'sehe  Buch  ist  nur  ein  Fragment*,  gleichwohl  von  der 
grofsten  Bedeutung.  In  lateinischer  Sprache  geführt,  gibt  es  nicht  nur 
Auskunft  über  die  Geschäfte  Tölner's  allein,  sondern  auch  über  die  Unter- 
nehmungen einer  Handelsgesellschaft,  deren  Mitglied  er  war.  Nach  diesen 
zerfallt  das  Buch  in  zwei  inhaltlich  verschiedene  Abschnitte.  Der  erste 
geht  auf  die  Societätsgeschäfte ,  der  zweite  auf  die  Privatgeschäfte  ein. 
In  beiden  herrscht  deutlich  das  Streben  vor,  eine  bestimmte  Ordnung  ein- 
zuhalten, die  an  die  Grundzüge  der  doppelten  Buchführung  erinnern.  Es 
wird  in  der  Hauptsache  jedes  Geschäft  f&r  sich ,  wenn  auch  nicht  auf  einem 
besonderen  Blatte ,  behandelt.  Jedes  Societätsgeschäft  wird  in  seiner  ganzen 
Abwickelung  zur  Darstellung  gebracht,  und  bei  den  Privatgeschäften  sind 
gewisse  Rubriken  auseinandergehalten,  die  die  Absicht  verrathen,  eine  be- 


»    Mollwo,  a.a.O.,  S.LXVI. 

*    BQcher,  Entstehung  der  V^olkswirthschaft,  1893,  S.  232. 

'    Karl  Kopp  mann,  Johann  Tölner's  Handlungsbuch  von  1345  — 1350.    Rostock  1885. 

Phü.'hist  Äbh.  nicht  zur  Akad,  gehör.  Gelehrter.    1902.    II.  4 


26  W.  Stieda: 

stimmte  Übersichtlichkeit  zu  gewähren.  So  zeichnet  Töbier  auf,  was  er 
für  die  Gresellschaft ,  an  der  er  betheiligt  ist,  ausgelegt  hat,  ein  anderes 
Mal  seine  Schuldner,  dann  wieder,  wie  er  ein  Quantum  englischen  Tuches 
gekauft  und  an  wen  er  es  in  einzelnen  Parcellen  verkauft  hat.  Es  ist 
demnach  nicht  unglaublich ,  dafs  Tölner  aufserdem  andere  Bücher  zu  fuhren 
pflegte.  Die  Gesellschaft,  der  sich  Tölner  angeschlossen  hat,  macht  aus- 
schliefslich  Geschäfte  in  Tuchen  aller  Art.  Sie  kauft  Tuchstoffe  in  Flandern 
ein  und  läfst  sie  in  Packen  nach  Rostock  kommen,  wo  sie  verkauft  werden. 
Innerhalb  des  Zeitraums,  über  den  die  Aufzeichnungen  Auskunft  geben, 
vom  8.  September  1345  bis  etwa  1348,  bezieht  sie  10  Packen  Tuch  im 
Werthe  von  4082  Mark,  die  fiir  6071  Mark  wieder  veräulsert  werden. 
Von  der  letzteren  Summe  geht  freilich  nicht  Alles  baar  ein,  sondern  bleiben 
Ausstände  im  Betrage  von  1494  Mark.  Das  Privatgeschäft  Tölner's  be- 
steht dann  darin,  dafs  er  das  Tuch  im  Detail  als  Wandschneider  absetzt. 
Zu  2,  3,  6,  i^,  2^  EUen  u.  s.  w.  sind  die  Verkäufe  vor  sich  gegangen, 
über  die  er  gewissenhaft  in  seinem  Rechnungsbuche  berichtet.  Ein  6e- 
sammtumsatz  läfst  sich  gleichwohl  aus  diesen  Eintragungen  nicht  berechnen, 
weil  die  jedesmal  hinzugefugte  Summe  oft  nicht  den  vollständigen  Kauf- 
preis angibt,  sondern  den  rückständigen  Rest  nach  Abzug  einer  auf  Ab- 
schlag geleisteten  Baarzahlung.  Aufser  mit  Tuch  handelt  unser  Kauftnann 
noch  mit  Holz  zu  Fenstereinfassungen ,  sogenannten  Borden  und  Böttcher- 
holz. Seine  Kundschaft  setzt  sich  aus  allen  Schichten  der  Gesellschaft  zu- 
sammen. Fürsten,  Adlige  und  Rathsherren  erscheinen  ebenso  wohl  als  seine 
Abnehmer  wie  die  Gewerbetreibenden,  von  denen  27  vei-schiedene  nam- 
haft gemacht  werden.  So  legt  das  Buch  deutlich  Zeugnifs  von  der  hohen 
gewerblichen  Entwickelung  der  Hansestädte   im  14.  Jahrhundert  ab. 

Bemerkenswerth  sind  die  von  C.  Sattler  in  so  vortrefflicher  Weise 
herausgegebenen  und  commentirten  Handelsrechnungen  des  Deutschen  Or- 
dens.' Zwar  bieten  sie  zum  Theil,  wie  die  Rechnung  des  Grofsschäffei-s 
ZU  Marienburg  vom  Jahre  1 399  ,  nur  einen  Überblick  über  den  Stand  der 
Geschäfte.  Indefs  schon  das  zweite  Rechnungsbuch  derselben  Grofsschäfferei 
vom  Jahre  1404^  versucht,  nachdem  eine  Übersicht  über  die  Lager,  Vor^ 
räthe  in  Danzig,  Elbing  u.  s.  w.  gegeben  ist,  eine  bestimmte  Ordnung -ein- 

*    Leipzig,  1887. 

"   Sattler,  a.a.O.,  S.  i  ff. 

'    Sattler,  a.a.O.,  S.yff. 


Über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  27 

zuhalten.  Die  Schuldner  sind,  wie  bei  dem  ältesten  französischen  Buche, 
nach  Orten  getrennt.  Auf  dem  gleichen  Grundsatz  ist  das  dritte  Rechnungs- 
buch von  1410 — 1418  aufgebaut \  nur  dafs  noch  mehr  Ortschaften  genannt 
sind  und  bei  einzelnen  zeitlich  spätere  Nachträge  dem  Stande  von  1410 
zugefögt  worden  sind. 

Eine  sehr  gute  Ordnung  weisen  alsdann  die  flandrischen  Liegerbücher 
seit  1391  auf.^  In  chronologischer  Reihenfolge  schreibt  der  Lieger  Johann 
Plige  an,  was  er  verkauft,  wieviel  er  baar  erhält,  wieviel  man  ihm  in 
jedem  Falle  schuldig  bleibt.  Den  Schlufs  aber  bildet  immer,  was  er  von 
dem  empfangenen  Gelde  dem  Grofsschäffer  abgeliefert  hat  und  wieviel 
dieser,  entsprechend  den  noch  nicht  eingegangenen  Forderungen,  zu  be- 
kommen hat.  Eine  Schlußabrechnung  für  jedes  Jahr  ist  unterlassen.  Gleich- 
wohl dürfte  es  dem  Buchhalter  kaum  schwer  geworden  sein,  zu  einer  be- 
stimmten Zeit  sich  über  den  Stand  gewisser  Geschäfte,  als  z.  B.  Verkauf 
von  Bernstein,  Kupfer  u.  s.  w.,  auszuweisen.  Ob  der  Lieger  daneben  an- 
dere Bücher  führte,  bleibe  dahingestellt.  Es  ist  wahrscheinlich.  Denn 
manche  Operation ,  über  die  er  alles  Zusammengehörige  unter  einander  be- 
richtet, konnte  nicht  auf  einmal  erledigt  werden.  Die  Zahlung  der  Un- 
kosten ,  Zölle  u.  s.  w.  wird  sich  über  mehrere  Tage  erstreckt  haben. 

Inhaltlich  sind  gerade  diese  Rechnungsbücher  von  der  allergröfsten 
Wichtigkeit.  Sie  rollen  ein  Bild  auf  von  dem  Verkehr  zwischen  den 
preufsischen  Städten  und  den  flandrischen.  Wir  erfahren  von  einem  leb- 
haften und  umfangreichen  Waarenverkehr,  der  uns  die  gegenseitige  Ab- 
hängigkeit deutlich  erkennen  lä&t. 

Den  Unterschied  zwischen  mehreren  Büchern  oder  Abschnitten  findet 
man  in  dem  der  Zeit  nach  dritten  deutschen  Handelsbuche,  dem  des 
Vicko  Geldersen  in  Hamburg  aus  den  Jahren  1367 — 1392.^  Das  Buch 
zerfallt  in  getrennte  Ausweise  über  Handelsgeschäfte ,  Rentenkäufe ,  Schulden 
und  letztwillige  Verfugungen.  Der  Gedanke  scheint  vorgeschwebt  zu  haben, 
innerhalb  dieser  Abschnitte  eine  genaue  Scheidung  der  einzelnen  Opera- 
tionen vorzunehmen.  Das  ist  jedoch  in  der  Durchfuhrung  nicht  gelungen. 
Das    Buch    bietet    in   seinen   einzelnen    Abschnitten    weder    chronologische 


^    Sattler,  a.a.O.,  S.48ff. 

*  Sattler,  a.a.O.,  S.  317 ff. 

•  Hans  Nirrnheim,  Das  Handlungsbuch  Vicko's  von  Geldersen.    Hamburg  1895, 

4* 


28  W.  Stieda: 

noch  systematisch  auseiiiandergehaltene  Daten.  Vermuthlich  wuchs  die 
Buchführung  dem  Ungeübten  über  den  Kopf. 

Unser  Hamburger  Kaufinann  war  ein  Wandschneider,  d.  h.  ein  Tuch- 
händler, der  das  en  gros  eingekaufte  Tucli  ellenweise  oder  in  ganzen  Stücken 
wiederverkaufte/  Zugleich  handelt  er  indeis  auch  mit  anderen  Waaren, 
wie  Bier,  Flachs,  BaumwoUe,  Krämerwaaren ,  Mineralien,  Metallen  u. s. w. 
Und  er  entwickelte  eine  sehr  umfassende  Wirksamkeit.  Der  mannigfache 
Inhalt  seines  Buches  gewährt,  wie  der  Herausgeber  ganz  richtig  betont^, 
einen  Einblick  in  den  Kleinbetrieb  mit  seinen  Sitten  und  Gepflogenheiten, 
sowie  in  den  Gang  des  damaligen  Welthandels  und  dessen  Formen.  Lehr- 
reich ist  die  Sprache ,  in  der  das  Buch  geführt  wurde.  Sie  ist  zu  Anfang  über- 
wiegend die  lateinische,  wird  aber  allmählich  eine  niederdeutsche.  Also  die 
gleiche  Erfahrung,  die  wir  schon  anderswo  gemacht  haben,  wird  hier  bestätigt. 

Gewähren  die  vorstehend  charakterisirten  Bücher  Auskunft  über  nord- 
und  ostdeutsche  Handelsverhältnisse,  so  eröffnen  zwei  andere  uns  den  süd- 
deutschen Verkehr.  Aus  dem  Buche  der  Regensburger  Kaufleute  Wilhelm 
imd  Matthäus  Runtinger^,  deren  Geschäfte  sich  über  die  Jahre  1383 — 1407 
erstrecken ,  sind  Auszüge  veröff'entlicht.  Das  in  deutscher  Sprache  geföhrte 
Buch  weist  die  Anfange  einer  einheitlichen  Ordnimg  unverkennbar  auf.  In 
einer  Überschrift,  ist  gewöhnlich  der  Name  dessen,  mit  dem  das  Geschäft 
abgeschlossen,  dessen,  der  Geschäfte  besorgt  hat,  sowie  der  Ort,  nach  dem 
gehandelt  wurde,  und  die  Zeit  genannt.  Es  sind  jedoch  die  Handelsope- 
rationen nicht  genau,  sondern  nur  im  allgemeinen  von  einander  geschieden, 
die  Überschriften  keineswegs  immer  einheitlich  und  erschöpfend  und  an 
persönlichen  oder  Familiennachrichten,  Recepten  oder  Mittheilungen  über 
städtische  Amter,  die  übernommen  wurden,  fehlt  es  zwischen  den  geschäft- 
lichen Eintragungen  nicht.  Der  Inhalt  ist  nach  den  mitgetheilten  Daten 
wichtig  und  verdiente  wohl  eine  vollständige  Bearbeitung.  Wechsel-,  Handels- 
und Geldgeschäfte  kommen  vor  und  es  tritt  ein  Verkehr  entgegen,  der  in 
Italien,  besonders  in  Venedig,  Brabant  und  Frankftirt  einkauft  und  nach 
Wien  und  Prag  ausfuhrt. 

*  Nirrnheim,  a.a.O.  S.  XXV. 
»   A.  a.  O.  S.  XXVI. 

*  Franz  Ebner,  Ein  Regensburger  kaufmännisches  Hauptbuch  aus  den  Jahren 
1383 — 1407  in  den  »Verhandlungen  des  historischen  Vereins  der  Oberpfalz  und  von  Regens- 
burg«.   Bd.  XLV. 


über  die  Quellen  der  HandelsstatisWc  im  Mittelalter.  29 

An  dieses  schliefst  sich  der  Zeit  nach  an  das  Buch  des  Ulrich  Starck 
in  Nürnberg  für  die  Jahre  1426 — 1435.'  Zwar  ist  es  nach  der  Ansicht  des 
Berichterstatters  eine  Art  Haus-  und  Memorialbuch  zugleich,  und  neben 
ihm  führte  der  Kaufmann  eigentliche  Geschäftsbücher.  Wenigstens  ver- 
weist er  gelegentlich  auf  sein  »grospuch«.  Indels,  wenn  in  diesem  Buche 
in  zwangloser  Folge  Nachrichten  über  den  Hausstand,  die  Einkünfte,  den 
Betrieb  der  Landwirthschaft  sich  mit  denen  über  Handelsgeschäfte  ver- 
mischen, hauptsächlich  berichtet  er  über  die  letzteren.  Das  Buch  ist  be- 
merkenswerth  auch  wegen  der  Zeit,  aus  der  es  stammt.  Trotz  der  Be- 
drängnifs  jener  Jahre,  trotz  der  Hussitenstürme ,  der  Irrungen  mit  Venedig, 
der  Kriegsstörungen ,  die  auf  den  französischen,  niederländischen,  englischen 
Markt  nicht  ohne  Einflufs  geblieben  sein  können,  erscheint  der  Nürnberger 
Handel  in  hellem  Lichte.  Wir  lernen  einen  Kaufmann  kennen,  der  in 
Rohstoffen,  wie  Wolle,  Wein,  Getreide,  doch  auch  in  Tuchen  und  Pre- 
tiosen und  Juwelen  handelt.  In  ihm  erscheint  einer  derjenigen,  die  dem 
Geldhandel  als  dem  einträglicheren  neben  dem  Waarenhandel  sich  zuzu- 
wenden anfangen. 

Ungefähr  ein  halbes  Jahrhundert  später  ist  das  Buch  des  Kaufmanns 
Otto  Ruland  in  Ulm,  von  1446  bis  1462,  geschrieben.^  Es  bietet  in 
grolser  Fomdosigkeit  inhaltlich  bemerkenswerthe  Nachrichten.  Auf  jeder 
Seite  werden  Dinge ,  Personen ,  Zeiten  durcheinandergeworfen.  Noch  immer 
sind  Eintragungen,  die  sich  auf  private  Angelegenheiten  beziehen,  nicht 
ausgeschlossen.  Selbst  die  Thatsache,  dafs  Fremde  in  das  Buch  Eintra- 
gungen zu  machen  veranlafst  werden,  können  wir  beobachten.  Zwischen 
»Soll«  und  »Haben«  weifs  gleichwohl  unser  Kaufmann  den  Unterschied 
deutlich  zur  Darstellung  zu  bringen.  Dieses  Haus  hat  wesentlich  die  Be- 
ziehungen zwischen  Ost  und  West  gepflegt.  Alle  bedeutenden  Orte  west- 
lich von  Basel  bis  zum  Niederrhein  sind  genannt  und  im  Osten  Regens- 
burg, Landshut,  Braunau,  Linz,  Wien,  Klosterburg  und  andere.^  Von 
seinen  Commanditen  befindet  sich  eine  in  Frankfurt  a.  M. ,  eine  zweite  in 
Augsburg,  eine  dritte  in  Braunau,  eine  vierte  in  Wien.  Ganz  andere  Waaren 
als  in  den  vorhergehenden  Büchern  erscheinen  hier:  niederländische,  vene- 

^    Kln,  «Ein  altes  Handelsbuch>  in  der  Beilage  zur  »Allgemeinen  Zeitung«.  1901.  Nr.ioi. 
*    Bibliothek  des  litterarischen  Vereins  in  Stuttgart.    1843.    Herausg.  von  Konrad  D. 
Kassier. 

»   A.  a.  O.  S.  Vin. 


30  W.  Stieda: 

tianische,  Ulmer  Tücher,  Leinwand  aus  Ulni  und  Augsburg,  Tischtücher, 
Metalle,  Weine  aus  Württemberg,  Schweine  aus  Bayern,  Rosenkränze  und 
Holzstöcke  für  die  Holzschneidekunst  u.  A.  m. 

Neben  diesen  besprochenen,  bereits  ganz  oder  theilweise  der  Öffent- 
lichkeit übergebenen  Handelsbüchem  bergen  die  Archive  zu  Danzig,  Lübeck, 
Hamburg,  Augsburg,  Reval,  Riga  und  die  Bibliothek  des  Germanischen 
Museums  zu  Nürnberg  eine  Reihe  anderer,  grö&tentheils  aus  dem  i6.  und 
17.  Jahrhundert,  deren  einstige  Besitzer  zum  Theil  haben  bestimmt  werden 
können,  zum  Theil  aber  auch  noch  unbekannt  geblieben  sind.  Höchst 
lehrreiche  Auszüge  aus  einem  von  sieben  Hamburger  Handelsbüchern, 
die  Matthias  Hoep  zugehört  haben,  hat  Richard  Ehrenberg  mitge- 
theilt.^  Eins  derselben  hatte  ursprünglich  dem  Schwager  Hoep's,  Jacob 
Schröder,  gedient,  der  es  in  den  Jahren  1553  und  1554  benutzte,  aber 
dann  liegen  liefs.  Auf  diese  Jahre  ist  Ehrenberg's  Darstellung  gerich- 
tet. Das  hat  ihn  nicht  gehindert,  zugleich  auf  den  Reichthum  an  Nach- 
richten in  den  Hoep'schen  Büchern  hinzuweisen.  Hoep's  Eintragungen 
beginnen  im  Jahre  1563  und  hören  im  Jahre  1593  auf.  Sämmtliche 
Zweige  der  damaligen  Hamburger  Handels-  und  Gewerbsthätigkeit  werden 
uns  vorgefÄrt.  Der  Tuchhandel  mit  den  Gewerben,  auf  die  er  sich 
stützt,  die  Tuchbereitung  und  -färberei,  der  Handel  in  Getreide,  mit  Pferden, 
Ochsen,  Vögeln  (Falken,  Habichte,  Papageien)  wird  beleuchtet,  daneben 
eine  fast  unübersehbare  Fülle  von  Notizen  über  alle  möglichen  Waaren 
geboten. 

J.  Härtung  hat  dann  in  der  Zeitschrift  für  Social-  und  Wirthschafts- 
geschichte  aus  dem  Geheimbuche  der  Augsburger  Handelsgesellschaft  von 
Anton  Haug,  Hans  Langenauer  und  Ulrich  Link,  welches  sich  auf  die  Jahre 
1532  — 1549  und  1551  — 1562  bezieht,  Mittheilungen  gemacht.^  Es  ist 
mir  in  hohem  Grade  wahrscheinlich,  dafe  auch  noch  in  anderen  Archiven 
und  Bibliotheken  derartige  Schätze  vorhanden  sind.  Nur  ist  eben  noch 
keiner  auf  ihren  werthvollen  Inhalt  auftnerksam  geworden  oder  hat  wenig- 
stens  nicht  in  der  Öffentlichkeit  auf  sie  verwiesen. 

Sehr  dürftig  ist  in  dieser  Beziehung  die  englische  Litteratur.  Aus 
ihr  oder  vielmehr  aus  der  schottischen  weifs  ich  nur  anzuführen  den  von 


^    Zeitschrifl  des  Vereins  für  Hamburgische  Geschichte.    Bd.  VIII,  S.  T39f, 
»    Bd. VI,  S.36f.    (1898.) 


99 

über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  31 

C.  Innes  herausgegebenen  »Ledgerof  Andrew  Halyburton«.^  Dieses  Handels- 
buch erstreckt  sich  auf  die  Jahre  1492 — 1503  und  ist  ein  wirkliches 
Hauptbuch,  indem  es  in  so  viel  Abschnitte  zerfallt  als  Halyburton  Ge- 
schäftsfreunde hatte.  Unter  dem  Namen  eines  jeden  derselben  finden  sich 
die  mit  ihm  im  Laufe  der  Jahre  nacheinander  abgeschlossenen  Handels- 
geschäfte eingetragen.  Die  Sprache  ist  schottisch,  vermischt  mit  flämischen 
und  deutschen  Brocken.  Halyburton  hatte  seinen  Wohnsitz  in  Middelburg 
(im  holländischen  Zeeland),  entwickelte  aber  seine  Hauptgeschäfte  in  Ant- 
werpen, Brügge  und  Gent.  Kaufleute  aus  Turcoing  (Frankreich),  Bergen 
op  Zoom  (Holland)  und  Edinburg  spielen  eine  grofse  Rolle  im  Verkehr 
mit  ihm. 

Die  Methode,  nach  der  Manuseripte  von  Handelsbüchern  ftir  die  Handels- 
statistik und  -geschichte  nutzbar  gemacht  werden  konnten ,  scheint  mir  noch 
keine  ganz  feste  zu  sein.  Denn  wenn  es  auch  wünschenswerth  ist,  die 
älteren  vollständig  zum  Abdruck  gebracht  zu  sehen ,  weil  ihrer  nicht  viele 
sind  und  meist  von  keinem  grofsen  Umfange,  so  verhält  es  sich  mit  den 
jüngeren  doch  wesentlich  anders.  Diese  wird  selbst  unsere  druckeifrige 
Zeit  kaum  in  ihrem  ganzen  Umfange  an's  Tageslicht  ziehen  wollen.  Es 
liegt  hier  ähnlich  wie  mit  den  Zunftrollen.  Von  den  älteren  ist  wohl  kaum 
eine  für  eine  Geschichte  des  deutschen  Gewerbewesens  ausreichende  Zahl 
veröffentlicht  worden.  Unter  den  jüngeren,  die  viel  zahlreicher  und  von 
starkem  Umfange  angetroffen  werden,  müfste  man  sich  mit  einer  aller- 
dings sachgemäfs  zu  treffenden  Auswahl  begnügen.  Am  besten  wäre  es, 
wenn  einmal  von  berufener  Stelle  eine  Art  Schema  aufgestellt  würde,  wo- 
nach vorkommenden  Falls  eine  Veröffentlichung  vorzunehmen  wäre.  Sonst 
würde  man  immer  Gefahr  laufen ,  Wichtiges  und  Nebensächliches  zugleich  zu 
bekommen  und  die  für  eine  zutreffende  geschichtliche  Darstellung  wünsch ens- 
werthe  Vollständigkeit  doch  nicht  erreichen. 

Fassen  wir  am  Schlüsse  das  Gesagte  zusammen,  so  wird  sich  nicht 
leugnen  lassen,  dafs  in  der  That  die  älteren  Handelsbüeher  eine  hervor- 
ragende Quelle  der  Handelsstatistik  sind.  Die  wenigen  Andeutungen,  die 
hier  über  die  Waaren,  Handelsrichtungen  u.  s.  w.  gemacht  werden  konnten, 
erweisen  ihre  Bedeutung  ohne  Zweifel.     Nicht   so  sicher   scheint  mir  das 


*    Kdinburgli,   1867.    Published   by  authority   of  the  Lords  of  tbe  treasui7  undev  the 
.direetiun  of  the  Loi'd  clerk  -  register  of  Scotland. 


32  W.  Stieda: 

Ergebnifs  in  Bezug  auf  die  Entwickelung  der  Buchführung.  Von  den  Theo- 
retikern über  die  Buchhaltungskunst  im  16.  Jahrhundert  wird  angenommen, 
dafs ,  um  Rechnung  zu  halten ,  drei  Hauptbücher  nöthig  seien :  das  Journal, 
das  Schuldbuch  und  das  Waarenbuch.  Ersteres  diene  zur  Eintragung  der 
täglichen  Geschäfte,  welche  sich  auf  den  Handelsbetrieb  beziehen,  unter  ge- 
nauer Rücksichtnahme  auf  alle  Umstände  des  Handelsgeschäftes.  Das  Schuld- 
buch soll  dazu  dienen ,  um  aus  dem  Journal  die  Debitoren  und  Creditoren 
auszuziehen.  Das  dritte  Buch  endlich  diene  dazu,  über  Waaren  Rechnung 
zu  fahren,  um  zu  wissen,  wieviel  man  von  einer  Waare  haben  mufs,  wie- 
viel man  empfangen ,  versandt  u.  s.  w.  hat.  Aufser  diesen  gäbe  es  noch 
weniger  wichtige ,  nämlich  eins  für  die  Betriebsauslagen ,  eins  fSr  die  Waaren- 
versendung,  eins  far  die  Briefe. 

Es  ist  gewifs,  dafs  dieses  Schema  für  die  ältere  Buchführung  keine 
Gültigkeit  gehabt  hat.  Aber  inwieweit  die  erhaltenen  Bücher  nun  erlauben, 
eine  Entwickelung  zu  construiren ,  die  in  zwingender  Weise  vor  sich  ge- 
gangen ist,  scheint  mir  so  lange  zweifelhaft,  als  man  nicht  weifs,  ob  das 
auf  uns  gekommene  Buch  das  einzige  des  betreffenden  Kaufmanns  war  oder 
nicht.  Mir  scheint  eine  grofse  Formlosigkeit  die  Regel  gewesen  zu  sein. 
Kein  Kaufinann  hat  es  dem  anderen  in  der  älteren  Zeit  gleich  gemacht. 
Der  Eine  bediente  sich  mehrerer  Bücher,  ein  Anderer  behalf  sich  mit  einem 
einzigen.  In  Frankreich  war  die  Organisation  eine  andere  als  in  Deutsch- 
land oder  in  Italien,  und  auch  über  den  Punkt,  inwiefern  die  Handels- 
bücher schon  damals  öffentliche  Anerkennung  genossen,  scheint  mir  ein 
sicheres  Urtheil  nicht  möglich.^ 

*    Vergl.  darüber  Sievekiog,  a.  a.  O.  S.  1505. 


über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  33 


Anhang.' 


I  Ladung  des  dem  Schiffer  Hanneke  Yrome  gehörigen,  auf  der  Fahrt 
von  Lübeok  nach  Reval  untergegangenen  Schiffes.  1469,  Febr.  20. 

Reval'sches  Stadtarch.  Orig.  Eine  Pergamentlage  in  Folio,  bestehend  aus  vier  Doppel- 
blättern, die  am  Rücken  durch  einen  Pergamentstreifen  zusammengeheftet  sind.  Das  erste 
Blatt  dient  als  Umschlag ,  die  f&nf  folgenden  sind  beschrieben ,  doch  die  Ruckseite  des  letzten 
Blattes  nur  etwas  Aber  die  Uilfte;  die  beiden  letzten  Bl&tter  sind  wieder  ungenutzt  geblieben. 
Das  Siegel  ist  nicht  mehr  vorhanden. 

Verz.  Hildebrand,  Melanges  Russes  4,  S.  754,  Nr.  282  und  danach  v.d.  Ropp,  Hanse- 
recesse  Bd.  6,  Nr.  146,  Anm.  2.  Hier  abgedruckt  nach  der  von  Hildebrand  ftir  das  livlän- 
dische  Urkundenbuch  genommenen  Abschrift,  die  mir  von  Hrn.  Stadtarchivar  Dr.  Ph.  Schwartz 
in  Riga  zur  Benutzung  freundlichst  überlassen  wurde. 

Allen  unde  eneme  iszliken ,  de  dessen  breff  zehen ,  lioren  oflfte  lesen, 
unsen  ghunstigen  leven  heren  unde  besunderen  guden  frunden  na  irbedinghe 
unses  willigen  unde  firuntliken  denstes  mit  vermögen  alles  guden,  don  wy 
borgermestere  unde  radmanne  der  stad  Lubeke  witlick  openbar  betugende 
in  unde  mit  desser  schritt,  so  alse  schipper  Hanneke  Vrome  van  unser 
stad  na  Revell  wardes  mit  kopmans  guderen  vorfrachtet  was  to  zegelende 
unde,  Gode  enbarmed,  mit  den  luden  unde  gude  is  vordruncken  in  den  Nu- 
landesehen  scheren  in  deme  lene  Razeborch ,  aldus  sint  vor  uns  gekomen 
alse  wy  to  rade  zeten  desse  nabenomeden  unse  radeszkumpane  borgere 
unde  koplude  bynnen  unser  stad  vorkerende  unde  hebben  eyn  jewelick  vor 
zin  hoved  vormyddelst  eren  uthgestreckeden  armen  unde  upgerichteden 
vingeren  staveder  eede  liifliken  to  den  hilgen  gesworen  unde  wargemaked, 
dat  ze  in  des  erscreven  schipper  Hanneken  Vromen  to  desser  lesten  reyse 
geschepet  hadden  alle  sulke  ghudere,  so  hir  nabenomed  stiu,  de  en  erer 
zelschop  unde  in  de.Dutschen  hause  behoren  unde  nymand  in  Dennmargken 
part  oflfte  deel  darane  hadde  ane  alle  argelyst  namliken: 


'  Der  Abdruck  erfolgt  getreu  den  Vorlagen.  Ge&ndert  wurde  nur  die  Interpunction ; 
alle  Eigennamen  wurden  mit  grofsen  Anfangsbuchstaben  wiedergegeben;  y  und  i  zu  Beginn 
eines  Wortes  in  j  umgewandelt. 

IM.'hist  Abk.  nicht  zur  Akad,  t/ehär.  Gelehrter.   1902.    IL  5 


34  W.  Stieda: 

1.  De  ersamen  her  Hinrik  Kastorpp,  unse  borgermester,  dede  seligen 
Hanse  Beseler  mede  veer  unde  twintich  Rinsche  güldene  umme  de  her 
Johanne  van  Bercheme,  radmanne  to  Revel,  to  bringende. 

2.  Her  Hinrick  van  Hacheden  sosz  vate  bleckes,  aldus  -  - 

3.  Her  Ludeke  Beere  teyn  last  zemes,  derteyn  tunne  vor  de  last,  also 


%l- 


4.  Hans  Beere  zin  zone  ene  last  zemes,    aldus     jL  ^. 

5.  Item  her  Ludeke  unde  Hinrick  Burammer  samptliken  twe  last  zemes, 
alle  derteyn  tunnen  vor  de  last  van  dessen  merken  ^l^  /tx' 

6.  Her  Johan  Hertze  ene  droge   tunne  mit  lakene  unde  twe   sacke 

hoppen  under  desseme  mercke  vA^ . 

7.  Her  Johan  Witinghoff  veer  terlinge   lakene,  twe  aldus  4^,   enen 


also^,  noch  enen  aldus  ^  v  X'  ^^^  droge  vat,  also  ^,  unde  ene  halve 
last  zemes  also  V. 

A  )^ 

8.  Albert  Bemmer  derteyn  tunne  zemes  aldus    \^,    twe  bale  poppirs, 
also     1   L,  ene  droge  tunnen  mit  yseren  drade,  ock  also  gemerket. 

9.  Clawes  Neenstede   eyn  droge  vat  und^   eyn  terlinge   laken  aldus 
X    I  den  schal  entfangen  Gherd  Deman  to  Revel. 

Item  eyn  terlinge  lakene  also    r^,  den  schal  Jacob  Eppenschede  entfangen. 

10.  Godert  van  Hovelen  eyn  last  zemes,  derteyn  tunne  vor  de  last, 
also  /Y\     ^\  I   ene  packen   aldus  'T    ^¥^9   noch    dre  terlinge  lakene, 

also   %J   I    C    ]  I    ^  noch  enen  terlingk  lakene  unde  eyn  di'oge  vat  aldus 


%t 


II.  Hans  by  deme  Zee  enen  terlingk  lakene,  darinne  twe  unde  twintich 
brede  Pepersche  unde  enen  packen,  darinne  dredusend  schullen,  aldus  ^K  . 


Über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  35 

1 2 .  Diderick  van  der  Beke  vyf  unde  twintich  tunne ,  dree  vate ,  twe 

blekvate,  also  /yK      •    Int  erste  darinne  dree  rysz  poppirs,  vefleyn  dos- 

sin  beretken,  teyn  dossin  kemme,  sosteyn  papir  natelremen,  veerteyn  gro- 
teken  snor  remen,  veer  groteken  natelremen ,  dre  dossin  schalen,  verde 
halff  dossin  hansken,  twelff  dossin  enlopelinge,  negen  papir  natelremen, 
vif  dusend  snor  natelen ,  vyf  dusend  hechte ,  twe  dusend  stennatelen  unde 
twedusend  schnirenatelen ,  sosz  dusent  grover  natelen ,  eyn  dusend  grover 
natelen,  sosz  dossin  schermeste,  teyn  dossin  brotmeste,  sosz  dossin  slotte, 
soven  dossin  myspelen,  dre  dossin  myspelen,  viff  dossin  grote  spegel, 
vyf  dossin  spegel,  sosz  dusend  knopnatelen,  teyn  buxzyden,  twe  stige 
walsch  lennewand,  negen  teyn  hundert  messinge  ringhe,  twelff  dossin 
gordel,  achte  dossin  gordel,  twee  dossin  gordele,  achte  dossin  gprdel, 
twe  dossin  gordel,  anderhalff  dossin  gordel,  dree  lotbussen,  twelff  dossin 
krichsn6r\  eyn  unde  twintich  punt  quicksulvers ,  noch  enen  sintener  unde 
eyn  marktpunt  twe  vate  blix,  negen  unse  goldes,  sosz  unde  dortigeste- 
halff  dossin  vilthode,  viff  punt  saffranes,  teyn  punt  negelken,  vif  punt 
musschaten,  eyn  dossin  rulgoldes,  twe  punt  unde  twelff  lot  syden  binde- 
ken,  veer  XJlmer  doke,  veftich  punt  peperkomen,  sostich  Nerdesche  lakene, 
veer  Amstelredamsche,  eyn  brun  Engelsch,  dre  brune,  dre  grone  Leydesch, 
dre  s warte  Leydesch,  eyn  vateken  Monsters  louwandes  gebleket,  dar  sint  inne 
vif  unde  achtentich  holten,  twe  dusent  stavelen  haken,  eyn  hundert  vinger- 
hoyde,  veer  dusend  tengelken,  veerteyn  deker  rotlasch,  twe  deker  rotlasch, 
twintich  dossin  kiener  budel,  twe  grone  hode,  dre  holten  cleyne  louwand,  teyn 
elen  grawe  Engelsch,  soven  deker  rotlasch,  eyn  dossin  swerde,  allerleie 
gordel,  veer  dossin  krige,  eyn  krevet  mit  armwapen,  eyn  stelen  hoet,  eyn 
Stelen  pansere,  negenteyn  tunne  zemes,  eyn  schoff  kettel,  noch  eyn  vat  twe 

smale  tunne  aldus     /  /     ,  darinne  ick  mene  to  wesende  sosz  grone  Leydesch. 

In  deme  vate  is  allerleye  krut,  saffran,  qwicksulver,  unsegolt,  Walsch  lenne- 
wand, kleyn  HoUandesch  lennewand,  syden  stucke  un  de  Ulmer  doke. 

13.  Volmer  Musz  teyn  droge  tunne  under  desseme  merke  vT^>  darinne 

achte  swarte  Leydesch,  twe  Amsterdammesche,  achte  Altesche  unde  sosz 
Nerdesche,  achtehundert  unde  veer  elen  Monstersch  louwand. 


^  sie! 


5* 


tich  Nerdesche,  unde  dree  tunne  also    T  ,   darinne  soven  unde  achtentich 

stucke  louwendes,  de  holden  twelffhundert  unde  veer  unde  negentich  elen. 

15.  Arnd  Mentze  eyne  halve  last  stör  rogen,  ene  pannen  van  ander- 
halven  schippunde,   sosztehalffen   liispunt  myn  twe   liispunt,   twe  tunnen 

sippoUenzades  under  desseme  marke   ^  1    N^  . 

16.  Clawes  Brant  de  junghe  ene  last  vigen,  ene  packe  louwendes, 
soven  vate  blickes ,  sosz  droge  tunnen  my t  Munsterscheme  louwende ,  twe 

droghe  vate  mit  Munsterschen  louwende,  alsus  JC_j 

1 7 .  Item  her  Ludeken  Beeren  vorbenomed  noch  veftich  Rinsche  gül- 
den, hefft  gedan  Hinrike  Burammer  en  samptliken  tobehorende.  Item  noch 
twe  terlinge  lakene  Hinrike  Burammer  tobehorende,   darinne  negen  unde 

twintich  brede  Kumesche  imde  vefteyn  brede  Pepersche,   also  ^vX- 

18.  Jacob  Richerdes  ene  droge  tunne,  darinne  eyu  halff  rod  Engelsch 
lakene,  veer  dossin  sporen,   eyn  dossin  punthoyde,   item  dre  last  vighen 


under  desseme  merke  4-  . 

"*  ^    ZLJ 

19.  Hermen  vame  Stade  eyn  terling  lakene  aldus  '\   /n^^  ®^®  packe 

lakene   1  Ti  ,  item  eyn  terling  lakene ,  noch  alsus  gemerket    OC     . 

20.  Gherd  Prediker  teyn  tunne  darinne  dertich  Delremundesche ,  also 
rri;    item   teyn  tunne,   darinne  vertich  Altesche;   negen  tunne,   darinne 

soven  unde  twintich  Nerdessche;  item  eyn  vat  darinne  soven  Erfordessche, 
twe  Nerdesche  unde  eyn  Altesche ,  veer  unde  twintich  punt  blaw  tweme ; 
item  ene  kiste,  darinne  veerteyn  zenebaffen,  vertich  elen  louwandes,  teyn 
ducker  vodere,  sosteyn  untze  goldes,  achte  Ulmer  doke,  by  vertich  Rin- 

schen  gülden,  alle  under  desseme    T^. 

21.  Hans  Bück  twe  terlinghe  Engelscher  lakene,   twe  droge  vate, 
darinne   sosteyndehalven   zintener  missinges   drades  unde  anderhalve   last 


heringes    y  y  :  item  drehundert  Rinsche  gülden. 


j 


Über  die  Quellen  der  HandelssiaHstik  im  Mittelalter.  37 

2  2.  Gherwen  Buk  dree  terlinghe  lakene,  in  deme  eneii  eyn  unde 
twintich  Poppersche;  in  deme  anderen  vefteyn  Poppersche,  sovedehalve  nye 
Kumesche  lakene;  in  deme  derden  teyn  Ypersche  unde  elven  Trikumesche 

lakene;   item  dre  last  unde  teyn  tunnen  zemes,   also  ^T^    XX    XX' 

23.  Wilhelm  Kortsak  eyn  terlinge  lakene,  darinne  veer  unde  vertich 

Altessche,  gemerket  also    ^L^. 

24.  Hermen  Darsouwe  enen  terlinge  lakene,  darinne  eyn  unde  twin- 
tich* teyn  brede  Pepersche;  item  eyn  terlinge  Engeische,  darinne  twintich 

lakene  under  desseme  merke  1     '     1. 

25.  Godeman  van  Buren  dree  terlinge  brede  Peppersche,  darinne 
viff  unde    sostige    halflf  lakene;    twelff  last  zemes   myn   ene   tunne,    der- 

teyn  tunne  vor  de  last  under  desseme  merke  /4v;   item  sostich  margk 

Rigesch  geldes;  item  noch  enen  terlinge  lakene  under  desseme  merke  "T^"' 

item^    terlinge    also    •+";    item  enen  terlinge,  darvan  wet  men  dat  merk 
nicht. 

26.  Tonnyes   Dyman  eyn    terlinge   brede  Peppersche,    darinne  veer 


unde  twintich  lakene  also  "^tj;  item  noch  eyn  vat  mit  mennigerleye  pen- 

ningwerde,   de  werde  boven   soventich  mark   also  merket  ClT« 

27.  Wilhelm  Pleskouwe  eyn  terUng  lakene,  darinne  twe  unde  twin- 
tich brede  Kumesche  aldus      I     .    Noch  hadde  he  dan  Hermene  van  der 

Molen  hundert  Rinsche  güldene,  hirvan  heft  entfangen  Bernd  Kannengeter 
viff  unde  dertich  gülden. 

28.  Hinrik  Bostede   enen   terlingk   unde   eyn   klene   vat  mit  lakene, 
dar  weren   inne  twe  unde  dertich   Nerdesche,    viff  Engeische   unde   eyn 

^    Hier  hat  der  Schreiber  verrouthlieh   ein  Wort  ausgelassen,  wenn  das  »teyn«  nicht 
als  Angabe  der  Breite  anzusehen  ist. 

'   Eine  Zahl  vielleicht  ausgelassen. 


darinne  louwend. 


38  W.  Stieda: 

29.  Hans  Brekelvelde  eyn  terlinge  lakene,  darinne  teyn  brede  Pe- 
persche  unde  twelfthalff  brede  Kumesche;  item  ene  packen,  darinne  negen- 
tein  blauwe  Junckers,  derteyn  elen  graw  tome  slachdoke;  item  Jacob 
Cellenkisten  eyn  nasch,  darinne  eyn  güldene  ringk  mit  eneme  saffir  unde 

enen  korallensnor ,  allent  vorscreven  under  desseme  merke  -p.    Item  noch 
eyn  terling  lakene,   darinne  eyn  unde  twiiitich  brede  Kumsche  unde  eyn 

Trikumesche  also  J^.    Item  noch  eyn  terling  lakene  under  desseme  merke 
T|    ,    den   schal   wan  Borger  to  Revel   entfangen.     Item  noch  eyn  ter- 
linge lakene  aldus     k^,  den  schal  Hans  Hasse  entfangen.     Item  twe  ter- 
linge lakene  aldus  gemerket     J     ^4"    4^.    Item  noch  eyn  pakschen  aldus 

30.  Hinrik  Klockeman  eyn  droge  vat  mit  vossen  unde  beveren  unde 
ene  droge  tunne  darinne   twe  swarte  Leydesche  lakene  also  Nl    . 

31.  Hermen  Smedingk  veer  last  zemes  also  Ztlf  derteyn  tunne  vor 
de  last. 

32.  Ludeke  van  Thunen  soven  last  honniges,  viiff  last  van  desseme 

merke    /-^     unde  twe  last  van  desseme  \rf^ ,  dertein  tunne  vor  de  last. 

33.  Wolter  Bredholt  dre  terlinge  lakene,  in  deme  enen  twe  unde 
twintich  brede  Kumesche,  in  deme  anderen  twe  unde  twintich  brede  Pepersche, 
in  deme  derden  eyn  unde  twintich  Kumesche  laken  under  dessen  merken 

I         [1  .   Item  eyn  droge  vat  gemerket  also      j .  ,  dat  schal  entfangen  her 
Johan  Pawels  to  Revell.    Item  noch  eyn  terlinge,  darinne  twintich  Engeische 

lakene,  aldus  gemerked  ,p,  den  schal  entfangen  to  Revell  Plonnyes  Berk. 

34.  Everd  Peters  viif  last  zemes,  dorteyn  tunnen  vor  de  last  unde 
anderhalff  schippunt  oldes  koppers  unde^  tunne  Schonsches  heringes  also 


^   Die  Zahl  ist  vergessen  worden. 


Über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  39 

merket   yf^  y  unde  veer  korallenveftich  in  ener  kisten;  item  viiff  schone 
kettele  aldus    /VX    y^. 

35.  Bertold  Rykman  twee  terlinge  lakene,  in  deme  enen  twelff  kostele 
Ypersche,  dar  mede  twe  Thernige  unde  twe  nye  Eumesche,  in  deme  an- 
deren terlinge  sosz  kostele  Ypersche,  darmede  twe  Therniglie  unde  ver- 
teyn  Trikumesche  unde  veer  unde  twintich  tunnen  zemes,   benamen  veer 

tunne  tynnes ,  wegene  sosz  schippunt  achteyndehalff  lyspunt  also  Tf'^    jv . 

36.  Grodeke  Pleskouwe  sosz  last  zemes  aldus    -4-  .  derteyn  tunne  vor 

de  last,  twe  terlinge  lakene,  in  elkeme  eyn  unde  twintich  brede  Peppersche; 
noch   enen  terlinge,   darinne    eyn   unde   twintich  Treikumesche  unde  eyn 

droge  vat  unde  ene  droge  tunne  under  desseme  merke    JL^;  item  ene  packe 

aldus  j\  ,    darinne  viif  unde  twintich  Westerlundesche ,   eyn  brun   unde 

eyn  rod  schoren  Lindesch,  noch  eyn  rod  unde  eyn  gron  Lundesch  unde 
derteyn  blawe  Junchers,  de  hören  Hanse  Sehopholt;  item  noch  eyn  terlinge 

aldus    J  ,     offte   also        [^  »  darinne  eyn  unde  twintich  Thomassche. 

37.  Hermen  Detmers  eyn  terling  lakene,  darinne  twintich  Dortmun- 
desche unde  eyn  Nerdesch  lakene,  noch  eyn  droge  vat,    darinne  twintich 

zin teuer  missinges  draed,  alle  under  desseme  merke  /x    • 

38.  Hermen  Jolp  eyn  droge  vat  under  dessen  twen   merken  ^V 


,  darinne  drehundert  Munstersches  louwandes  unde  ein  blaw  Ner- 


desch;   item   ene   halve  last  Schonsches   heringes,  also  ^)[     ^    n^Q^   viiff 

blawe  Juncher  myt  Symon  Dusborch  ingeslagen.' 

39.  Hermen  Zuborch   sosz  droge  tunnen,   darinne   twelff  Nerdessche, 

veer  Leydesche,  twe  Altessche  lakene  aldus  S^  ;  noch  veer  tunnen,  darinne 


soszteyn  Altessche   lakene,  aldus  gemerket 


>S< 


*    Es  ist  zu  ven'miithen,  dafs  hier  ein  Lesefehler  Hildebrand 's  vorliegt  und  etwa  ein 
Tuch  aus  Duisburg  gemeint  ist. 


40  W.  Stieda: 

40.  Amd  van  Meyderik  eyn  terlingk  kosteler  Engeische  snytlakene, 

aldus  jÄj,  eyn  droge  vat,  darinne  eyn  veteken  gron  engefers,  wecht  mit 
deme  holte  twehundert  acht  unde  twintich  punt,  viif  Viamische  hode, 
verdehalff  riisz  poppirs,  also  gemerket  J^;  item  noch  eyn  terlinge  kosteler 

Engelscher  snytlakene  under  dessen  beyden  merken         1      Jk      . 

41.  Hinrick  Prume  an  vaten  unde  tunnen   van   dessen  twen  merken 

yC  I       jT]  item  ene  packe  pechtlinges,   darinne  twelff hundert  viiff  unde 

vertich  elen  an  Munsterscheme  unde  Lubeschen  louwende  uppe  drehundert 
unde  negen  unde  vertich  mr. ;  noch  drehundert  derteyn  elen  Vlamesch  lou- 
wend;  noch  an  zyden,  untzegolt  unde  mennigerleye  klene  parcele,  summa 
van  dessen  vorscreven  alle  achtehundert  elven  mr.,  verteindehalven  Schilling; 
noch  dre  unde  vertich  Altessche  lakene,  verteyn  Leydesche,  verdehalff 
Bruggesch  teyn  Nerdessche,  veer  Westerlindesche ,  twe  kirsey,  ene  brede 
Bruggesche  vitze,  twelff  Delremundesche ,  sosz  Amstelredammesche ,  sosz 
Engeische  vitzen,  eyn  kassel  kamesch  rod,  soven  unde  veftich  elen  frese, 
hirvan  summa  in  al  twintich  hundert  acht  unde  achtentich  mr.  unde  twelfte- 

halven  schillinghe.    Item  noch  soven  terling  lakene  dre  also  \/     k.  1.,  de 

schal  Hans  Roterdes  entfangen ;  item  enen  alsus  \A    c. ,  schal  hebben  her 

Reynolt  van  Weren ;   item  enen  also  IX   g. ,   schal  hebben  Everd  van  der 

Schuren.     Item  enen  also  ^\  1    schal  hebben  Hans  Westhoff,  darinne  dre 

unde  twintigestehalff  Engelsch  lakene.      Item   enen   noch   alsus  1 V    JL. 

schal  hebben  Everd  van  der  Scuren,  darinne  soven  teyn  brede  Kumesche, 
twe  rode   geschoren  Eiigelsche   lakene,   holden   viif  unde  negentich   elen. 

42.  Gherd  Grutere  eyn  terling  laken  darinne  twelff  Trikumesche,  viiff 
Ypersche,  twee  lichtgron,  eyn  lichtblaw  gabuke*,  twe  lasurblaw;  item  eyn 
terling  lakene,  darinne  teyn  Ypersche,  viiff  wilde,  dree  lassurblaw,  eyn 
lichtgron,  eyn  rod  Terniger,  elven  Ny kumesche;  item  ene  bereven  tunne, 


*   sie. 


Über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  41 

darinne  hundert  acht  unde  sostich  punt  qwicksulvers ,  viif  unde  vertich 
markpunt  swampe ,  item  halve  blade  van  nacken  vossen  unde  kelen ;  item 
enen  Russchen  zube;  item  eyn  eken  vat,  darinne  twe  schone  blancker 
kettele,  de  wegen  sovedehalven  zin teuer,  eyn  lyspunt  unde  dree  mark- 
punt; item  anderhalven  zintener  pissebecken;  item  noch  eyn  droge  vat, 
darinne  sosz  tymmer  unde  veflfteyn  bever,  veer  tymmer  unde  negen  Swe- 

dessche  vosse,  alle  vorscreven  parcele  van  dessen  merken    A-\    j-.    Item 

zin  knecht  selige  Jachim  Becker  hadde  by  sick  eyn  güldene  signeteboch 
umme  trent  sosz  nobelen  wegende.  Desse  vorscreven  gudere  scholde  Jachim 
Maesz  to  Revell  entfangen. 

43.  Brun  Bruskouw  ene  packen  lakene,   dar  weren   inne  brede  Pep- 

persche  unde  Ypersche  under  desseme  merke  ^H". 

44.  Tydeman  Beseler  eyn  terlinge  darinne   negen  grawe  Bruggesche 
unde  elven  Engeische  snytlakene,  dre  rode,  dre  grone,   veer  brune  unde 


^^ 


eyn  swart,  aldus  \     1    ;  item  twe  packen  darinne  dertich  brede  Peppersche, 


r.. 


de  zint  gemerket  aldus  [  .  ;   item  eyn  terlinge  Trikumesche,   darinne   twe 

unde  twintich  lakene;  item  ene  halve  berevene  tunne  darinne  eyn  Florensz 
lakene  unde  noch   eyn   droge  vat  mit  vossen,   noch   viff  blawe  Junchers, 

alle  aldus   T^, 

45.  Diderik  van  Mere  eyn  droge  vat        yC    ,  darinne  negen  stucke 

Lubesches  louwandes,  viff  unde  vertich  stucke  Munstersches  louwandes, 
teyn  stucke  Hollandessches  louwandes,  veer  Ulmer  zardoke,  derteyn  zinne- 
baffen, eyn  vat  aldus  yC  ,  darinne  veerteyn  stucke  Lubesches  lou- 
wandes holdende  twehundert  eyn  unde  twintigeste  halff  eleu,  dre  unde 
vertich  stucke  Munstersches  louwandes,  holden  viif  hundert  acht  unde  vertich 
eleu,  veer  stucke  Hollandesches  louwandes,  holdende  negen  unde  vertich 
eleu.  Item  noch  twehundert  Rinsche  gülden  by  Peter  van  Mere.  Item 
sosz  smale   tunnen,    darinne   twelff  Nerdessche   unde   sosz  Altsche   lakene, 

alle  under  desseme  merke         /v    . 

Fhil'hist  Ahh.  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter.    1902.    IL  6 


42  •  W:  Stieda: 

46.  Johan  Kaldeaiborn  twee  latet  zemes  /Y\     /h- 

47.  Hinrik  Lisen  eyn  packe  lakene,  darinne  twelflf  Eribrdessche ,  dree 
Leydesche,  twe  Amstelredamsche,  dree  Hegensche,  twe  kirsey,  derdehalff 
hundert  unde  soven  unde  vertich  elen  louwandes,  eyn  Dreselsch  lakene. 
Item  viifteyn  tunnen,  dar  sint  inne  derticli  Altsche  lakene,  soven  Nerdesche, 
veer  Delremundesche.  Item  noch  ene  packe  wand  es,  darinne  veer  men- 
gede,  veer  gelsche»   eyn  Deventersoh  y  viiff  unde  sostich  dossm  beretken, 

allent  vorscreven  :undeir  desseme  merke       [ 

48.  Wilhelm  Ringhoff  eyn  droge  vat  iserendr'aed ;  item  ene  last  vigen 

aldus  -j-^   A  [  ■ 

49.  Hans  Berskamp  tWe  last  myn  anderhalve  tunne  zemes,   derfceyn 

tunne  vor  de  last,  aldus  gemerket    i:   /\|T.'»  Item  ene  packe  •  lenwandes, 

darinne  sosteynhundert  myn  veer  elen  Parldberges;  noch  sevedelialffhün* 
dert  soven  unde  twintich  elen  Ulser  louwandes,  eyn  wit  MoUensch  lakene 
unde  eyn  stucke  stok vissches ,  noch  ene  packe,  darinne  twelffhundert  myn 
enen  reep  Parleberges,  sostehalff hundert  Ulser,  negeu  Leydesche  lakene, 
de  there*  twe  brune,  dree  grone,  eyn  roed,  dree  s warte,  eyn  wit  MoUensch 
lakene;  item  eyn  achtendeel  in  Hans  Hagers  kisten  an  unzegolde,  köpper- 
gelde,  an  zyden  bordeti  uppe  negen  unde  soventigeste  halve  mr.;  noch 
an   zyden   borden  unde   untzegolde,   borden  uppe   twe  unde  vertich. imr., 

alle  under  desseme  \/7',  noch  eyn  terling  lakene  brede  Pepepsch  aldus  J— : 
noch    eyn   terlinge,   darinne   dre   unde   twintich  Nykumesche,   eyn   droge 

vat  unde  ene  tunne  alle  gemerket  aldus-  JL  . 

50.  Hinrik  Hoveman   soste   haUfe  last  zemes,   dörteyn  tunne  vor  de 

last,    also     1    ;   item   eyn   terling  lakene   aldus    ^\   darinne  teynswarte 

Nerdesche,  soven  Leydesche  de  there  twe  brune,  twe  grone,  twe  swarte, 
eyn  rod,  twelff  Altsche,  teyn  Ulmer  doke,  veer  Oustborger,  veer  Eammike; 

noch   enen  terling  also  /l^  ,   darinne  negen  Leydesche >   dre  brune j   twe 


*    sie. 


Über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  43 

grone ,  vecr  swarte ,  eyn  brun  Hagensch ,  twe  Delreinuadesche ,  soven  Ner- 
desche,  achteyn  Altsche,  veer  grawe  Bruggesche.  Item.  Bernd  Eannen- 
geter   hadde   darinne   eyn   terlinge  Nerdessche,    darinne   vif  unde  vertich, 

aldus  yC;  noch  enen  terling  offte  packe,  darinne  rode,  brune,  swarte 
Mustebillyrsche  kostele  Engeische  lakene;   item  dre    droge  vate  unde  viff 

droge   tunne   ok   gemerket   alsus  yK.  ,  unde  wes  dar  furder  inne  was ,  en 

wet  men  nicht;  item  noch  derdehalff  vate  Einsehen  wyne  unde  andere 
droge  vate  unde  tunnen,  darvan  men  nyn  bescheet  enweet»  under  wat 
merke  edder  wat  darinne  was.    Item  Brand  I-»ampe.  van  Abo  hadde  darinne 

eyn  terling  lakene  offte  pecke  aldus    1^,  darinne  veer  unde  vertich  Altsche; 

item  noch  eyn  terling  ofle  packe,  darinne  sosteyn  Leydesch,  veer  brune, 
soven  grone,  ver  swarte,  eyn  rod,  veer  Engeische  dre  brune,  eyn  gron, 
dre  Nerdesche,  eyn  brun,  eyn  gron,  eyn  blaw,  sosz  witte  fcirsey,  eyn 
Lubesch  graw,  dre  olfte  veer  droge  vate. 

5 1 .  Borcherd  van  Schyn  imde  Bernd  van  Wynten  twe  terlinge  lakene 

also  N^  ,  darinne  in  elkeme  terlinge  eyn  unde  twintich  lakene ,  twe  berevene 

vate  JZ,  darinne  vosse  unde  bevere;  item  eyn  unberevene  vat  aldus  N^, 

darinne  rosse  unde  draed. 

52.  Ludeke  Lange  dre  last  zemes  unde  twe  tunne,  derteyn  tunne 
vor  de  last,  eyn  terling  Nykumesche,  darinne  twe  unde  twintich  hele 
lakene;  item  ene  packe,  darinne  achteyn  MoUensch  lakene,  eyn  heel  swart 
Engelsch,  negen  halve  Engeische  lakene,  dre  witte  stockbrede,  eyn  half- 
hundert  reep  louwendes,  eyn  vat  missinges  drades,  darinne  teyndehalff 
zintener  unde  twintich  punt;  item  twe  unde  twintigehalff  dossin  vilthode, 
negenteyn:  punt  zyden  unde  borden,  sovedehalflF  lot  korallen,  soven  dossin 

sporen  unde  bogele,  veer  Westerlindesche  witte  aldus  .^l^- 

5  3 .  Henningk  Wegenere  eyn  grot  slottaitich  kramvat, .  darinne  veer  Ulmer 
doke,  tzeter,  scherbeckene,  remen  unde  andere  mennigerleie  «pisserie  unde 
imesiiwerk;  item  ene  Hamborger  tunne  mit  pattynen  unde  iserwerke;  item  .ene 

kisten  mit  brunen  Leydeschen  klederen'  unde  wände  ,♦  also .  gemerket  ]L-. 

6^ 


44  W.  Stieda: 

54.  Hans  H6n  twe  last  zemes,   eyn   klene   vat  mit  beveren  also  ge- 
merket .NV  • 

55.  Peter  van  Scheven  ene  packe  Parleberges  louwandes,  darinne  dre 

unde  dortich  hundert  aldus  j 

56.  Jurjen  Boleken  twe  last  zemes,  dorteyn  tunne  vor  de  last,  also 

A.  ;  item  twe  terlinge  lakene  A,  ,  in  deme  enen  vertich  Altsche,  in 
deme  anderen  twintich  Nerdesche,  achte  Leydesche,  veer  Hagensche,  eyn 

Delremundesch ,  eyn  Deventersch;  item  noch  eyn  terling,  aldus  "TT",  da- 
rinne vefteyn  Nerdesche,  twelff  Altsche,  veer  Leydesche,  dre  Delremun- 
desche,  eyn  Deventersch;  item  sosz  tunne  zemes  van  desseme  merke  "7I— 

unde  eyn  droge  vat,  darinne  eyn  zintener  kettele  unde  anderhalff  punt 
zyden  bendele,  rossine  unde  andere  spisserie;  item  dree  tunne  zemes  also 

•-  item  twe  tunne  tynnes  41.;  item  noch  hundert  unde  dertich  Einsehe 

güldene.  .   ^ 

56.  Clawes  van  Calven  eyn  terlinge  lakene  also  ^  V/ /  >  darinne  ver- 

teyn   Trikumesche,    sosz    kostele   Ypersche,    twintich    tunne   zemes   aldus 

yfl  I  y  ^w^  Hamborger  tunne  unde  ene  smale  tunne  my  t  tynne  aldus  +  k  . 

57.  Hans  Bertoldes  eyn  vat,  ene  kiste  unde  eyn  halve  tunne  under 


dessene     /  X  »  darinne  viifftehalff  hundert  Munsters  blekedes  louwandes. 


anderhaliff  Lubesches  louwandes,  viiff  dossin  beretken,  twe  rode  tzeter, 
twe  blawe  kogeler,  sosteyn  dusend  haken,  twe  stucke  Walsch  louwandes, 
sosz  deker  meste,  eyn  hundert  blickes,  eyn  dossin  rullen  goldes,  sosz 
deker  loskes,  sosz  dossin  vilthode,  veer  unde  twintich  dossin  gordele  vor 
vefteyn  mr.  budele,  veer  zardoke,  twe  riisz  poppirs,  vor  teyn  margk 
natelen,  eyn  hundert  Lubesches  bleket  louwandes. 

58.    Dethert   Holthusen    ene    packe    darinne   Leydesche,    Nerdessche 
unde  andere  lakene,  dre  droge  tunne  mit  spisserie  unde  twe  grote  malde 


über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  45 

59.  Hermen  Zeberhusen  heft  gefunden  in  der  dreger  boke,  dat  Hinrik 
Hörne  hefft  hirmede  ingeschepet  twe  terlinge  brede  Peppersche,  twe  vate 

unde  twe  kisten  aldus    jK. 

60.  Marquard  van  Rene  viiff  droge  tunne  unde  ene  kiste  mit  louwande 

unde  kramgude ;  it-em  dre  vate  blekes ,  also    JK    ;  item  eyn  terlinge  lakene, 
darinne   twe  unde  twintich  Trikumesch  lakene,    ene  last  vigen  unde  eyn 

droge  vat  unde  veer  droge  tunnen  gemerket  aldus    N,^. 

61.  Hans  Hobingk   eyn   nye   droge  tunne   darinne   allerleie  spisserie 

so  gud  alse  vertigestehalve  mr.,  aldus  J^  . 

62.  Item  Her  Johan  Witinghoff  vorbenomed  hefft  noch  medegedan 
Hinrike  Berke  hundert  acht  unde  vertich  Rinsehe  güldene  her  Diderike 
Depenbeke  to  Revel  to  bringende. 

63.  Hans  Sasse  twe  terlinge,  in  deme  enen  dre  unde  twintich  brede 

Peppersche  in  deo,e  anderen  twinUeh  Enge.,che  a..  gen,.*et  ^ 

Unde  wo  wol  etlike  unses  rades  kumpane  borgere  unde  koplude  in 
aller  mathe  so  voran  in  desser  schriflft  steit,  hebben  vorrichtet  de  gudere 
her  vorbenomed,  jedoch  wy  borgermestere  unde  radmanne  der  stad  Lubeke 
vorbenomed  beholden  uns  des,  oflft  jemand  in  der  Dutschen  hanse  were, 
de  gudere  in  des  erscreven  Hanneken  Vromen  schepe  to  desser  latesten 
reyse  gehad  hebben  unde  der  nicht  hedden  vorrichtet,  dat  en  dat  nicht 
vorfengklik  offte  schedelik  sy  unde  eres  rechtes  unvorsumed  blyven.  To 
merer  tuchnisse  der  warheid  is  unser  stad  secrete  witliken  gehenged  an 
desse  schrifft.  Gheven  na  der  bord  Christi  unses  heren  dusend  veerhun- 
dert  im  negen  unde  sostigesten  jare  am  mandage  na  deme  sondage  alse 
men  in  der  hilgen  kerken  singhet  Invocavit, 


46  W.  Stieda: 


2.  Gertification  über  die  in  den  1493  bei  Grothland  yenmglückten 
Schiffen  des  Schiffers  Hans  Schacke  befliiälich  gewesenen 'Waaren. 

'  Staatsai'chii^'iii  Lübeck.    Hier t  abgedruckt  nach  einer  von  weilandMHrn.  Staatsarchivar 
Dr.  Webrmann  freundlichst  zur«  Vsrfögung  gestellten  Abschrift. 

1 .  Her  Anthonius  Djnemant  4  fate  flasses  Fickelers  eme  unde  Hinrick 
Umelung  tobehorende  is  to  gelde 72  ,^.  Lfib. 

2 .  Hinrick  tor  Horst  viff  stro  wasses  wegende  2  3  schfi  1 6  lysS  unde 
viff  marcS[  noch  4  last  asschen,  steit  assche  unde  was  to  hope 

1626  JL  unde   10  ß  Lüb. 

3 .  Hans  Dekedes  eyn  stro  wasses ,  wecht  3  schipS  1 7  lysS  unde 
9  marcS[  is 250  JL  \  ß  Lüb. 

4.  Hermen  Huntenberch  3  stro  wasses  wegen  9^  schipS  vifftehalf  ly sfi 
unde  eyn  marcfi  is 800  JL  T  ß  /^  6-  Lfib. 

5.  Hans  Redeke  3  stro  wasses  wegen  8-J-  schipß  2  ly^  unde 
2  marcffl[  noch  viff  latst  i  asst;h«n  is 600  .>^.  unde  7  ß  Lüb. 

6.  Diderick  Pothoff  van  Hans  Muters  wegen  eyn  stro  wasses  wegende 
4  schipfi  2  last  roggen  eyne  schymmese  flackvissche  -J-  droge  tunne  eyn 
fat:  flasses  is  to  gelde 359  JL  /[  ß  Lüb. 

7.  Matthias  Veit  viff  stro  wasses  wegen   17  schip@[  3  lysfi  is 

i  100  JL  eynen  ß  Lüb. 

8.  Peter  Possyck  eyn  stro  wasses ,  noch  3  stro  noeh  eyn  fat,  dar  was 
mede  inne  was,  so  is  in  dessen  4  stro  wasses  mit  den  in  deme  fate  was 
in  lutter  wicht   11   schipS.  6  lysS/  unde  6  mar66  is      t^o  JL  2  S^  Lüb. 

9.  Hans  Ampetmann  eyn  stro  wasses  wegende  2  schipS  8  lysffi,  noch 
eyne  tunne  mit  wasse  darinne  10  lysS,  noch  eyn  vat  flasses  viff  vemdels 
lasses,  is  to  hope 233  JL  ^  ß  Lüb. 

10.  Hans  Pawes  eyn  bereven  vath  werekes,  darinne  werck  unde  märten 
is  to  hope 192  ii^  Lüb. 

11.  Hans  Junge  eyn  bereven  vat,  steit  .     .  ,  ^%2  JL  ^  ß  Lüb. 

12.  Arndt  Jagehoen  62  stucke  kabelgarns,  wegen  8  schipS  is,  48  JL  Lüb. 

13.  Diederick   Tottelstede   eyne   last   roggen,   eyn  verndell  lasses  is, 

24  JL  Lüb. 

14.  Hinrick  Segebode  2  stro  wasses,  wegende  viff  schipS  7  lysS  unde 
viff  marcS  noch   120  stucke  kabelgarns,  is  in  all    •     ,     .     426  JL  Lüb. 


Uher  die  Quellen  der  Hnndelsstatistik  im  Mittelalter.  47  ^ 

15.  Hans  Schinokelly  synem  broder  Clawese  to  behorende,  eyn  vätken 
hir  iiine  10  000  lastken  unde  viflFtymmer,  noch  eyn  stro  wasse^,  wegende 
3^'soliipfi  viff  lysS  unde  viff  marcS,  löpet  int  gelt   .  776  JL  ^  ß  Lüb. 

16.'  Clawes  Schinkel  2  last  roggen^.  140  stucke  kabelgarns  is  160./^  Lüb. 

1 7 .  Berndt  Bomhouwer  2  stro  wasses  wegende  t^  sehipS  unde  8  ly sfe 
myn  3  marcS  noeh  3  last  assohen  noch  i^  last  bockwete  unde  7  löpe 
noch  6  elendeshude  is  in  all 750  ,/ÄtLüb. 

18:  Lütke  Heyneke  eyn  stuoke  wasses  hefft  in-  Bemt  Bomhouwers 
stro  mede  gehat  wicht  eyn  schipfi  7  lysfi  unde  2  marcS  is.  91  «/^  8  /^  Lüb. 

19.  Clawes  Kostken  2  stro  wasses,  wegende  4  schipp  vifftehalff  lysS 
unde  eyn  marcfi  unde  steit  int  gelt ^20  JL  Lfib. 

20.  Dirick  Volmers  viif  last  asschen,  123  stucke  kabelgarns,  noch 
twe  stro  wasses  wegende  6  schip&  myn  21  marcfi,  noch  eynen  deker 
ledderes  steit  in  all 550  JL  Lüb* 

2K  Peter  Possyck  hefft  noch  mer  hir  inne  gehat  in  eynen  vatken, 
dar  dat  was  inne  was ,  in  vlessen  garae  7  lysS  myn  6  mareS  noch  viffte- 
lialff  iysS  vlasses  noch  8  last  asseben  noch  viff  vate  vlasses  noch  208  stucke 
kabelgarns  noch  2  last  7  löpp  bockweten  noeh  eyne  last  ozemundes,  desse 
parcele  zindt  getekent  to  den  vorgeschreven  wasse  unde  belopenmit  deme 
wasse  int  gellt  in  all  is I047   JC.  2  ß  ^  S-  Lüb. 

22.  Eggert  Jeger  eyn  stro  wasses,  eyn  stucke  wicht  19  lysS,  noch 
2  stucke  hirinne  wegen  eyn  schipß  4  lysS  8  fi,  stan  int  gelt  145  JL  Lüb;: 

23.  Bemdt  Wisse   120  stucke  kabelgarns.  is     .     .     .     .  96'  e/^  Lüb. 

24.  Gk)tzschalck  Horenz^e   120  stucke  kabelgarns  is  .     .  96  JL'AJSh. 

Summa  10258  JL  %  ß  unde  8  h-  Lüb. 
Item    de    ander    certificatio    uppe    schipper    Hans   Schakenn    gudere 
ludende. 

25.  Hans  Schulte  2  stro  wasses  eyn  wicJit  3  schipfi  viff  marcS  unde 
dat  andere  2  schipfi.  unde  2  lysfi  is  viff  schipfi  eyn  lysfi  unde  1 5  marofi.  is 

343    Jt:^  /?   Lüb. 

noch  eyne  droge  tunne   2  verndell  unde  eyn  achtendcJel,  is  5  Ji,  Lüb. 
summa  to  samede  is 348  JL  T  ß  Lüb. 

26.  Hermen  Huntenberch  hefft  certificert  von  Säbel  Osborne  tom  Sunde 
eyn=  stro  wasses  wecht  eyn  schipfi  2  lysfi.  unde  viff  marcfi  is   74  Ji,  Lüb. 

27.  Hermen  Huntenhercli  hefl't  certificert  vor  Jacob  Buntzouw^n  to 
Anklem  eyn  stro  wasses  wicht  3  schipfi  unde  6  lysfi  is  222  .>Ä.  12  ^,Lüb. 


48  W.  Stieda: 

28.  Diderick  Holschen  heflft  certificert  vor  Casper  Boekholt  140  stucke 
kabelgams  stan 1 11   JL  Lüb. 

noch  2  stro  wasses,  wegen  vefftehalflf  schipS  glysS  stan  iZ^  JL2  ß  Lüb. 

noch  4  last  roggen  unde   11   löpe  stan ^6  JL  Lüb. 

summa  in  all 541   JL  2  ß  Lüb. 

29.  Lambert  Loflf  hefft  certificert  van  Marcus  WulfFes  wegen  van  Stettyn 
eyn  stro  wasses  wecht  3  schipS  myn  3  marcS  is  202  JL  myn  i  ß  Lüb. 
noch  3  last  roggen,  noch  vifF  smale  tunnen  talliges,  noch  2  halve  tunnen 
lasses,  is  to  hope  82  «/^  14  ^  Lüb.  summa  in  all  284^  JL  unde  viff /^  Lüb. 

30.  Eersten  Spierinck  hefft  certificert  von  Hans  Granses  wegen  eyn 
cleen  stro  wasses,  wicht  2  schipS  4  lysfi  unde  viff  marcfi  is  i^g  JL^  ^Lüb. 

noch  eyne  tunne  butte  unde  eyn  verndell  lasses  .     .     .    3  «/Ä^  Lüb. 

3 1 .  Kersten  Spirinck  hefft  noch  certificert  van  wegen  Ffriederikes  vam 
Holte    eyn  stucke  wasses,    wicht    eyn   schipS,    is    int   gelt,    so   idt   steit 

68  0IL  Lüb. 
summe  in  all  dat  Kersten  certificert  hefft  is      220  JL  T  ß  Lüb. 

32.  Mathias  Veit  van  Cordt  Monterdes  wegen  eyn  droge  fat,  hir 
inne  eyn  tymmer  märten,  eyne  chorkappe  van  grauwerke,  noch  4  grau- 
werckes  foder,  2  tymmer  grau  Werkes,  16  deker  gerder  smaschen,  7  eleu 
brun  Lundesch,  viff*  elen  swart  delffs,  22  eleu  lenwendes,  eynen  sulvem 
lepell,  eyn  elendeshuth,  eyn  stucke  wasses  woch  2  schipS,  1000  gerder 
smaschen,  etlike  rode  hude  unde  andere  wäre,  noch  eyn  vath,  darinne 
30  droge  lesse  is  tosamede  int  gelt 2^0  JL  Lüb. 

33.  Diderich  Duve  12  clene  stucke  wasses  wegen  eyn  schipS  myn 
12  marcS  noch  eyne  solttunne  mit  fisschen  stan     .     .    6%  JL  \  ß  Lüb. 

34.  Hinrick  Hon  eyn  fat  flasses  steit 2^  JL  Lüb. 

De  summe  is  in  all  van  dessen  guderen  in  dessen  cleynen  certificatien 

bestemet 20051   .^   12  ^  Lüb. 

Von  dit  nageschreven  is  de  drudde  certificantien  Hans  Schaken. 

35.  Herman  Bruninck  unde  Hermen  tor  Loo  hebben  certificert  van 
wegen  Matthias  Nokes i  2jg  JL  ^  ß  Lüb. 

Dit  nageschreven  is  de  verde  certificatio  Hans  Schakenn. 

36.  Peter  Poleman  24untze^oldes,  de  untze  eynen  Rinschen  gülden  is 

30  JL  Lüb. 

37.  Clawes  Schepell  4  schipS  2  lysS  wasses,  dat  schipS  96  JL 
noch    2    sehS   wasses   dat   schipS   96  *.0a  noch    76    tymmer    lastken    stan 


TJl)er  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  49 

66  Rinsche  gülden,  noch  i6  voder  stan  42  Einsehe  gülden  noch  20  Rinsche 
gülden  vor  grauwerck  summa  in  all  tosamende  .      .      .     .      6^0  iJC  Lüb. 

38.  Symon  Ort  van  wegen  Hans  Prekels  eyn  vat  knacken,  eyn  fat 
mit  vlesseme  garne,  etlike  clene  stucke  wasses  in  eyner  kisten  is  to  gelde 

80  J6.  Lüb. 

39.  Kersten  Spirinck  eyne  last  kabelgarns  is  to  gelde      72  e/Ä.  Lüb. 

40.  Schipper  Hans  Schake  14  serpentiner  dat  stucke  viff  JC.  Lüb. 
noch  eyn  ancker  van  2^  schipS  dat  schip®  10  JL  Lüb.  summa  95  JC  Lüb. 

dit  hört  den  redern  des  schepes  tho. 

41.  Schipper  Schake  hefft  vor  sick  certificert  6  2-j- schipS  kabelgarns 
is  to  gelde  in  all 375  JC,  Lüb. 

Summa  in  desser  veirden  certiftcatien  is       .     .     .     .  i  288  t/^.  Lüb. 

Item  int  erste  schryve  ik  hir  de  ersten  unde  grotesten  certiftcatien 
van  Schipper  Hans  Schaken  belopt  sick  int  gelt      .       10  2 ^S  Jt.  S  fi  S  S- 

de  ander  certificatie  belopt  int  gelt 20051  t>Äl  12  /^  Lüb. 

noch  de  dorde  certificatie  belopt 12791/^.  4/^  Lüb. 

noch  de  verde  certificatie  belopt 1288  JC  Lah. 

Item  noch  hebbe  wy  de  gudere  to  vorfolgende  uthgegeven  so  wy 
idt  gerekent  hebben  summa 460  JC  Lüb. 

Summa  summarum  is  15  337  «/Äl  8  ^  8  penninge  Lüb.  mit  deme  ungelde. 

42.  Here  Diderick  Hup  eyn  stro  was. 

43.  Her  Jaspar  Lange  veer  bereven  vate  werckes,  noch  eyn  last  trans, 
eyn  kip  hekete,  eyn  tunne  lasz  unde  ene  halve  tunne  bottern,  nocli  eyn  droge 
tunne  eyn  bereven  packelken  darinn  Darpsche  hekede,  noch  ene  last  trans. 

44.  Her  Johan  Kerckrinck  twe  vate  Werkes  unde  eyn  stro  was. 

45.  Her  Tydeman  Beeck  eyn  bereven  vat  Werkes. 

46.  Her  Diderick  Hup  unde  her  Tydeman  Beeck  alse  testamentarii 
seligen  Hans  Beecken  wandages  nagelaten  kinder  vormunder  eyn  stro  was. 

47.  Her  Hinrick  Witte  etlike  guder  wes  der  gefunden  werden. 

48.  Lutke  Lange  twe  vate  Werkes,  twe  stro  was  unde  sosteyn  vate 
gesmoltes  talges. 

49.  Hermen  Ruckerdingh  sossz  stro  was,  noch  dre  stro  was,  noch 
twe  stro  was,  noch  eyn  stro  was,  noch  eyn  vat  werckes. 

50.  Gert  üenter  dre  stro  was,   noch   twe  stro  was. 

51.  Clawes  Parketyn  vyfl*  stro  was,  noch  dre  stro  was,  noch  etlick 
wjus  unde  werck. 

Phil'hist  Abh,  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter.    1902.    II.  1 


50  W.  Stieda: 

52^  Hinrick  Berck  veer  stro  was,  noch  eyn  stro  was,  noch  etlick  was 
unde  ander  gudere. 

53.  Hansz  Pawes  twe  stro  was,  noch  sossz  vate  talges. 

54.  Warner  Buxtehude  twe  vate  werckes  unde  twe  last  tranes,  noch 
eyn  stro  was  to  Lunenborch  unde  in  de  anze  to  husz  behorende. 

55.  Peter  Possyck  dre  stro  was,  noch  eyn  vat  unde  eyne  kiste  mit 
gepeented  boken ,  noch  eyn  stro  was ,  noch  eyn  stro  was ,  item  noch  eyn 
bereven  Vat  synen  gesellen  und  in  de  anze  to  husz  behorende. 

56.  Hansz  van  Dalen  dorteyn  vate  smoltes  talges  unde  dre  stro  was. 

57.  David  Duntzen  sosz  stro  was  unde  eyn  vat  werckes. 

58.  Magnus  Bruns  dre  stro  was  eyn  bereven  vat  unde  ene  halve  last 
deget,  noch  dre  stro  was,  noch  eyn  bereven  vat. 

59.  Balthazare  Bocholt  dre  stro  was,  dre  last  zeelspeckes,  ene  last 
bottern,  twe  last  tranes,  veer  vate  knucken  unde  eyn  vat  Werkes,  item 
noch  eyn  stro  was,  noch  twe  stro  was  unde  eyn  bereven  cuntor;  dem- 
sulVen  Balthazar  noch  eyne  käste,  darinnen  eyn  packelken,  darinn  syn 
gewesen  twintich  tymmer  hermelen,  eyn  dusent  lastken  unde  elve  tymmer, 
synen  knechte  Hanse  Blotgudt  tobehorende. 

60.  Wolter  van  Lennep  veer  stro  was,  noch  eyn  vatken. 

6i.  Kersten  Swarte  twe  last  tranes,  veer  droge  vate  unde  twe  stro 
was ,  noch  eyn  stro  was ,  noch  twe  stro  was ,  noch  twe  vate  Werkes ,  eme 
unde  siner  selscup  to  Revel  unde  in  de  anze  to  husz  behoi*ende,  item 
noch  eyn  vat  werckes  unde  veerteyn  tymmer  mencken ,  synen  knechte  Hansze 
Wyncken  tobehorende  unde  in  de  anze  to  husz  hörende. 

62.  Mathias  Hudepol  eyn  bereven  vat. 

63.  Hermen  Hutterock  vyff  last  trans. 

64.  Berndt  Bomhouwer  eyn  bereven  vat  eyn  stro  was  unde  dorteyn 
vate  gesmolten  talges. 

65.  Gotke  Lange  lieft  certificeret,  dat  syn  broder  Hinrich  Lange  borger- 
•mester  to  Darpte  eyn  vat  werkes. 

66.  Hermen  tor  Lo  twe  stro  was  unde  eyn  bereven  vat  mit  lastken, 
item  noch  etlick  was  unde  andere  gudere,  synen  gesellen  Conde  Bratvissche 
tobehorende,  noch  hefft  desulve  Hermen  tor  Loo  certificert,  dat  alle  sodane 

gudere   alse   aldus    J^  gemei'cket,    gefunden   werden,    eme   unde   Hansze 
Notkraken  siner  suster  sone  enen  copgesellen,  tobehorn. 


Über  die  Quellen  der  HandelsstatisHk  im  Mittelalter.  51 

67.  frederick  Kortsack  twe  stro  wfus. 

68.  Bemdt  Middelborch  eyn  stro  was  unde  ene  halve  tunne  botteren. 

69.  Clawes  Strusz  dre  stro  was  unde  elff  tunnen  zeelspeckes. 

70.  Frederick  Worrsz  dre  stro  was. 

71.  Hans  Rute  eyn  droge  vat,  noch  ene  tunne,  noch  dre  strp  waß 
eyne  tunne  unde  eyn  last  tranes. 

J2.  Steffen  Molhusen  negeu  vate  trans. 

73.  Hansz  Nyestadt  eyn  vat  werkes.  Item  noch  hefft  desulve  Hs^^sz 
Nyestat  certificert,  dat  her  Johan  Rotert  borgermester  to  Revel  eyn  vat 
Werkes  darin  gehabt. 

74.  Clawes  van  Sottrum  twe  stro  was. 

75.  Gerdt  Kock  eyn  bereven  vat,  noch  twe  stro  was,  noch  negenteyn 
vate  smolten  talges  eme  unde  to  Revell  to  husz  behorende. 

76.  Hynrick  Pemne  hefft  certificert,  dat  syn  s wager  Hansz  Meyer  eyn 
vat  Werkes  gehat  hebbe. 

77.  Evert  Tymmerman  eyn  bereven  vat,  sosz  tunnen  unde  eyn  verndeyl 
bottem  ene  halve  tunne  unde  ein  verndeyl  lasses. 

78.  Hans  van  der  Strate  eyn  stro  was. 

79.  Plonies  Beeck  twe  stro  was,  noch  eyn  stro  was. 

80.  Hinrick  Runge  •  twe  stro  was  i  verndeyl  ales  unde  ene  smale 
tunne  alle  eme  unde  sinen  broder  tobehorende,  wes  ock  forder  van  gudern 


aldus   Nix    gemercket  gefunden  werden,  hefft  desulve  Hinrick  Runge  certi- 


ficert,   dat  sodane  gudere  eme   unde  hyr   in  unse  stadt  to  husz  behoren. 
8i.  Hansz  Wolthusen  eyn  stro  was  unde  twe  tunnen  botteren. 

82.  Hansz   Ringel   heft  certificert  dat  Hans   Potgeter   twe    stro   was 
gehat  hebbe. 

83.  Hans  Muter  eyn  copgeselle  teyn  vate  smolten  talges. 

84.  Pelgrim  Ermelinckrode  eyn  vat  werkes,  noch  32  solten  hude  unde 
eyn  kleyn  vatke^,  noch  eyn  stro  was  unde  eyn  bereven  vat. 

85.  Herman  Moller  twe  stro  was  unde  eyn  vat  werkes. 

86.  Hinrick  Wantschede  eyn  vat  werckes  unde  eyn  stro  was. 

87.  Evert  Smit  eyn  vat  werkes  unde  twe  stro  was. 

88.  Jürgen  Husher  eyn  stro  was. 

89.  Hansz  Stellinck   soven  vate  talges,   eme   unde  to  Revel   to  husz 
behorende. 


52  W.   Stieda: 

90.  Hansz  Schinckel  Arndes  szone  eyii  vat  werk  es ,  noch  ene  halve  tuniie 

bottern   unde  wes  forder  aldus    J4-    J+   >L     gemercket  gefunden  werde. 

91.  Hansz  Dithmers  eyn  vat  Werkes,    twe   vate  vlasz   unde   eyn  vat 
smaszken. 

92.  Berndt  Brinnck  dre  stro  wasz. 

93.  Hinriek  Bulouw  eyn  vat  knucken,  sosz  unde  vefflich  kyp  solten 
hude,  eyn  vat  Russeher  hude  unde  eyn  stro  was,  noch  eyn  vat  knucken. 

94.  Michael  Heytman  dre  stro  was. 

95.  Werner  Dudinck  veer  stro  was,    dre  unde  twintich   vate  talges, 
eyn  cleyn  droge  vatken  unde  eyn  packe  hekede. 

96.  Lutke  Loseke  veer  stro  was,  darinn  vyif  stucke. 

97.  Willem  Hostelberch  eyn  vat  werkes. 

98.  Peter  Volck   twe    stro   was   eyn   vat   Werkes   unde   elff  vate   ge- 
smolten  talges. 

99.  Thomas  Rump  twe  vate  knucken. 

100.  Emeke  Kluve  heff't  certificert,  dat  alle  sodane  guder  alse  aldus  ^/Ov 
gemercket  gefunden  werden  eme  unde  in  de  anze  to  husz  behoren. 

loi.  Hansz  Bruskouw  heff't  certificert,  dat  sodane  guder  alse  aldus    ps 
gemercket,  gefunden  werden,  eme  unde  Hanse  Vinckhane  tobehorn. 

102.  Hinrick  van  Beesz   dat   alle   sodane  guder,    alse  aldus      I       ge- 
mercket, gefunden  werden,  eme  tobehorn. 

103.  Hinrick  Sluter   dat   alle   sodane  guder   alse  aldus    >  p    ^/^   ge- 
mercket, gefunden  werden,  eme  unde  in  de  anze  to  husz  behoren. 

104.  Reynolt  Vemern  dat  alle  sodane  guder,  alse  aldus   -p  gemerket, 
gefunden  werden,  eme  unde  in  de  anze  to  husz  behoren. 

105.  Jacob  Bratvisch  dat  alle  sodane  guder,  alse  aldus  ^jZ      I      ge- 
merket, gefunden  werden,  eme  unde  in  de  anze  to  husz  behoren. 

106.  Berndt  Ysz   dat  alle   sodane  guder,    alse   aldus  =t   gemercket, 
gefunden  w^erden,  eme  tobehoren  unde  in  de  anze  to  husz  behorn. 


Über  die  Quellern  der  Handekstatisiik  im  Mittelalter.  53 


3.  Ladung  des  dem  Schiffer  Martin  Herman  gehörenden  Schiffes ,  das  an 

der  finnischen  Küste  strandete.    1546. 

Stockholm.  Reichsarchiv.  Acta,  Handlingar  ang.  Lübecks  u.s.  w.  Pap.Conv.  von  1 1  beschr., 
I  unbeschr.  Blatte,  bis  ii  paginirt. 

(i.)  Lübischer  unnd  Hamborgischer  Ausszugh  aus  4  derselben  Certi- 
ficationen  yber  Martin  Hermens  schiif  iinnd  geladne  güther  so  von  Lübeck 
ausgeschiffet  unnder  Finnlandth  gestrandet  und  geblyben  umb  Martini  anno 
1546. 

(2.)  Ausszug  aus  2  der  Lübeschenn  und  2  der  Hamborgischen  Certi- 
licacien  pergamentz  brieff  yber  alle  die  Güther  Warenn  goldhtaler  etc.  so 
inn  seligenn  schipper  Martin  Hermens  schiff  zu  Lübeck  eingeschifft  unnder 
Fynnlandt  gestrandet  unnd  geblyben  umb  denn  trenth  Martiny  anno  1546. 

Namen  der  borger  inn  Lübeck  gezogenn   aus   2   certificacionsbrieffen : 

Herr  Jheronimus  Packbusch,  Herr  Anndres  Buschman,  Jörgenn  Mi- 
chahelis,  Hanns  Grenssin,  Heinrich  Wybbekungh,  Friderich  Tollner,  Everdt 
Bosse,  Hanns  Meyer,  BernntKniper,  Thomas  Wibbekungk,  Claus  Gloywinck, 
Rothgerth  Rügessbergh ,  CristofferNeyenstedt,  Jocliim  Klepel,  Gorius  Osters, 
Heinrich  Protesting,  Hanns  Plage,  Gerth  Upertrepenn,  Marcus  Mul,  Clement 
Ebbeling,  Paul  Hennigs,  Joachim  Hallepage,  Paul  Reinfeldh,  Hans  Holt- 
husenn,  Hermen  Snickmann,  Hanns  von  Rennteln,  Hanns  Fobbe,  Hörmen 
HoUeholtschoo ,  Hans  Lütke  Hening,  Philipus  Trappe,  Tonius  Hagenow, 
Heinrich  Spittel,  Wynolt  Jeger. 

(26.)  Nhamen  der  burger  inn  Hamborgh  gezogenn  aus  2  certificacions- 
brieffen : 

T  Thomas Kammerman,  Cecilien  Tornlnge,  Davidt  Grodt,  Herr  Jorghenn 

Filther,  Reinicke  Reinickens ,  Gerth  Swarth ,  Cristoffer  Ficke ,  Hans  Sanndt- 
mann,  Eiert  Paulsonn. 

(Sct>)     L  Lubische  burger  geschiffeth: 

Erstlich 

1.  Herr  Jheronimus  Packebusch:    /\r  fDaler   100  stücke   f  Zcynn, 

I  fas ,  wichtig  4  schipund  weniger   i   markpundt. 

2.  Herr  Anndres  Buschmann:  ungemerckt:  fSaffrann,    15S. 


54  W.  Stieda: 

3.  Jörgenn  Michahelis:  ÄZ  f  Dalers,  183  stücke,  f  Screckenberger, 
17  dalers.  ,> 

4.  Hanns  Grenssin:  "^P   f  Dalers,  150  stücke,  f  Messing,  i  fath,  wichtig 

loZcintener  i  marcpundt,  f  Tradt,  28  Ringb,  wichtig  1 1  Zcintener  28  marc- 
pundt. 

5.  Heinrick  Wybbekingh :  ^   X   ,     Ar  Dalers,   2  budel,  486  stücke. 

(36.)  6.  Früderick  Tölner:  X  f  Mölnische  Lackenn,  2  rodte,  2  blawe, 
I  grons  stücke,  f Messing  tradt,  55  Ringe,  wichtig  22  zinterer  28® 

7.  Everth  Bosse:    *  I     Dalers,  100  stücke. 

8.  Hanns  Meyer:  TT/^  Engliske  lacken,    i  pack,  darine   2  schwartz- 

bereite,   2  liffarbe,   2  blumengel,    2  papagogron,    i   düstergrön,    i   gossel- 
grons,  summa   10  stücke. 

Noch  I  pack  lacken  darine  4  Norder  do  syn  i  graw,  i  blaw,  i  tannet, 
I  grön),  I  graw  Rolduch,  6  blawe,  4  rodt  Easterkundiseh ,  i  goldgel,  i  fyn- 
rodt,  summa  17  stücke,      y. 

9.  Bernnth  Knyper:  »i  'i «  Messing  tradt  Ringe  37,  wichtig  15  zintener 
minus  4  marcpunt.  ^^ 

(4a.)      10.  Thomas  Wybbekungh :  jC     Dalers,   217  stücke. 

11.  Claus  Gloywinck: -J-bj  Englische  lacken  i  pack  darine  10  rodte, 
4  blawe  stücke.  ^^ 

12.  Röthger  Rügessbergh:   -+1  Ennglische   lacken   i   pack   14  stück. 

^  Flemsche    decken    3    stücke,   Rüsselsche   halffzcayn    i    stücke,   Zcynn 

kanner  12  stücke,  Enngelske  handzweheln  2  stücke  sampt  etlichen  schuhen 
unnd  pantoflfelnn. 

13.  Christoffer  Neynstadh:     "x  Engliske  lacken,   i  pack  No.  5,  2  rodte 

Kastenkundische,    2  papagOgrön,    2  askefarb,    i    blancketz,    i   blomengel, 
summa  8  stücke. 

Noch   I   pack  No.  6,  inn  der  certificacione  forgessenn. 

(46.)      14.  Joachym  Klepel:  xk^  Cursaten   100  stücke. 


Über  die  Quellen  der  Handelsstatistik  im  Mittelalter.  55 


15.  Grorius  Osters:  ^  j)Q   , 


Englische  lacken  |  2  goldgele 

Nersch  ^       S  2  gele         }  stücke 

3  rode 
20  stuck. 
Noch  I  pack  Ennglisk,  i  rodt  bereith,  9  stoplisten,   i  geringez  stücke. 


$ 


16.  Heinrich  Prottesting:  Ji  Dobelducaten  7  stücke,  Dalers  80  stücke, 

Engliske  lackenn,    2  düstergrön  bereith,    3  anndergrön,    i   blaw,    2  gele, 
I  aschefarby  summa  9  stücke. 

17.  Hanns  Plage:  ungemerckt,  Engliske  lackenn,  3  blawe,  3  rode  stücke. 

(5a.)      18.  Gerth   Upertrepenn:  j^  Zcynn,   i   fas,  ungewogen. 


X 


=^ 


19.  Marcus  Möl:    /\    Engeliske  lackenn,  8  rodte,  6  blanckete  uptledt 
Gottinges,    i   stucke. 


20.  Clement  Ebbelings :  Muskaten  I3'}'®,  Muskatblumen  4|-0.,  weyssen 
ingfer  29  S,  Canel  I4'}'S,  i)feffer  2  3-j-®.,  lang  pfeffer  14^®,  Zcedewar- 
samen   I2-J-S,  zcedewar  33®,  Calingen  50  S. 


Kt^ 


Noch  I  kisten  darinne  |— T  >  jIi  '  Damasch  blaw  in  rodt  17  eleu,  weyss 

Damasch  i  stucke ,  halff  Macheyer  leiferfarb  2  stücke,  halft*  Machey  er  swartz 
4  stücke,  Macheyer  grön  inn  rodt  2  stücke,  Macheyer,  gantz  swartz,  2  stücke, 
Rolle  Messing,   5  zintener  70®  Weyssen  blech,  6  fass,  darin   1800  stücke. 

(5  6.)      21.  Paul  Hennings:  ^^k    Engliske  lacken  2  pack,  No.  10:9  rodt 

Kasterkundische,  2  rodte  stoplisten,  5  düsterblaw,  2  düsterbrun,  3  bastert- 
rodt,  I  nigcolor  (?).  Summa  22  stücke.  No.  11:  4  rodt  Kasterkundisch, 
2  rodt  stoplisten,  4  hemelblawe,  4  gi*aw,  3  papagogrön,  4  gele.  Summa 
21  stücke. 


t 


22.  Joachim  Hallebage:  ^~  Dalers  240  stücke,  Enngliske  lacken  i  pack, 

13  rode,   2  blumengel,   2  goesselgrön,   2  düvstergrön,    i  brun,  4  schwartze. 
Summa  24  stücke.    Swai'tzes  Leidische,  3  stücke,  Flamsehen  Hering,  2  last. 


(6a,)     23.  Paul  Reinefeldli:   JT    Dalers    219  stücke. 


t 


56  W.  Stieda: 

24.  Hanns  Holtliussenu :  "T^  Dalers,  200  stücke,  Messing  dradt  6  Ham- 
borger  tonen,  darinen  stücke  74,  wichtig  30  zintner  28  S 

25.  Hermen  Snickman:  .JT  Bly,  6  stücke,  wichtig  27-}-  schip®,  6  S.  (?) 
2  marcpfund.     Hering  schonisch  gudt  2   helle  tonnen. 

26.  Hanns  von  Rentelnn:    jr-  Dalers,    114^  stücke. 

27.  Hanns  Fobbe:  -^ppi  Blicks,    i   last. 

28.  Hörmen  Holteskoo:  /V^  Lacken,   2  packen  No.  8:   8^  himelblaw, 

8^  rovelinge,  3^  fitze,  i  himelblaw  umschlagh,  Summa  21^  stücke.  No.  9: 
4  wilde,  2  salte  blaw,  2  arainen,  2  lichtblaw,  6  gra^sgröns,  6  himelblawe, 
thom  Umschlag  ^  grön,  -J-  gel.  Summa  23  stücke. 

(6 6.)     29.  Hanns  Lutke :  -Jr-  Dalers,  1 5 5  stück,  büdel  mit  gelde  3  stücke, 

üfllden  ringh  mit  ein  edlen  stein  i,  Bly,  4  stücke,  woge  15  schippund  13  ff, 
SipoUensaedt,  128  puudt,  Rock  graw  und  blaw  4,  Etlich  hossen  und  wammes. 

30.  Philippus  Trappe:   ungemerckt,  Dalers  300  stücke. 

31.  Tonius  Hagennow:     T  Untzegold  8  S. 

Kasterkundisch  rod  6 )         ,      ,    , 

-^     ,.    ,        -,  f  stücke  lackenn, 

r^nglisch  rodt  i  > 

^-    .  ,  \       1 2  stücke. 

Siechte  rode  5  ; 

32.  Heinrich  Spittel: 

Englische    2  schwartze  ] 

I   grön  I  bereide  lackenn. 

I   blaw  ) 

Summa  4  stücke. 
(7^-)      33-  Wynolth  Jeger:  Ungemerckt:  Ennglische,   6  blawe,   4  rodt 
lacken. 

(76.)  Summarum  yber  alle  die  inngeschiff'te  gudter  so  nach  innholth 
der  Lubischenn  Certificacien  brieffen  sich  zusamen  belauffen:  Dobel  Du- 
caten  7  stücke,  Cursatenn  100  stücke,  Dalers  2544-}-  stücke,  Screckenberger 
17  daler,  Budel  mit  gelde  3  stücke,  Güldene  Ring  mit  eim  edlen  Stein  1, 
Untze    Gold   8    pundh,    Knngliske    lacken    208^   stücke.       Noch    ein    pack 


Über  die  Quellen  der  Handebstatistik  im  Mittelalter.  57 

mit  allerley  lackenu,  17  stück.  Noch  pack  i  stücke,  Kasterkundische 
21  stücke,  Leidische  lacken  3  stücke,  Molnische  lacken  5  stücke,  Gottinges 
lacken  2  stücke,  Nersch  lacken  20  stücke.  Blaw  und  graw  Roeck  4  stücke. 
Etlich  hossenn  und  wammes.  Dammask  i  stuck  1 7  eleu,  Machey  er  10  stücke, 
Halffczayn  i  stücke,  (8a.)  Flemsche  Decken  3  stücke,  Engeische  Hanndt- 
zwehel  2  stücke,  Saifran  15  pundh,  Muskat  13-}-  pundh,  Muskatblumen 
4^  pundh ,  Weyssen  Ingfer  29  pundh,  Canneel  1 4^  pundh ,  Pfeffer  23^  pundh, 
Lang  Pfeffer  14^  pundh,  Zcedewer  33  pundh,  Calinge  50  pundh,  Zce- 
dewersamen  12-j-  pundh,  SipoUensaeten  128  pundh,  Heringe  2  last  i  tunne, 
Zcynn  4  schipund  minus  i  marcpund ,  i  fas  unnd  1 2  kannen ,  Bly  43  schip- 
pund  9S  2  marcpundt,  Rolle  Messing  10  zintner  28  marcpundt,  Messing 
tradt  83  zintener  150  marcpundt,  Weyss  Bleck,  1800  stücke,  Weyss  Blicks 
1  last.     Etliche  schuch  unnd  pantoffeln. 

(86.)  n.  Hamborgische  burger  geschiift:  i.  Tomas  Kamermann,  Cecilien 

Torninges   und  Davit  Groth:    /)C    Dalers  150,  Engliske  lackenn  5  rodte, 

3  blawe,  3  blumengel,  3  goesselgrone  stücke,  Summa  14  stücke,  Papir  for 
60  mr  Lubsch. 

2.    Herr   Jörgenn   Fylther:    *A  Skarlack  3^  eleu,    Schwartz  utherfyn 

23  stücke,  Rodt  utherfyn  3  stücke,  Brun  stamet  i  stücke,  Rodt  stamet 
I  stücke,  Grön  stamet  ^  stücke,  Blaw  stamet  ^  stücke.  Englisch  schwartz 
bereit  i  stucke,  Swart  Ennglisk  21  elenfyn,  Tannet  Ennglisk  22  eleu  fynn, 
RodtEnnglisk  1 7^ eleu  fyn,  Rodt  kersey  i  stücke,  Swartzs  Gottinges  i  stücke. 

(9  a.)     3.  Reinicke  Reinickens:   JV   Dalers  30  stücke,  Englisch  1 1  stücke, 

Kasterkundisch  6  stücke,  Rodt  Stoplyste  2  stücke,  Askefarb  i  stücke, 
Goesselgrön   i  stücke,  Blomengel  i  stücke,  Gottinges  grön   i  stücke. 

4.  Gerdth  Swarth:  \L^  Dalers  inn  einer  kystenn  300  stück. 

5.  Christoifer  Fick:   X     JT   TTT^   "+0.    J^    ^Dalers  400  stück. 
Englisch  6  stücke,  Kasterkundisch  1 7  stücke,  Hemelblaw  4  stücke,  Grön  i  stuck. 

6.  Hanns    Sandtmann:       V    Rodt  Kasterkundisch    8  stücke,    Weyss 

I  stuck,  Blomengel  i  stuck,  Brun  i  stuck,  Goesselgrön  i  stuck,  Swartzs 
kersey   24  eleu,  Blaw  Gottinges   i   stucke. 

Fha.'hi8t.  Abh,  nicht  zur  Akad.  gehör.  Gelehrter.    1902.    IL  8 


58     W.  Stikda:    Über  die  Quellen  der  Ilandehstatistik  im.  Mittelalter, 


■X 


7.  Eiert  Paulsonn:     00    Rodt  Kasterkundisch  8  stücke. 

8.  Pether  Parseval,  der  allein  errett  unnd  darvan  gekomen  certificiert, 
das  er  mit  sich  gehat,  erstlich  in  seiner  kysten  Dalers  214  stucke;  Eng- 
lische, 9  rodte,  2  schwartze,  2  lichtbrune,  i  düstergrön,  i  askefarb,  -J- weyss 
stücke;  Schwartz  kersey   i   stück,  Gottinges   i  stück. 

Summa  yber  die  inngeschiffte  Hamborgischenn  güther  inholt  irer  Certi- 
ficacionen:  Dalers  1094  stücke,  Skarlacken  3^  elen,  Stamet  3  stücke,  Uther- 
fyn  26  stücke,  Englisch  61^  stücke,  Fyn  Englisch  6of  elen,  Kasterkun- 
disch 39  stücke,  Kersey  2  stücke  24  elen,  Gottinges  3  stücke,  Papir  for 
60  marc  Lübsch. 

(lOö.)  Siunmarum  yber  alle  gudter  so  auff  seligenn  Martin  Hermes 
schiff  bey de  von  Lubschen  unnd  Hamborgischen  geschiffet,  gestrandet  unnd 
geblybenn  belaufft  sich :  Guldh  och  Penninger:  Dobelducaten  7  stucke, 
Cursatten  100  stucke,  Güldin  Ring  mit  eim  stein  i  stuck,  Dalers  3638-^1 
stücke,  Scki-eckenberger  17  daler,  Budel  geldes  3  budel,  üntze  guldh 
8  pundh.  Gewannt:  Skarlackenn  3-Jelenn,  Stammet  3  stücke,  Utherfynn 
26  stücke,  Englisch  fyn  60^  elen,  Ennglisch  270  stücke,  Ein  pack  mit 
allerley  lacken  1 7  stück ,  Noch  lacken  pack  i  stück ,  Kasterkundisch  60  stück, 
Leydiske  lackenn  3  stücke,  Molnische  5  stücke,  Kersey  2  stucke  24  elen, 
Gottinges  5  stücke,  Nersch  20  stucke.  Seyden  gewandt  und  andere 
Kleider:  Dammasth  i  stück  17  elen,  Machey  er  10  stücke,  Halff  zcaynn 
I  stücke,  Flemsche  decken  3  stücke,  Enngelske  handzwehel  2  stücke,  Blaw 
und  graw  Rock  4,  Etlich  hossenn  mmd  wammes.  Krüdher:  Saffrann 
1 5  pundh ,  Muskaten  1 3^  pundh ,  Muskatblumen  4^^  pundh ,  Wey ss  Ingfer 
29  pundh,  Canneel  14^  pundh,  Pfeffer  23^  pundh,  Langpfeffer  14-^  pundh, 
Zcedewer  33  pundh,  Calinge  50  pundh,  Zced ewersamen  12^ pundh,  Sipollenn- 
samen  128  pundh,  Hering  2  last  i  tonne.  Mettall:  Zcyn  4  schipundt  min 
I  marcpund,  i  fas  und  12  kannen,  Bley  43  schipund  9  Lispund  2  marc- 
pundt,  Rolle  Messing  10  scintner  28  marcpimd,  Messing  tradt  83  zintner 
150  marcpundt,  Weyss  bleck  1800  stücke,  Weyss  blicks  i  last.  Papir  for 
60  marc  Lübsch,  Etlich  schuch  unnd  panntoffelnn. 


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the  Iiibraiy  on  or  before  the  last  dato 
stamped  below. 

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by  retaining  it  beyond  the  speoifled 
tizno. 

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